Autor/in:
Schulform:
Schlagworte:

Falldarstellung

Die interpretierte Sequenz (1) stammt aus einer Unterrichtsstunde, die im Rahmen der Erprobung kompetenzorientierter Lernaufgaben für den Französischunterricht aufgezeichnet wurde. Schwerpunkt der Sequenz ist das Training des zielsprachlichen Sprechens. An Hand eines in der Materialsammlung vorgegebenen Fragebogens sollen die Schülerinnen und Schüler ihre Klassenkameraden zum Thema „Nutzung des Internet“ befragen. In der beobachteten Klasse entschied die Lehrkraft, diese Befragung in der Pausenhalle durchzuführen.

Die Transkription der ersten Sequenz unterscheidet vier Einzelpersonen, ein Mädchen (Anne) und drei Jungen (Freddi, Nick und Manuel). Anne und Freddi führen das Interview.
Freddi und Anne arbeiten die Fragen des Fragebogens „faire un sondage“ ab. Bei diesem Interview befragen sie Nick und Manuel. Fred „begrüßt“ zunächst Nick und Manuel (1018). Anne stellt die Fragen:


Interpretation

Das Interview lässt vier verschiedene Rahmungen(2) erkennen: das Interview als Interview, das Interview als Sprachübung, das Interview als Sprachtest für die Interviewten (Medium der Konkurrenz auf der „Vorderbühne“) und das Interview als „Hinterbühne“ (3) für Peer-Konkurrenz.
Die Überlappung der vier Rahmungen verdeutlicht ein Authentizitätsproblem: die Schule ist nicht Frankreich, die Welt lässt sich nicht einfach in die Schule holen. In der Regel akzeptieren die Schüler durchaus, dass sie sich während des Fremdsprachenunterrichts in einer Lernsituation aufhalten, deren expliziter Zweck es ist, eine Fremdsprache zu lernen. Dazu gehören bestimmte Fiktionen, Konventionen, Arrangements, die allesamt nicht „natürlich“ bzw. „authentisch“ sind, aber pädagogisch dennoch plausibel.
Freddi jedoch, später auch die anderen, akzeptiert die Interview-Fiktion nur als Interview, nicht als Französischübung. Anne macht einige Versuche und fragt auf Französisch, Manuel bemüht sich fast bis zum Schluss, auf Französisch zu antworten. Anne liest die französischen Fragen ab. Ihre Haltung in der Frage der Sprachwahl schwankt allerdings. Die sprachlich bedingte Uneindeutigkeit kann nach Ansicht aller vier offenbar nur über das Deutsche bereinigt werden.
Die Schüler der 10b haben noch relativ wenige Automatisierungen vor allem im Bereich der zielsprachlichen Gesprächsführung und der Reparaturtechniken zur Verfügung. Sie empfinden es möglicherweise als zu aufwändig (Zeit, Anstrengung), in Französisch zu formulieren – dies würde ihrer Meinung nach die Authentizität des Interviews sprengen. Hier überstimmt also die Rahmung des Interviews den Übungsanspruch.
Auch inhaltlich ergibt sich ein Authentizitätsproblem. Die vier haben sich nicht eigenständig mit der Sache auseinandersetzen können. Die Übernahme eines vorgefertigten Fragebogens impliziert keine a priori motivierende Handlungsaufforderung. Freddi und Anne sind nicht in die Konzeption der Aufgabe, ihre Planung, Gestaltung und Ausformulierung mit einbezogen gewesen, sie wurden auch nicht hinsichtlich deren Plausibilität gefragt bzw. der Möglichkeit, die Aufgabe ihren Bedürfnissen entsprechend zu verändern.
Ein weiteres Problem liegt in der unterschiedlichen sprachlichen Vorbereitung von Interviewer und Interviewten. Anne und Freddi haben sich immerhin schon zwei Stunden lang mit dem fachspezifischen Vokabular beschäftigt, was bei Nick und Manuel nicht der Fall ist. Die Kommunikation könnte allein schon durch dieses Gefälle scheitern, auch wenn Nick und Manuel mit Kurzantworten auskommen könnten.
(Eine Lösung des Problems hätte zum Beispiel im eigenständigen Erarbeiten von Interviewfragen durch die Gruppe und einfachen Antwortformulierungen liegen können, die die Interviewten nachsprechen bzw. einsetzen können). Die Arbeitsanleitung der Aufgabe sah im Übrigen eine Befragung in der Klasse im Anschluss an das Stationenlernen vor, keine Befragung außerhalb der Klasse.
Die Frage drängt sich auf, wie sich das Authentizitätsproblem bei einer anderen Sprachenfolge gestaltet: können Lernende mit Französisch als 1. Fremdsprache die Situation zielsprachig bewältigen? Können Lernende mit Französisch als 1. Fremdsprache diese Situation besser, genauso gut oder weniger gut bewältigen als Lernende mit Englisch als 1. Fremdsprache? Können Lernende mit Englisch als 2. Fremdsprache die Situation besser, genauso gut oder schlechter bewältigen als Lernende mit Französisch als 1. Fremdsprache (z.B. Freddi und Anne)?
Auf der Oberflächenebene haben wir eine Befragung und darunterliegend einen oppositionellen Diskurs, der auf der Ebene des Tests und derjenigen der Hinterbühne ausgetragen wird. Freddi setzt seine Rahmung als Provokateur und „Chef“ um und manifestiert gleichzeitig die Rahmung der Peer-Konkurrenz zu Nick und Manuel. Diese konkurrierende Rahmung wird bereits gleich zu Beginn des Interviews aufgebaut, als Anne Französisch-Kenntnisse als Eingangsvoraussetzung für die Beteiligung am Interview postuliert.
Die Teilnahme am Interview wird von vornherein mit der Bedingung der Kompetenz der Teilnehmerinnen verknüpft bzw. als Kompetenztest gerahmt und verliert damit den Charakter der Übung (und die Interviewerin und der Interviewer begeben sich in gewisser Weise in die Rolle der Lehrerin).
Mit dem Kompetenztest kommt auch eine Konkurrenz ins Spiel – insbesondere zwischen den Interviewern und den Interviewten.
(Dieser Charakter des Interviews, demzufolge sprachliche Kompetenz die Voraussetzung dafür ist dazu zu gehören, ist zugleich das Positive dieses Interviews wie auch dessen Problem).
Während Fred die Konkurrenz auf den informellen sozialen Bereich überträgt, wie er das bereits zu Anfang angekündigt hatte und damit die Unterstellung von Inkompetenz auf den informellen Bereich überträgt, und für ihn die formelle schulische Veranstaltung und damit das Interview sowohl als Sprachübung als auch als Interview in den Hintergrund tritt und für Anne das Umgekehrte gilt, stehen die Interviewten zunächst dazwischen. Besonders Nick wird von Fred immer mehr in die in den informellen Bereich (die Hinterbühne der Peer Aktivitäten) hineingezogen. – Manuel bemüht sich noch bis 1157 um eine Antwort auf Französisch.
Indem Fred die Situation nutzt, um seine Kompetenzen zu demonstrieren, indem er sofort übersetzt (anstatt die Fragen zu wiederholen), geht dies zu Lasten des Interviews.
Während Manuel sowohl auf der Ebene des Interviews als Sprachübung als auch derjenigen des Interviews als Interview mitspielt, verweigert sich Nick schließlich nicht nur auf der Ebene des Interviews als Sprachübung als auch auf derjenigen des Interviews als Interview. Dilemma:
Da das Interview als Sprachübung gerahmt ist, stellt dies von vornherein die Authentizität des Interviews als Interview in Frage.
Da aber die Motivation zur Sprachübung an den Ernsthaftigkeitscharakter, also den Authentizitätscharakter des Interviews als Interview gebunden ist, ist auch die Motivation zur Sprachübung in Frage gestellt.
An die Stelle tritt die Motivation durch Konkurrenz innerhalb der Peers.
Diese Konkurrenz und der damit verbundene oppositionelle Diskurs ist strukturell verankert.
Die Konkurrenz wird befördert durch das „Gefälle“ in der fachspezifischen Vorbereitung, von dem Sie sprechen. Freddi überträgt die Konkurrenz dann auf informelle Peer-Ebene und kann seine Überlegenheit durch das Vorbereitungsgefälle auf diese Weise strategisch nutzen.
Nick und Manuel gehen auf den oppositionellen Diskurs ein. Lediglich bei dem Thema „Internetspiele“ nehmen sich die drei Jungs möglicherweise als Experten auf Augenhöhe wahr. Anne bleibt auf der Interview-Ebene.
Freddis Gegenhorizont zur Französischübung ist seine Freiheit, „scheiße ehrlich“ zu sein, d.h. einfach er selber zu sein und immer genau das zu sagen, was er denkt. Er verlässt das vorgegebene Aufgabenkonzept und ist fast ausschließlich an der Peer-Konkurrenz interessiert. Nick hält oppositionell dagegen („“Aber diss ist manchmal nicht gut“), bleibt also in der von Nick vorgegebenen Konkurrenz-Rahmung. Er wählt ähnlich wie Freddi einen oppositionellen Diskurs, aber nicht, um sich das Recht zu nehmen, immer „ehrlich“ zu sein und zu sagen, was er wirklich denkt, sondern eben alles auf Deutsch sagen („ist doch kack-egal“). Die Unterschiede im Lernverhalten bei Anne und Manuel einerseits und Freddi und Nick anderseits könnten milieuspezifisch gedeutet werden.
„Faire un sondage“ könnte als Aufgabe im Sinne des „Task based language learning“ (4) bezeichnet werden. Sie beinhaltet einen Arbeitsplan (Fragebogen), der Fokus liegt auf der Bedeutungsebene, nicht auf der formalen Ebene, der Sprachgebrauch entspricht der Lebenswirklichkeit und alle vier sprachlichen Fertigkeiten können potenziell eingesetzt werden. Entscheidend ist die Verwendung der Zielsprache.
Die Aufgabe ist geeignet, alle drei Kompetenzbereiche der Bildungsstandards (für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) zu trainieren. Anne und Manuel nutzen noch die französischen Redeanlässe, Freddi und Nick dagegen verzichten aus oben genannten Gründen fast ganz darauf. Auch in methodischer Hinsicht wird die Aufgabe nicht umgesetzt. Freddi, der Interviewer, spielt selbst den Interviewten, indem er seine eigene Meinung kundtut. Sinn und Ziel des Interviews sind nicht vorher im Unterricht bewusst gemacht worden. In der Nachbesprechung mit dem Lehrer stellt sich heraus, dass er von der Vorstellung ausgegangen war, solche Verfahren seien den Schülern von anderen Unterrichtsfächern, vor allem vom Deutsch-Unterricht her, bekannt. Er zeigte sich enttäuscht darüber, dass dies nicht der Fall war, was ihn selbst implizit entlasten sollte, und formulierte den Schluss, dass er in Zukunft alle methodischen Verfahren immer wieder neu besprechen müsse.
Die Übernahme eines vorgefertigten Fragebogens impliziert keine a priori motivierende Handlungsaufforderung. Im Hinblick auf gelingende Aufgabenorientierung lässt sich schließen, dass Lernende in die Konzeption der Aufgabe, ihre Planung, Gestaltung und Ausformulierung mit einbezogen werden sollten. Dies bedeutet einen anderen, wesentlich umfänglicheren zeitlichen Rahmen, als es vorgefertigte Aufgaben suggerieren. Die Frage taucht auch im Umgang mit Lehrwerken immer wieder auf, die eine große Materialfülle anbieten. Die Unterrichtsbeobachtung legt für die Klasse 10 b ein Aufgabenkonzept nahe, dass die Anzahl der Aufgaben reduziert und stattdessen vorsieht, bestimmte Aufgaben – etwa das Interview – von den Schülern selbst zu erarbeiten zu lassen.

Fußnoten

(1) aus Tesch, Bernd: Kompetenzorientierte Lernaufgaben im Fremdsprachenunterricht. Konzeptionelle Grundlagen und eine rekonstruktive Fallstudie zur Praxis des gymnasialen Französischunterrichts. Dissertationsprojekt.

(2) Begrifflichkeit nach Bohnsack (2003). Meist unbewusste Orientierungsmuster des einzelnen oder einer Gruppe. Der Rahmen manifestiert sich in den Themen, die Einzelne oder Gruppen anschneiden oder bearbeiten. Wird der Orientierungsrahmen in einer Gruppe oder zwischen Gruppen nicht geteilt, kann es zu Aufspaltungen und Rahmeninkongruenzen kommen. Daran deutlich werden die Grenzen individueller Erfahrung oder deren Aspekthaftigkeit. Inkongruenzen können offen sichtbar oder verdeckt bestehen. Fremdrahmung entsteht, wenn die Äußerungen eines Teilnehmers von einem anderen Gruppenmitglied vereinnahmt bzw. in dessen Rahmen gesteckt werden, mit der Folge, dass der eigene Rahmen eliminiert wird.

(3) Begriff nach Wagner-Willi (2005).

(4) Eine Unterrichtsmethode für den Fremdsprachenunterricht. Im Kern geht es darum, die Aufgaben im Klassenzimmer an die Aufgaben anzugleichen, die auch in natürlichen Situationen außerhalb des Klassenzimmers zu bewältigen sind.

Literatur

Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung – Einführung in Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. Opladen 2003.

Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss vom 4.12.2003. Beschlüsse der Kultusministerkonferenz. https://www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroeffentlichungen_beschluesse/2003/2003_12_04-BS-erste-Fremdsprache.pdf. Letzter Zugriff 21.04.2008.

Wagner-Willi, Monika (): Rituelle Interaktionsmuster und Prozesse des Erfahrungslernens im Mathematikunterricht. In: Lernkulturen im Umbruch. Rituelle Praktiken in Schule, Medien, Familie und Jugend. Wiesbaden 2007, S. 57-90.

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.