Falldarstellung

















Dieses Schriftstück ist Teil des Forschungsmaterials der wissenschaftlich begleitenden Evaluation des Modellprojekts: „Multisensueller Kunstunterricht unter Einbeziehung der Computertechnologie“. Weitere Informationen über den Forschungsplan und die Forschungsergebnisse finden Sie unter http://www.muse-forschung.de.

>Michael Schacht (http://www.michaelschacht.de)
Georg Peez (http://www.georgpeez.de)

Interpretation

(Peez, Georg: „Das sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist.“, In: Heft 02. Publikation des Verbandes der Lehrerinnen und Lehrer für Bildnerische Gestaltung Schweiz, Nr. 2, März 2009, S. 241-255)

Abbildungen 1–3: Schülerarbeiten von Zaneta (14 Jahre), Janine (12 Jahre) und Mayowa (12 Jahre) / Zaneta, 6. Kl., dig. Bildbearbeitung

Unterrichtsinhalte aus Schülerinnensicht

Im Folgenden analysiere ich auf phänomenologischer Grundlage und mit sequenzanalytischer Ausrichtung (zu dieser Methode siehe Peez 2005) ein Interview (in der Transkription 27 Seiten bzw. 987 Zeilen lang) mit Mayowa (12 Jahre) und Zaneta (14 Jahre) in Verbindung mit deren bildnerischen Unterrichtsergebnissen. Hierfür beginne ich mit einer längeren Passage, in der die beiden Mädchen über eine ihrer mit Photoshop erstellten Bildbearbeitungen sprechen (Abb. 1), die sie später als «Unser Meisterwerk» (Zeile 584) bezeichnen. Von dieser Passage aus werden weitere Sequenzen knapp erschlossen. (Das gesamte Interview ist verfügbar unter www.georgpeez.de/texte/download/ikozm03.pdf. In Klammern steht jeweils nach dem Zitat die Zeilenangabe aus der originalen Transkription.)

Ent-Kontextualisierung und Umdeutung

Den Schülerinnen stehen Porträtfotos am Computer zur Verfügung, die sie im Unterrichtsverlauf zunächst auf neue Weise wahrnehmen. Denn sie entkontextualisieren Elemente aus den Fotos. Die Nase von Fred wird an die Stelle der Nase von Andy gesetzt. «Franks Augen mit so einer dicken Brille» ersetzen Andys ursprüngliche Augenpartie. In einem weiter reichenden Schritt vollziehen die beiden Schülerinnen Umdeutungen des Realen. Sie werden von Zaneta und Mayowa auch erst als zweites genannt. Diese Umdeutungen, die sich als vorwiegend spielerisch und experimentell charakterisieren lassen, münden in eine aktive De-Konstruktion: Bestimmte Elemente der Gesichter werden ausgeschnitten und in einem Akt der Konstruktion neu zusammengefügt. «Evas Mund» wird zu einem «Hut», «Inams» Kopf-«Haare» werden zu einem «Schnurrbart» umgedeutet. Diese Umdeutungen werden in einer bildnerischen Gestaltung zunächst probeweise, dann endgültig in die Tat umgesetzt, um etwas Neues zu kreieren. (In einer separaten, hier aus Platzgründen nicht dokumentierten Bildanalyse konnten vor allem diese Aspekte verifiziert werden.) Durch Ent-Kontextualisierungen und Umdeutungen wird die Flexibilität, auch für absurde bildnerische Lösungen gefördert.

Ästhetische Erfahrung

Im bildnerischen Gestalten der Zwei scheint demnach ein Merkmal ästhetischer Erfahrung auf. Die beiden Mädchen sind «von den Zwängen der Konvention und der Routine befreit und für die Erfahrung des Augenblicks geöffnet» (Seel 2007, S. 16). Der Philosoph Martin Seel schreibt, ästhetische Erfahrungen seien «ästhetische Wahrnehmungen mit Ereignischarakter» (Seel 2007, S. 58). Und Seel weiter: «Ereignisse in diesem Sinn sind Unterbrechungen des Kontinuums der biografischen und historischen Zeit» (ebd., S. 59). Das Zeitgefühl geht für einen gewissen Moment verloren. Solche Ereignisse «erzeugen Risse in der gedeuteten Welt» (ebd.). Zum einen sind sich auch Zaneta und Mayowa über die zeitlichen Ausmaße ihres Tuns in der Rückschau unsicher («halbe Stunde … Wenige Minuten … Zwanzig Minuten ungefähr»). Zum anderen sind die «Risse in der gedeuteten Welt» eine offensichtliche Vorstufe der erfolgten Umdeutungen.

Gestaltungsprinzipien

Martin Seel sagt außerdem, Kunsterfahrung speise sich aus den Erfahrungen, die außerhalb der Kunst gesammelt werden (Seel 2007, S. 66). Wer im Alltag keine ästhetischen Erfahrungen macht, kann diese später auch nicht in der Kunst-Rezeption machen. Im hier behandelten Unterricht wird es den Schülerinnen ermöglicht, ästhetische Erfahrungen in Form einer Ent-Kontextualisierung und De-Konstruktion zu sammeln. Hierdurch erfahren sie zugleich zwei grundsätzliche Gestaltungsprinzipien, wie sie vor allem die Kunst des 20. Jahrhunderts prägten, und wie sie sich in der Montage oder Collage finden. Kunstströmungen wie der Kubismus, der Dadaismus, der Surrealismus oder die Pop- Art basieren u.a. auf diesen Gestaltungsprinzipien; aber auch die Kunst des Malers Guiseppe Arcimboldo (1527–1593). Haben die Heranwachsenden diese Prinzipien im eigenen Tun – durchaus auch als lustvoll – erlebt, so werden ihnen solche Kunststile – der Argumentation Seels folgend – nicht mehr ‹fremd› sein.

Patchwork-Identitäten

Neben einem bereits dargestellten ‹Personen-Mix› («Evas Augen, Beates Mund und Janines Haare» Z. 657) geschieht auch eine Auseinandersetzung mit Medien-Klischees («Ja, das ist die Claudia als Barbie. (lacht)» Z. 651). Die Mitschülerin Janine treibt in ihrer Montage das Spiel mit Patchwork-Identitäten noch einen Schritt weiter (Abb.2) (Das Transkriptionszeichen «@» steht für lachend gesprochene Passagen.):


Zwar wird an dieser Stelle keine explizite verbale Reflexion geleistet. Doch wird die Montage der Mitschülerin Janine implizit als bedeutend hervorgehoben («hat mir gut gefallen»; «das sah dann so witzig aus»). Dass diese Bildbearbeitung symbolisch aufgeladen und hierdurch etwas Besonderes ist, ist den Schülerinnen durchaus bewusst. Diese Montage überschreitet Grenzen: Sie ist mit den Begriffen ‹Cross-Culture› und ‹Cross-Gender› zu charakterisieren. Es handelt sich um eine Identitätskonstruktion, wie sie zwar äußerlich so kontrastiv kaum möglich ist, aber innerlich lassen sich die «zwei Welten» als Patchwork-Identität (Nordafrika/ Mitteleuropa und Mädchen/Junge) durchaus in den Jugendlichen finden. In Phasen des Umbruchs wie der Adoleszenz orientieren sich die Betroffenen einerseits zwar an Sicherheit versprechenden Leitbildern, andererseits bieten Experimente aber auch neue Optionen des Ausprobierens.

Möglichkeitsräume

Der Unterricht eröffnet auf diese Weise Möglichkeitsräume für das Spiel mit Identitäten, hin zu einer ‹freieren› Selbstdarstellung. Demgemäß beschreiben Zaneta und Mayowa auch die vermutete Intention der Lehrerin in ihren Worten:

Konventionalität wird ein Stück weit aufgehoben («Normal aussehen»), ein spielerischer Umgang mit dem Selbst wird angeregt («dass sich jeder verändern kann, aber das immer noch ist»). Verfremdende und auch teils absurde Darstellungsweisen werden nun als sinnvoll erfahren («Herauszufinden wer wir sind»). Hierdurch werden Situationen geschaffen, die «zur Erhöhung der Wahrscheinlichkeit kreativen Verhaltens» beitragen, denn ein Merkmal von Kreativität ist es, dem Unkonventionellen nachzuforschen.

Experimentieren

Das Gestalten und Lernen der Mädchen am Computer wird regelrecht von intrinsischer Motivation beflügelt. Dies bedeutet, dass ihr Tun nicht durch externe Belohnungen motiviert ist, sondern kognitiv und affektiv z.B. durch Sinn, Freude, Interesse, Erfolg, Neugierde oder auch selbstbestimmte Arbeitsabläufe aufrechterhalten wird.

Aufgrund dieser Interviewpassage lässt sich der Umgang mit der Bildbearbeitungssoftware als ‹Lernen durch Beobachten› («einfach einmal zugeguckt») und im zweiten Schritt als ‹Experimentieren› («dann haben wir es nachprobiert») charakterisieren. Der schnelle Lernerfolg («und dann … ging›s halt») scheint ihrem Vorgehen nicht nur recht zu geben, sondern diese Form der Kompetenzaneignung («weil wir es so gut konnten») wirkt auch motivierend. An anderer Stelle sagt Zaneta selbstbewusst: «Wir können›s ja!» (Z. 358) Beide Mädchen bekräftigen, dass sie in dieser Beziehung ohne Vorkenntnisse sind (Z. 285ff.). – Wie eingangs erwähnt, wurden die Schülerinnen von der Lehrerin bzw. von Mitschülern in das Programm zwar eingewiesen. Dies geschah allerdings lediglich auf der Basis der Betreuung der Station «digitale Bildbearbeitung» am Projekttag. Einen Lehrgang oder Ähnliches hatten die beiden nicht absolviert. Diese Instruktionen blenden sie im Interview zudem weitgehend aus, was darauf verweist, dass sie sich stark mit ihrem gestaltenden Tun identifizieren. Es kann festgehalten werden, dass die digitale Bildbearbeitung durch ihre Eigenschaft, jeden Schritt rückgängig machen zu können, die Bereitschaft zum Experimentieren erhöht. Dies wurde auch durch die Auswertung weiterer Interviews zur gleichen Unterrichtseinheit deutlich (Peez 2008).

Kommunikation und Identifikation

Intensive kommunikative Sachauseinandersetzung, die u.a. zum instrumentellen Umgang anregt, zeigt sich zum einen im Interview, in dem die beiden Mädchen häufig längere Dialoge untereinander führen, ohne Beteiligung des Interviewers. Zum anderen zeigt sich aber auch, dass sie Kommunikation über den Unterricht hinaus selbst initiieren.

Kunstpädagogik findet in der Schule immer in Gruppen, Schulklassen oder Kursen, statt. Didaktisch kann die Interaktion und Kommunikation entsprechend gefördert werden, etwa durch die Stationenarbeit, so dass sie von den Betroffenen als bereichend erlebt wird und über den Unterricht hinaus fortgesetzt wird.

Fach-Terminologie

Lernerfahrungen lassen sich in Bezug auf die Anwendung von Fachbegriffen durch die Mädchen ermitteln. Sie können einige Funktionen des Programms benennen, u.a. das «Lasso»-Werkzeug. Interessant ist die Stelle des Eingangs-Zitats, an der Mayowa ihre Freundin Zaneta korrigiert. Zaneta spricht im Digitalen von «geklebt», wohingegen Mayowa mit «kopiert» berichtigt. An vielen anderen Stellen des Interviews werden Fachbegriffe benutzt: «Fotomontagen» (Z. 111); «Montage» (Z. 268); «Photoshop» (Z. 121); «gescannt» (u.a. Z. 558); «gespeichert» (u.a. Z. 353); «ab gestürzt» (u.a. Z. 312). Und es werden Werkzeuge beschrieben, z.B. «Ja, was verschieben, halt so’n Kreuz, da konnte man was mit verschieben (Z. 377) oder «Farbtopf» (Z. 363). Zum Umgang mit dem Computer gehört eine gewisse Terminologie, diese eignen sich die Heranwachsenden mitgängig im Gestaltungsprozess an, auch durch Lernen voneinander.

Geringe reflexive Verfügbarkeit des Lernerfolgs

Es kann festgehalten werden, dass Mayowa und Zaneta die bildnerische Integration verschiedener Teilaspekte eines Porträts oder im übertragenen Sinne einer Persönlichkeit zu einem neuen ‹Ganzen› leisteten – und dies mit großem Engagement und hoher Motivation sowie eindrücklichen Erfolgserlebnissen. Aufgrund der Interpretation der Interviews fällt jedoch auf, dass diese Transformation von Einzelaspekten zu einem neuen ‹Ganzen› nicht verbal erfolgt. Die Mädchen formulieren beispielsweise keine integrierenden Titel für Ihre Arbeiten, sondern sie beschreiben und benannten ihre Bilder immer nur in additiver Form (z.B. «Evas Augen, Beates Mund und Janines Haare» Z. 657). Offenbar wurde im Unterricht selbst sowie in der Nachbesprechung hierauf wenig eingegangen. Dies deutet darauf hin, dass der weiter oben ermittelte Lernerfolgsanteil für die Mädchen selbst eventuell (noch) kaum verbal-diskursiv reflexiv verfügbar ist. Oder die neu gewonnenen Erfahrungen und Erkenntnisse werden von den Jugendlichen vorzugsweise im Bildlich-Präsentativen artikuliert.

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