Grounded Theory

Grounded Theory ist ein Forschungsstil der ursprünglich von den US-amerikanischen Soziologen Anselm Strauss und Barney Glaser entwickelt wurde. Ziel ist die Theoriebildung in intensiver Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand. Grounded Theory ist dabei weniger als einzelne Methode anzusehen, sondern besteht aus ineinandergreifenden (Kodier-)Verfahren. Im vorliegenden Lehrtext werden der Entstehungshintergrund, die charakteristischen Merkmale sowie die Reichweite dieses Forschungsstils beschrieben. Dazu werden wesentliche Arbeitsschritte anhand einer Falldarstellung aus dem Fallarchiv erklärt.

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Dirk Hülst:

Grounded Theory

1. Vorbemerkung: Grounded Theory – ein Forschungs-Stil

2. Entstehungsgeschichte und Hintergrund des Verfahrens

3. Darstellung und Erläuterung der Merkmale und Prinzipien der GTM

Exkurs: Die Beispielstudie – der Fall

3.1 Der Forschungsprozess im Einzelnen

3.2 Das Kodierverfahren

3.2.1 Offenes Kodieren

3.2.2 Axiales Kodieren

3.2.3 Selektives Kodieren

3.2.4 Dimensionen/ Dimensionalisierung

3.2.5 Theoretical Sampling

3.2.6 Theoretisches Vorwissen, Sensibilität und Theoriebildung

3.2.7 Das Gewinnen neuer Einsichten: Induktion/ Abduktion

3.2.8 Einsatz von Computerprogrammen

4. Grenzen des Verfahrens / Eignung

Literatur

 

1. Vorbemerkung: Grounded Theory – ein Forschungs-Stil

Im vorliegenden Beitrag wird unterschieden zwischen dem Forschungsverfahren der Grounded Theory, ihrer besonderen Methodologie (ab jetzt: GTM) und dem, was bei ihrem Einsatz herauskommen soll, nämlich ‚gegenstandsverankerte Theorie‘. ‚Grounded Theory‘ (ab jetzt: GT) bezeichnet also das Ergebnis der Anwendung der GTM.
Besonderheit und Reiz der GTM bestehen darin, dass sie sowohl Richtlinien zur sinnvollen Organisation von Forschungsprozessen beinhaltet als auch ein Auswertungsverfahren bereitstellt, das über die einfache Klassifikation von Informationen über die untersuchten Phänomene weit hinausgeht.
GTM zielt darauf, mit engem Bezug zur empirischen Basis in einem komplexen iterativen(1) Prozess theoretische Konzepte zu erarbeiten, die einen Erklärungswert für den jeweiligen Forschungsgegenstand und die ihn konstituierenden Bedingungen aufweisen. Dabei werden in anderen Bereichen der Sozialforschung bewährte Methodenelemente zu einer strukturierten und relativ leicht erlernbaren Vorgehensweise – einem charakteristischen (eigenen) Stil – kombiniert, der vor allem im Rahmen qualitativ gerichteter Forschung Anwendung findet.
Die zentralen Bestandteile und Verflechtungen dieses Stils werden im Folgenden in ihren Grundzügen(2) vorgestellt: die Logik des Verfahrens, seine Grundsätze und sein jeweils zu gestaltender Ablauf. Es ist sehr wichtig zu beachten, dass viele Begriffe im Rahmen der GTM (z.B. Daten, Kodieren, Konzept, Sampling) eine, gegenüber der eingebürgerten Methodenlehre veränderte Bedeutung besitzen.

2. Entstehungsgeschichte und Hintergrund des Verfahrens

Einen wichtigen Anstoß zur Entwicklung der GTM gab die Erfahrung von Sozialforschern, dass soziale Probleme, mit denen eine oder mehrere soziale Gruppen konfrontiert sind, von den Beteiligten nicht notwendigerweise als solche gesehen beziehungsweise artikuliert werden (können) (vgl. Strauss/ Corbin 1990/ 1996). In dieser Situation würde nur ein intensives ‚Feldstudium‘ und die systematische Sammlung und Analyse vieler unterschiedlicher Daten zu mehr oder weniger tragfähigen Erklärungen in Form von einfachen Theorien führen. So wurden bereits in frühen Studien (Strauss et al. 1964 und Glaser/Strauss 1965, 1968) wichtige Aspekte der Methode von ihren späteren Erfindern erprobt. Sie waren sich einig in der Ablehnung ‚Großer‘ Theorie, die mit strukturalistischen oder funktionalistischen Prämissen auf die Darstellung von Zusammenhängen weit jenseits der beobachtbaren Fakten gerichtet war. Ihr methodisches Konzept sollte die allzu große Kluft zwischen Theorie und empirischer Forschung schließen. Dessen erste aufrissartige Darstellung(3) (Glaser/Strauss 1967) verfolgte vor allem drei Zielsetzungen: es sollte (1) qualitative Forschung zur Aufbesserung ihres damals geringen wissenschaftlichen Ansehens methodologisch fundiert und (2) ein Weg aufgezeigt werden Theorien möglichst systematisch aus ‚Daten‘ zu entwickeln. Darüber hinaus sollte (3) die Verankerung der Forschung im Feld gefördert werden.
GTM beschreibt eine, dem explorativen Neugierverhalten ähnliche, wegen ihrer Flexibilität geschätzte Verfahrensweise, die immer dann angebracht ist, wenn Themenfelder untersucht werden sollen, über die noch wenig empirisch gesicherte theoretische Aussagen (Begriffe, Konzepte, Theoreme) vorliegen. Sie verbindet Erfassung und Auswertung der forschungsrelevanten Information in einem mehrstufigen, bei Bedarf rekursiven Ablaufmodell.
Erstrebt wird die Konstruktion zumeist eher kleinteilig geschnittener Theorien, die – ohne den Kontakt zur Datenbasis zu verlieren – den zu erforschenden sozialen Sachverhalt unter Bezug auf seine Umgebungsbedingungen und die mit ihm verknüpften Konsequenzen begreiflich machen. Die Vorgehensweise erfordert – „…wenn man verstehen möchte, was geschieht…“ (Strauss/ Corbin 1996:9) – ins zu erforschende Feld zu gehen. Mit dem Begriff „Verstehen“ von Personen(4) wird einerseits die Sicht der handelnden Subjekte in den Vordergrund gestellt, zugleich aber auch der Blick auf soziale Situationen und symbolisch vermittelte Handlungszusammenhänge des Alltags gerichtet.
Im Zentrum des GTM geleiteten Forschungsprozesses steht nicht das Testen einer vorgängig formulierten Theorie (wie im klass. Modell quantitativer Sozialforschung) sondern der ausgewählte Untersuchungsbereich mit seinen, die Aufmerksamkeit erregenden, Besonderheiten. Ihre genaue Untersuchung soll zur Entdeckung und Entwicklung von Theorien führen, die möglichst eng (‚grounded‘) auf das soziale Feld, aus dessen Untersuchung sie generiert wurden, bezogen bleiben. Da erst im Fortgang des Verfahrens erfasst und pointiert wird, was in dem ausgewählten Bereich relevant ist (vgl. Strauss/ Corbin 1996, 8), werden die Konturen einer Theorie und ihre Plausibilität erst allmählich sichtbar und sukzessive begründet.
Selbstverständlich können auf diese Weise erarbeitete Theorien, wenn sie konkrete Wirkungszusammenhänge hinter den untersuchten Daten zu Tage fördern, auch Bedeutung für weitere wissenschaftliche Aktivität (Konfrontation mit anderen Theorien der jeweiligen Disziplin, weitere Forschungsarbeit) gewinnen und praktische Anwendungen (Erklärungen, Vorhersagen/ Planung und Interpretationen/ Deutung) anleiten.
Heute genießen auf die Erzeugung von Theorie gerichtete Strategien (vgl. Krotz 2005) der sozialwissenschaftlichen Forschung – wie z.B. Heuristische Sozialforschung (Kleining 1982, 1995), Ethnographie (Geertz 1983; Berg/Fuchs 1993; Emerson/Fretz/Shaw 1995; Hammersley/Atkinson 1995; Amann/Hirschauer 1997) und Grounded Theory – starkes Ansehen und die GTM wird gegenwärtig in der qualitativen Sozialforschung mit Vorliebe eingesetzt.
Das Konzept der GTM hat seit der oben bezeichneten Schrift (Glaser/Strauss 1967) Veränderungen in verschiedene Richtungen durchlaufen. Die seinerzeit ausgelösten Diskussionsprozesse haben dazu beigetragen die Vorzüge qualitativer Forschung im Allgemeinen und der GTM im Besonderen zu verdeutlichen. In einer beachtlichen Zahl nachfolgender Schriften wurden die Konturen der GTM präzisiert, wodurch sich neben technischen Verfeinerungen auch eine erkenntnistheoretisch und methodologisch bedeutsame Kontroverse entwickelte. Diese soll hier nicht dargestellt werden(5). Die im Folgenden beschriebene Variante folgt der aktuellsten Fassung der GTM von Strauss und Corbin (1996).