Sequentielles Interpretieren

Rolf-Torsten Kramer/Friederike Heinzel

Die sequentielle Analyse wird in der qualitativen Forschung verwendet, um eine unterschwellige Handlungslogik oder die Sinnhorizonte der an einem sozialen Geschehen Beteiligten zu rekonstruieren. Sequenzielles Interpretieren folgt der Annahme, dass soziales Handeln und damit soziale Situationen durch soziale Regeln (z. B. Konventionen) bestimmt sind.

Beim Sequenziellen Interpretieren wird Schritt für Schritt vorgegangen, weil erwartet wird, dass soziale Ordnung Zug um Zug hergestellt wird und Sinn im Handlungsvollzug entsteht. Die Interpretation richtet sich auf inhärente Impulse einer jeweils betrachteten Sequenzstelle und den darauf folgenden Handlungsanschlüssen und gewählten Sprechakten.

Vorgehen beim Sequenziellen Interpretieren

 1. Sequenzierung der Passage bzw. des Protokollauszugs

Es erfolgt eine Unterteilung in sinnvolle thematische Untereinheiten, also Einzelschritte der Handlungsfolge. Dies sind i.d.R. Sprechakte bzw. Redebeiträge; bei Beobachtungsprotokollen auch Handlungsvollzüge.

2. Schritt für Schritt Analyse bzw. Interpretation (Zug um Zug, Wort für Wort, Zeile für Zeile, Turn by Turn)

  • Es geht zunächst um eine breite Bestimmung der Deutungsmöglichkeiten für eine jeweilige Sequenz. Hilfreich sind dabei gedankenexperimentelle Überlegungen und eine Ausdeutung ohne Bezug auf vorliegendes Hintergrundwissen. Dabei soll gerade nicht (nur) intentional interpretiert werden. Das Sequenzielle Interpretieren fokussiert gegenüber den Handlungsabsichten stärker auf eine Ebene der Handlungspragmatik, die durch eine Verbindung der Analyse protokollierter Inhalte mit der protokollierten Form (des Handelns oder der Darstellung) in den Blick kommt.
  • Dann erfolgt das Bündeln dieser Interpretationen in große Linien (Zusammenführung gleicher und Gegenüberstellung differenter Deutungsmöglichkeiten).
  • Anschließend werden Überlegungen dazu angestellt, wie es in der Schrittfolge weitergehen könnte (Anschlussüberlegungen).
  • Erst dann wird die nächste Sequenz einbezogen. Dabei werden auch die bisherigen Überlegungen berücksichtigt und geklärt, welche Deutungen zu verwerfen sind und welche weitergeführt werden können.

3. Am Ende der Interpretation der Passage erfolgt eine gebündelte Darstellung der interpretierten Logik der Handlungsfolge bzw. der Sinnhorizonte der an einem sozialen Geschehen Beteiligten.

Hier geht es um eine Gesamtdeutung, die die Handlungspragmatik des analysierten Geschehens oder die Orientierungsfiguren der beteiligten sozialen Akteure schlüssig bestimmen kann.

 

Folgende (im Fallarchiv Schulpädagogik vorgestellte) sozialwissenschaftliche Forschungsmethoden gehen sequenzanalytisch vor:

 

Interaktionsanalyse

(s. Lehrtext von Götz Krummheuer im Fallarchiv Schulpädagogik)

Ziel: thematische Entwicklungen in Interaktionsprozessen rekonstruieren.

Vorgehen:

  • Gliederung der Interaktionseinheit
  • Allgemeine Beschreibung
  • Ausführliche Analyse der Einzeläußerungen – Interpretationsalternativen (re-)konstruieren
  • Turn-by-Turn-Analyse
  • Zusammenfassende Interpretation

Objektive Hermeneutik

(s. Lehrtext von Andreas Wernet im Fallarchiv Schulpädagogik)

Ziel: Rekonstruktion der objektiven Bedeutungsstrukturen von Texten, d.h. der latenten Sinnstruktur, die sich in einer konkreten Interaktionsgeschichte gebildet hat.

Vorgehen:

1. Feststellung des Texttyps

2. Sequentielle Vorgehensweise

  • Festlegung der Sequenzen (genaue Länge nicht festgelegt, zunächst meist Wort für Wort)
  • Interpretation Zug um Zug und Satz für Satz in einer Haltung der „künstlichen Naivität“

3. Extensive Sinnauslegung

  • Alle kompatiblen Deutungen sollen berücksichtigt werden.

4. Strukturhypothese

  • Die Sinnauslegung wird weitergeführt bis eine Hypothese bzgl. der Struktur des Handelns der Beteiligten (im Hinblick auf die Fragestellung) möglich ist. Diese Hypothese wird im weiteren Text auf ihre Güte hin getestet.

Die Sinnauslegung wird weitergeführt, bis eine Hypothese bzgl. der Struktur des Handelns der Beteiligten (im Hinblick auf die Fragestellung) möglich ist. Diese Hypothese muss sich im weiteren Text als gültig bewähren.

Sehen Sie dazu auch den Lehrfilm.

Dokumentarische Methode

(s. Lehrtext von Barbara Asbrand im Fallarchiv Schulpädagogik)

Ziel: Rekonstruktion kollektiver Orientierungen und Erfahrungsräume, Rekonstruktion der Diskursorganisation.

Vorgehen:

  1. Überblick über den thematischen Verlauf
  2. Formulierende Interpretation (Was wird gesagt? Herausarbeiten des Objektsinnes durch Paraphrasierung, Formulieren von Überschriften)
  3. Reflektierende Interpretation (Wie wird es gesagt? Herausarbeiten der Diskursorganisation, Rekonstruktion der kollektiven Praxis und der Orientierungen, Analyse von Fokussierungsmethaphern, d.h. Passagen mit hoher Dichte)
  4. Komparative Analyse (Vergleich mit dem Ziel der Typenbildung)

DOWNLOAD: Arbeitsblatt Sequentielles Interpretieren hier