Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

„Fred“: „Die Koze“; Darstellung und Verarbeitung von Aggression und Vulgärem

Beim zwölfjährigen Schüler Fred wurden seit früher Kindheit autistische Züge festgestellt. Nach unterschiedlichen Therapieansätzen befindet er sich seit der 5. Klassenstufe in dieser nun 6. integrativen Klasse als Erziehungshilfeschüler. Fred wird lernzielgleich unterrichtet. Eine Integrationshelferin ist an seiner Seite, um ihm die alltäglichen Mechanismen besser bewältigen zu helfen. Sein einziger, auch privater Freund ist Christian (11 Jahre), Regelschüler und seit Beginn der 6. Klasse Klassensprecher.

Freds insgesamt drei Zeichnungen und die Geschichte, die er in der oben beschriebenen Unterrichtseinheit hierzu entwickelte, enthalten viele spontan-emotionale Elemente, die sich innerhalb seiner ästhetischen Praxis Ausdruck verschaffen. In unterschiedlichen Interviewsequenzen wird dies deutlich. Christian ergänzt ab und zu die Aussagen seines Freundes Fred. Fred erzählt seine Geschichte nicht kompakt in einem, sondern spontan in mehreren Abschnitten des Interviews. Zum besseren Verständnis des von Fred Gesagten sei die Gliederung seiner Geschichte anhand der drei zeitlich nacheinander entwickelten Zeichnungen kurz umrissen (Abb. 2 bis 4): Die erste Zeichnung zeigt einen sich erbrechenden Riesen. Auf seiner zweiten Zeichnung bildet er eine Vogelscheuche im Hagelsturm ab. Die dritte Zeichnung enthält die Darstellung eines Flugzeugs, das durch einen Meteoriten fliegt. Das Erbrochene des Riesen bildet einen thematischen roten Faden durch alle drei Bilder. Es ist auf den drei Zeichnungen dargestellt, es ändert aber jeweils seine materialen Zustände: Es tritt in Form von Erbrochenem, Apfelteilchen, Meteoritenstücken und Hagel auf.


Abb. 1 Fred (12 Jahre): Fleck auf dem Boden; Digitalfoto (Ausgangsbild für Abb. 2), August 2001


Abb. 2 Fred (12 Jahre): „Koze“, farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001

Über die initiale spontane Assoziation zu einem mit der Digitalkamera fotografierten Fleck (Abb. 1) auf dem Boden erzählt Fred im Interview zunächst Folgendes:

„Fred (F.): Da gab’s so was Komisches, ich weiß nicht, woraus das bestand … Christian (C.): Ein Farbklecks.
F.: … sowas Weißes halt, und eh, das war mit diesem Mann, du weißt schon, dieser komische da.
C.: Der kotzte …
F.: So, und wie hat das ausgesehen? Und da war noch sowas Großes. Interviewer (I.): Ach so, o. k.
F.: Da habe ich das halt fotografiert. So Umrisse gemacht, so gemacht, wie so ein alter Sack und der Rest, der war halt so Kotze, so ehrrrr…. (laute würgende Geräusche)“
(Interview C&F, Z. 45-54) (Abb. 2) (1)

Aus Freds Aussagen wird deutlich, dass er die Assoziation eines „komischen Mannes“ und „noch sowas Großem“, was für ihn wie Erbrochenes aussieht, aufgrund des weißen Farbflecks offenbar bereits vor der Digitalaufnahme hatte. Denn erst nach der Schilderung seiner Assoziationen sagt er: „Da habe ich das halt fotografiert.“ (Interview C&F, Z. 52) Auffällig sind die Einwürfe von Christian in das Interview, die entscheidende Aspekte zum Verständnis für den Interviewer liefern. Nicht Fred, sondern Christian nennt das Wort „kotzte“ im Interview zum ersten Mal; ein derber Ausdruck für ’sich übergeben‘, ‚erbrechen‘, der wohl im alltäglichen sprachlichen Umgang der Kinder häufig benutzt wird, der aber einer adäquaten Wortwahl für Schulunterricht nicht unbedingt entspricht. Eine weitere derbe Bezeichnung in diesem Zitat ist „ein alter Sack“ für den dargestellten Mann. Auch Fred benutzt daraufhin das Wort „Kotze“, das auch Titel seiner Zeichnung ist. Er verstärkt und ergänzt dies durch lautsprachliche Äußerungen: „so ehrrrr…. (laute würgende Geräusche)“ Nach diesem Motiv für das erste Bild berichtet Fred kurz über die Entwicklung des Motivs für seine zweite Zeichnung, indem er an die erstgenannte Figur anschließt:

„F.: Der kotzende Mann war ja einer davon. Und ich hatte noch sowas, so’n Teil gefunden, das so’n bisschen Ähnlichkeit mit ’nem Vogelskelett hatte.
I.: Ah.
F.: Ich hab‘ daraus auch so eine zerfetzte Vogelscheuche gemacht.
I.: Ach echt?
F.: Das war so ein ganz starker Hagelsturm, und futsch ist das.“
(Interview C&F, Z. 102-107) (Abb. 3)


Abb. 3 Fred (12 Jahre): „Hagelsturm“, farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001


Abb. 4 Fred (12 Jahre): „Armagedon“, farbige Zeichnung auf Computerausdruck, A4-Format, August 2001

Freds zweite Figur ist „eine zerfetzte Vogelscheuche“ in einem „ganz starke(n) Hagelsturm“. Diese Figur trägt Anzeichen von Zerstörung, indem sie – dem Hagelsturm ausgesetzt – „zerfetzt“ wurde. Die Aussage „und futsch ist das“ zeugt nicht von Empathie gegenüber der Vogelscheuche. Im dritten Bild (Abb. 4) nimmt das Ausmaß von Zerstörung zu:

„I.: Und was hast du dir für eine Geschichte ausgedacht? So ein bisschen hast du sie schon erzählt, glaube ich, gell? Oder zu der Vogelscheuche?
F.: Ja, und da war das einfach noch so mit dem dritten Bild zusammen, das war, das hab‘ ich so Armageddon (laut und betont) genannt(2), diese Meteorenstücke. Und da waren da so ein bisschen von diesen Äpfelteilen, die da sind; so ’n bisschen zerfetzt, waren die. Und da war noch so ’n Teil, da habe ich so ’n zerfetztes Flugzeug drin gesehen. Das rast da so durch den Meteor.
I.: Ja.
F.: Und da hab‘ ich schnell alles drei verbunden. Dieser Opi, der war halt so ’n Riese und dem war irgendwann schweineübel und da musste er brechen. Und das hat ja so gespritzt. Und dieser Spritzer hat sich irgendwie – das weiß niemand, wie es passiert ist – hat sich dann so erhärtet und ist so meteorähnlich geworden. Und alles in der Luft zerfetzt. Aber dadurch wurden sie immer kleiner, und dann war es nur noch Hagel. Aber es war recht viel und alles zerfetzt und nichts und niemand hat es überlebt, bis auf diesen Riesen da halt.
I.: Ah ja, hmm.
F.: Der ist mit leichten Verletzungen davon gekommen. (lacht) Das war seine eigene Kotze.“
(Interview C&F, Z. 191-208)

Die Zunahme der Zerstörung lässt sich bereits an der Häufung des Wortes „zerfetzt“ ablesen, aber auch an dem Erzählelement des Flugzeugs, das durch einen Meteor rast und hierbei offenbar zerstört wird. Freds Formulierung weckt Assoziationen zu Bildern vom Anschlag auf das New Yorker ‚World Trade Center‘ am 11. September 2001. Da er dies jedoch vor dem Anschlag zeichnete und erzählte, liegt der Schluss nahe, dass Szenarien wie diese, Kinder schon vor dem Anschlag beschäftigten. Sie sind ihnen etwa aus den Genres Katastrophenfilm oder Sciencefiction – in unterschiedlichen medialen Aufbereitungsformen, ob als Film oder Computerspiel – bekannt. Deutlich wird, dass diese medialen Angebote Anlässe sind, Bedrohungsängste oder auch die Faszination von Zerstörungen zu verarbeiten. Um diesem Zweck zu dienen, spielt es zunächst eine sekundäre Rolle, von wo die Kinder diese Bilder erhalten, ob aus den Nachrichten über reale Ereignisse oder aus fiktionalen, realitätsnah dargestellten Medienangeboten. Offenbar haben die Terroranschläge tiefsitzende Ängste real werden lassen. Auch bei anderen Kindern aus der Untersuchung gibt es motivische Ähnlichkeiten zwischen deren Zeichnungen und den Ereignissen des 11. Septembers.
Das ganze Ausmaß der Katastrophe wird jedoch erst darin sichtbar, dass „nichts und niemand“ überlebte. Zudem nimmt die Erzählung eine vulgärere Wendung. Dies wird weniger durch das Wort „schweineübel“ ersichtlich, als vor allem durch die Handlung und das quantitative Ausmaß des Erbrochenen. Der Sarkasmus und die Ironie, die in der Erzählung nun mitschwingen, werden daran ablesbar, dass Fred selber lacht, aber vor allem in den zwei Sätzen: „Der ist mit leichten Verletzungen davon gekommen. (lacht) Das war seine eigene Kotze.“ (Interview C&F, Z. 207-208) Die Redewendung „mit leichten Verletzungen davon gekommen“ ist eine eher sachliche, etwa an nachrichtliche Berichterstattungen angelehnte Formulierung. Mehr und mehr konzentriert sich die Erzählung Freds auf den Handlungsstrang des Kotzens und den Zustand des Zerfetztseins. Wie in einen Strudel wird alles orgienhaft mehr und mehr in die Zerstörung hineingezogen:

„F.: Die Sonne ist zerstört. Und hier die Vogelscheuche, die ist so dermaßen zerfetzt, das glaubt man selber nicht. Und den Hut hab‘ ich noch so dazu gemalt. Und hier ist noch so Felder, die werden alle zerstört, durch den Hagel (gedehnt). Ich glaub‘ jetzt weiß ich, warum das früher in Ägypten als Plage da war.
I.: Was? Hagel?
F.: Ja, war ja auch dabei. Meteoren aber nicht.
I.: Gibt es so eine Stelle, die dir besonders gut gefällt? […] Gibt es eine, wo du sagst: Die ist dir besonders gut gelungen?
F.: Hmm. Hier die Vogelscheuche, so, wie die zerfetzt wird, das ist gut gelungen. Oder die zerfetzte Sonne oder die kotzende Sonne hier.
I.: Und warum meinst du, ist dir die gut gelungen?
F.: Ja, weil das so zerfetzt wird. Hier ist das Gesicht entzwei, hier ist dieser Mann zerrissen, hier das Haus kaputt, hier sieht man noch so ein Stückchen, wo derg? gestanden hat, hier fliegt der Hut weg, bla bla bla, bla bla bla, bla bla bla.
I.: Ah ja.
F.: Und hier hinten ist eine Wolke entzwei (lachend). Und hier brennt es so, das habe ich auch von Worms(3) abgeguckt, manchmal bleibt da noch so ein bisschen Feuer übrig. Und hier wird weggeschmelzt (lachend), die Scheiben kaputt.“
(Interview C&F, Z. 380-397)

In der Argumentation zu Beginn dieses Beitrags wurde die Metapher des Überdrucks benutzt, um darzulegen, dass sich aufgestaute Emotionen möglicherweise unkontrolliert entladen können, wenn sie vorher kein Ventil erhalten. In Freds Geschichte wird eine Form der Entladung und Erleichterung beschrieben, ein Ausdruck – hier im wörtlichen Sinne von Etwas, das nach außen gedrückt wird. Das zu Erbrechende hat sich in großem Ausmaß angestaut („Aber es war recht viel […]“; Interview C&F, Z. 204) und es wird mit einer solchen Wucht – also großem Druck – herausgespritzt („[…] und da musste er brechen. Und das hat ja so gespritzt.„; Interview C&F, Z. 200-201), dass es Verwüstung und Zerstörung anrichtet, bei der niemand überlebt, außer die Handlungsfigur selbst, die Ursache des Ereignisses ist („[…] und alles zerfetzt und nichts und niemand hat es überlebt, bis auf diesen Riesen da halt.„; Interview C&F, Z. 204-205). Der Auswurf bzw. der ‚Ausdruck‘ selbst ist Gewalt; das ursprünglich weiche Material „erhärtet“ (Interview C&F, Z. 202) sich sogar, ein Vorgang, der hier nicht psychoanalytisch gedeutet werden soll; ebenso wie die Form des Erbrochenen einen schmalen, längeren, stabähnlichen ‚Auswuchs‘ hat (Abb. 2). Bedeutsam ist die Farbe Rot ‚der Kotze‘ auf Freds erstem Bild (Abb. 2), was der Farbigkeit von normalem Erbrochenem nicht entspricht. Farbsymbolisch kann dies in Beziehung gesetzt werden zu Blut. Die Farbe unterstreicht die Vitalität des Vorgangs und existentielle Bedeutung des Auswurfs.

Fußnoten:

(1) Die Zeilenangaben in Klammern beziehen sich auf die originale Transkription des gesamten Interviews.

(2) ‚Armageddon‘ bedeutet ‚Entscheidungskampf‘. Nach biblischen Offenbarung Joh. 16,16 ist es der mythische Ort, an dem die bösen Geister die Könige der gesamten Erde für einen großen Krieg versammeln. ‚Armageddon‘ wird synonym für eine (politische) Katastrophe benutzt. Ein amerikanischer Spielfilm trug Ende der 1990er Jahre diesen Titel.

(3) ‚Worms‘ ist ein Computerspiel.

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