Interaktionsanalyse

Sowohl lehrergelenkte Gesprächsformen als auch die verschiedenen Varianten von Gruppenarbeit sind Gegenstand der Analyse von Unterrichtsgesprächen. Dabei geht es immer um Gespräche von wenigstens zwei Personen. Der Lernpfad zur Interaktionsanalyse, deren Mittelpunkt solche Gespräche sind, erklärt anhand einem Fall aus unserem Fallarchiv die Interpretationsmethode der Interaktionsanalyse.

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Götz Krummheuer:

Die Interaktionsanalyse

1. Der theoretische Hintergrund der Interaktionsanalyse

2. Detaillierte Darstellung und Erklärung der spezifischen Merkmale der Interaktionsanalyse

3. Beispiel einer Analyse

4. Transkriptionslegende

Literatur

 

1. Der theoretische Hintergrund der Interaktionsanalyse

Die Interaktionsanalyse ist entwickelt worden, um thematische Entwicklungen in Interaktionsprozessen zu rekonstruieren, wie sie z. B. für fachdidaktische Forschungen von Interesse sind. Sie basiert auf der ethnomethodologischen Konversationsanalyse (Garfinkel 1967; Eberle 1997; Sacks 1998; Schegloff 1982; Ten Have 1999), die für die spezifischen Gegebenheiten der Analyse von Unterrichtsgesprächen weiterentwickelt wurde. Dies können die verbreiteten lehrergelenkten Gesprächsformen und die vielfältigen Varianten von Gruppenarbeit sein. Es geht dabei immer um Gespräche zwischen wenigstens zwei Personen. Das Verfahren ist nicht geeignet, die Leistungen oder Verstehensprozesse einer einzelnen Person zu rekonstruieren, wie das z. B. in einem Interview oder einem schriftlich durchgeführten Test möglich ist.
Hintergrund zur Entwicklung dieses Verfahrens war u. a. die Einsicht, dass im Unterricht der fachliche Inhalt nicht außen vor steht und durch geschicktes Unterrichten den Schülern nahegebracht wird. Vielmehr wird der Inhalt in der Unterrichtsinteraktion erzeugt und er ist deswegen für die Schüler nur in der Weise erfahrbar, wie er in der konkreten Situation „thematisiert“ wird. Man spricht deshalb auch von dem „Thema“ der Stunde und weniger vom Inhalt.
Derartige thematische Entwicklungen emergieren in dem Wechselprozess von aufeinander bezogenen Rede- und Handlungszügen in der Interaktion. Gemeinhin wird dieser Aspekt der Interaktion als „Bedeutungsaushandlung“ bezeichnet (Blumer 1969; Krummheuer & Fetzer 2005, 16ff. ; Krummheuer & Naujok 1999 (1), 17 ff.). Die Interaktionsanalyse ist ein Verfahren zur Rekonstruktion dieser Aushandlungsprozesse und der dabei mit hervorgebrachten thematischen Entwicklungen (s. a. Krummheuer & Fetzer 2005, 16ff.).
Diese Aushandlungsprozesse weisen ein gewisses Maß an Eigendynamik, Eigenständigkeit und Beständigkeit auf. Unterricht ist also nicht nur ein abgeleitetes Phänomen der sozialen Institution Schule oder noch umfassenderer makrosoziologischer Organisationsformen. Ebenso wenig ist er auch nur die Folge der mehr oder weniger erfolgreich verwirklichten Intentionen von im Unterricht Anwesenden. Im Falle der Lehrerin könnte dies u. a. der Wunsch sein, eine fachlich einwandfreie Stunde zu halten. Auch ist der Fachunterricht nicht durch die fachlich-methodisch strukturierte Präsentation des Unterrichtsstoffs bestimmt. Sicherlich ist er von diesen Einflussfaktoren nicht völlig unabhängig. Er ist jedoch nur schlüssig zu verstehen, wenn man ihn in seiner Besonderheit als einen weitgehend in seiner Entwicklung offenen, „situationell“ emergierenden sozialen Prozess zu analysieren versucht (Goffman 1974; Krummheuer 2007; Lenz 1991).

Theoretische Grundlage für diese situationelle Perspektive ist u. a. die phänomenologische Soziologie des Alltags (z. B. Schütz & Luckmann 1979) und die darauf aufbauenden Ansätze des Symbolischen Interaktionismus (Blumer 1969) und der Ethnomethodologie (Garfinkel 1967). Unter Alltag wird in diesen Ansätzen ein Wirklichkeitsausschnitt im sozialen Miteinander verstanden, der sich dadurch auszeichnet, dass er durch das Handeln anwesender Personen direkt geformt und beeinflusst wird. Entsprechend wird hier vom „Unterrichtsalltag“ gesprochen. Er ist bestimmt durch das wechselseitig aufeinander bezogene Handeln der am Unterricht Beteiligten.
Unterrichtsalltag ist nicht nur die routinemäßige Abwicklung, das Festschreiben des immer Gleichen. Es werden in seiner Herstellung besondere Auslegungsanstrengungen und Bewältigungsmethoden nötig; gewohnte Deutungs- und Handlungsschemata müssen ausdifferenziert oder um neue Gesichtspunkte ergänzt werden. Dieser Doppelcharakter des Alltags bewirkt, dass die Gegenüberstellung von Innovation und Routineunterricht nicht aufrecht erhalten werden kann. Auf der einen Seite unterliegt Innovation der gewöhnlichen Handhabung bzw. der Handhabung als gewöhnliches Ereignis. Auf der anderen Seite kennt auch das unterrichtliche „business as usual“ unerwartete Ereignisse, Abweichungen vom Üblichen, die es, wenn auch vielleicht nur kurzfristig, aufbrechen und eine Reorganisation des Ablaufs erforderlich machen, die nicht notwendig ein Wiederaufnehmen des Gleichen zur Folge haben muss. Alltag kann sich auch verändern, ohne deswegen aufzuhören, Alltag zu sein (Gellert 2003; Jungwirth & Krummheuer 2006; Krummheuer & Fetzer 2005).