Methode:
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Falldarstellung

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Wir greifen im Folgenden (…) Szenen für eine detaillierte Analyse heraus, die für die interaktive Handhabung des Streber-Motivs besonders aufschlussreich sind.
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Lateinstunde. Die Lehrerin stellt eine schwierige Frage. Es geht um etwas Neues, Olga meldet sich – kein Arm kommt hinzu und Olga an die Reihe: „Imperfekt“ lautet ihre Antwort. Ich bin beeindruckt und denke mir ein augenzwinkerndes „Streber“ und schwuuups ist es mir auch schon über die Lippen gerutscht, nur einen Bruchteil bevor auch Olivia sich umdreht und mit einstimmt. „Streber“. „Mennoo“ Olga verschränkt ihre Arme vor der Brust: „Bin ich gar nicht!“. Entrüstet weist sie diesen Vorwurf noch einmal zurück: „Ich bin kein Streber! Ihr seid ja doof“ Olivia dreht sich wieder zu ihr um und lacht sie an. Nun lässt sich auch Johanna anstecken und stimmt mit ein; sie murmelt etwas über Grammatikbücher. – „Dann sag ich eben gar nichts mehr!“ Olga ist empört und hat einen Heidenspaß. Josephine dreht sich um, meint trocken: „Keine leeren Versprechungen!“ Just in diesem Moment richtet sich das Interesse der Lehrerin wieder auf Olga: „Olga, kannst du das beantworten?“ Olivia kann sich ebenso wie Johanna kaum halten und grölt vor Lachen: „Olga sagt nichts mehr!“ Die Lehrerin ist etwas verdutzt. Aber Olga nutzt die Situation und kann wieder die richtige Antwort geben. Was für ein Fest! Nun ist auch noch Johanna laut und deutlich zu hören: „Hättest ja gleich sagen können, dass du gestern dein Grammatikbuch verschluckt hast“. (Hedda Bennewitz)

Interpretation

Die Beteiligung der Ethnographin an dieser Szene erscheint verblüffend. Wie kommt eine Forscherin dazu, eine Schülerin als „Streber“ zu titulieren? Und welchen Erkenntniswert kann eine solche Szene für sich reklamieren? Also kurz einige Anmerkungen zur methodischen Pikanterie: Der Ethnographin ist wichtig zu betonen, dass ihr „Streber-Einwurf“ keinesfalls eine kalkulierte Bemerkung war, sondern dass dieser Spruch ihrer Kontrolle und Reflexion gewissermaßen entzogen war. Er gründet in ihrer Überraschung angesichts einer derart außergewöhnlichen Leistung. Die prompte Zustimmung von Olivia sowie die späteren Reaktionen von Johanna und Josephine machen deutlich, dass das Verhalten der Ethnographin ,stimmig’ war. Die Ethnographin machte sich einem spontanen Impuls folgend gewissermaßen zum Sprachrohr der Situation. Ihre Handlungs- und Beobachtungsperspektive erweist sich als nah dran und integriert, was bedeutet, dass dieses Protokoll potentiell Beschreibungen enthält, die der Binnenperspektive der beforschten Kultur entstammen.

Interessant ist nun Olgas Reaktion: Obwohl der Grundton der gesamten Szene der des gemeinsamen Spaßens ist, wird zugleich die Komplexität und Doppelbödigkeit deutlich, mit der das Streberthema verhandelt wird. Der Strebervorwurf, der seinen Ausgang in einem konkreten Verhalten hat, wird von Olga auf ihre Person bezogen. Was eben noch die sanktionierende Kommentierung einer konkreten Handlung, einer herausragenden Leistung war, wird jetzt identitätsrelevant gemacht. Das scheint charakteristisch für das Streber-Etikett zu sein. Zuerst wenig schlagfertig, dann spielerisch entrüstet, weist sie den Vorwurf zurück. Dabei bleibt unklar, ob der Vorwurf so ungeheuerlich ist, dass Olga ihn doppelt zurückweisen muss oder ob sie ganz im Gegenteil eine weitere Kommunikationsaufforderung platziert, um mit dem Streber-Image scherzend zu kokettieren. Im Verlauf der Szene kooperiert Olga jedenfalls mit dem gemeinsamen Spaßen und bietet sich als Opfer des Ärgerns und Neckens an. Es muss jedoch betont werden, dass Olga keine echte Wahl hat: Sie muss dem Streber-Vorwurf auf der Ebene des Spaßes begegnen, will sie eine ernsthafte und für sie bedrohliche Auseinandersetzung auf der Ebene von Identität vermeiden. Olga ist zum Spaß gezwungen – und zugleich verschafft diese Spaßebene Olga die Chance, erneut zu glänzen. Dies gelingt ihr in einer spektakulären Kehrtwendung, in der sie ihre „Streber-Rolle“ im Sinne von da seht ihr, was ihr davon habt affirmiert und so erneut zum Amüsement aller beiträgt. Johannas Reaktion bildet sozusagen den freundschaftlich-versöhnlichen Abschluss der Szene. Die außergewöhnliche Leistung Olgas wird nun ‚magischen Kräften’ zugerechnet. Damit besiegelt Johanna einerseits den Streber-Vorwurf gegenüber Olga, denn es besteht ja kein Zweifel mehr, dass ihre Leistung den Rahmen des Normalen gesprengt hat – andererseits nimmt sie dem Vorwurf die Schärfe: Das Grammatik-Buch verschluckt zu haben ist kein seriös zu verhandelnder Vorwurf mehr.

Was haben wir aus dieser kleinen Szene über die Bedeutung und Handhabung des Streber-Themas erfahren?

Die Etikettierung als „Streber“ tritt hier unter Freundinnen auf (wenn man die Ethnographin als Teilnehmerin mal mit einbezieht) und findet im Modus des freundschaftlichen Ärgerns und Neckens statt. Das Streber-Etikett kommt als situative und spontane Assoziation zu einem konkreten Verhalten auf. Es geht nicht, das wird an der Tonlage der ganzen Szene und an der Reaktion des ‚Opfers’ deutlich, um eine ernsthafte Anklage oder Diffamierung – wobei für Olga die spaßhafte Ebene alternativlos gewesen sein dürfte, will sie das stigmatisierende Potential des Streber-Vorwurfs vermeiden.

Olga erscheint in ihrem Verhältnis zum Streber-Vorwurf höchst ambivalent: Sie weist ihn einerseits prompt, vollständig und „empört“ zurück, hält zugleich das Thema von sich aus am Laufen – vielleicht um den Streberverdacht in ihrem Sinne bearbeiten zu können, und schlüpft schließlich bei passender Gelegenheit demonstrativ noch einmal in die Rolle der „strebenden“ Schülerin, die außergewöhnliches Wissen präsentiert. Die Janusköpfigkeit, die sich hier andeutet, könnte grundlegend für das Streber-Thema insgesamt sein: So ist einerseits der Strebervorwurf eine weitreichende und potentiell identitätsrelevante Anschuldigung, die deutlich macht, dass man sich außerhalb des Vertretbaren bewegt, andererseits markiert und anerkennt er zugleich eine außergewöhnliche Leistung.

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Mit freundlicher Genehmigung des Peter Lang Verlages

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