Falldarstellung
Helena: Wenn die sich da in Berlin beim Konzert da rumknutschen ja –
Fabienne: Wie soll’n die sich da rumknutschen?
Helena: Wenn die dann irgendwann mal -weeß ich was machen. Was weeß ich. Vielleicht singen die ’n Duett. Wenn die sich da knutschen, dann geh ich.
Fabienne: ~ tschüß dann.
Helena: ~ dann sag ich „Tschüß Faiz“ und dann geh ich.
Fabienne: Wieso soll’n die das machen?
Helena: Ich weiß auch nich. Ich geh sowieso nich hin.
Fabienne: Gut dann ham wa wenigstens das Problem geklärt-mit deiner Mama.
(Zu Chrissi): Chrissi, wir kriegen den Physik-Test. Helena Ich hab andere Probleme als den Physik-Test.
Fabienne: Maan, die sind schon nich zusammen und wenn dann sind die bald wieder ausnander. Die geh’n sich garantiert auf’n Senkel. Kick ma Helena: ruck zuck.
Interpretation
Bei dieser Szene handelt es sich um den Ausschnitt eines Gespräches zwischen zwei 13 jährigen Freundinnen, Helena und Fabienne. Helena schwärmt für einen Popsänger namens Faiz, der seit Neuestem eine Freundin hat. Im Kern dieser Unterhaltung geht es um einen „Liebeskummer“ und ihre Fantasie, auf einem Konzert der Gruppe zu sein. Erst als Fabienne sich an ein drittes Mädchen namens Chrissi wendet, für einen Moment die gemeinsame Situation mit Helena verlässt und die bis dahin bestehende Exklusivität des Gespräches aufgibt, wird deutlich, dass dieses Gespräch in einer schulischen Situation spielt. Helena gibt nun ausdrücklich zu verstehen, dass es Wichtigeres gebe als Physik – nämlich ihr Problem – woraufhin Fabienne sich wieder der Freundin zuwendet.
Die transkribierte Audioaufnahme zeigt, dass in der aufgabenentlasteten Pausensituation Privatheit und Exklusivität, die als Merkmale von Freundschaftsbeziehungen gelten können, realisiert werden. Aber was geschieht im Unterricht? In welcherArt und Weise agieren Freundschaftspaare hier? Behalten private Themen ihre Dominanz gegenüber Anforderungen der Unterrichtssituation und kann die Beziehung zwischen dem Paar exklusiv bleiben? In meinem Aufsatz werde ich diesen Fragen nachgehen und die Teilnahme eines Freundinnenpaares an schulischen Unterrichtssituationen erkunden. Die Perspektive für die Betrachtung der „mikrokulturellen Welt“ von Helena und Fabienne ist eine doppelte: Es geht sowohl um Freundschaft unter den Bedingungen des Unterrichts als auch um Unterricht aus der Perspektive von Freundschaft.
Helenas und Fabiennes Welt. Die Fallanalyse
Helena und Fabienne sind mir bereits in der ersten Erhebungsphase als Paar aufgefallen. Sie sitzen stets nebeneinander und sind kaum einmal allein zu sehen. Beide gehören zur Leistungsspitze. Ihre guten Noten erklären sich vor allem über ihre schriftlichen Leistungen. Auf dem Pausenhof stehen sie meist mit drei anderen Mädchen zusammen: Katja, Louise und Chrissi. Helena und Fabienne waren schon zu Beginn der Beobachtungen modisch gekleidet und sahen gegenüber der Mehrheit der Mädchen etwas älter aus. Sie experimentieren mit Make-up, kleiden sich figurbetont. Beide haben lange und glatte Haare, die sie offen oder auch als Zopf tragen. Fabienne kauft regelmäßig eine „Bravo“. Gemeinsam mit Helena blättert sie in den Pausen in der Zeitung. Meist gesellen sich dann auch andere Mädchen hinzu. Helena und Fabienne verbringen auch ihre Freizeit miteinander und treffen sich nach der Schule. Mir gegenüber waren die Mädchen zunächst eher zurückhaltend. Sie gehörten nicht zu denjenigen, die von sich aus das Gespräch suchten. Dafür haben Helena und Fabienne fast immer etwas zu lachen. In einigen Unterrichtsfächern laufen sie zu Höchstleistungen auf, was das gemeinsame Kichern und Herumalbern angeht. Das ist sicher ein Grund, warum ich verstärkt auf die beiden aufmerksam geworden bin. Helena und Fabienne standen und stehen daher also im Zentrum meiner Betrachtungen.
[…]
In diesem Beitrag [gekürzt für das Online Fallarchiv, den kompletten Text finden Sie in: Bennewitz, H.: Helenas und Fabiennes Welt. Eine Freundschaftsbeziehung im Unterricht. ZSE, 24. Jg. 2004, H. 4, S. 393-405] wird die Frage nach dem Verhältnis von Freundschaft und Unterricht an einem Beobachtungsprotokoll von Fabienne und Helena in einer Physikstunde entfaltet. Es geht in diesem Sinne um die besondere Freundschaft zwischen den beiden Mädchen. Die Auswahl begründet sich zuallererst durch die deutliche Präsentation der Zusammengehörigkeit der Mädchen. Exemplarisch zeigen sich im Verlauf des Protokolls aber auch typische Anforderungen der Unterrichtssituation (und auch, wie sie gemeinsam bewältigt werden können). Zu nennen sind hier die wesentlichen Rahmungen, wie sie durch den 45Minuten-Rhythmus und den Frontalunterricht gegeben sind. Aufgrund der Dichte der Beobachtung gewährleistet das Protokoll in besonderer Weise die Nachvollziehbarkeit einer längeren Unterrichtsphase, wie sie typisch für die beobachteten Schülerinnen ist. Die Beobachtung von Paaren im Unterricht, wie sie hier dokumentiert ist, ist voraussetzungsreich und durchaus ein „ethnografischer Glücksfall“. Es ist nötig, in unmittelbarer Nähe des Paares zu sitzen und als Beobachterin zugelassen zu werden, um die Gesamtheit der Interaktionen – insbesondere die Verknüpfung von sprachlichen und gestischen Aktivitäten -in den Blick zu bekommen. Nicht jede Unterrichtsstunde ist dafür gleichermaßen geeignet und nicht jedes Freundinnenpaar ist bereit, sich beobachten und „abhören“ zu lassen. Das folgende Beobachtungsprotokoll ist daher auch zu verstehen als ein seltenes Dokument des Zugelassenwerdens im (schulischen) Erfahrungsraum von Freundschaftspaaren.
Die Analyse des Datenmaterials erfolgt absatzweise, dabei möchte ich meine Interpretationen auf zwei Themenbereiche fokussieren. Es geht um die Bestimmung des Verhältnisses von Unterricht und Paaraktivitäten einerseits und um die Art und Weise der Beziehungsgestaltung zwischen den Mädchen andererseits(1). Bei der Interpretation der ausgesuchten Szenen orientiere ich mich an der sequenziellen Ordnung des Materials, wodurch Gleichzeitigkeiten von Handlungsebenen über einen bestimmten Zeitraum in den Blick geraten.
Physikunterricht mit Helena und Fabienne
An die eingangs dokumentierte „aufgabenentlastete“ Pausensituation schließt sich nun die Physikstunde an. Sie findet etwa drei Wochen vor den Sommerferien in einem hörsaalähnlichen Raum statt. Zu Beginn gibt die Lehrerin einen Test zurück, anschließend verkündet sie die Jahresnoten. Helena und Fabienne sitzen in der vorletzten Reihe gemeinsam an einem Tisch. Hinter ihnen sitzen ihre Freundinnen Chrissi, Louise und Katja.
Die Lehrerin fährt fort, die geneigte Ebene zu erklären und Fabienne zieht ihre „Bravo“ aus dem Rucksack, zeigt Helena ein Foto vom Titel und erklärt, dass in der neuen „Bravo „ein „O-Town“-Poster sei, wo irgendwer „übelst lustig guckt“. Etwas später malt die Lehrerin einen Hügel, den „Brocken“, an, davor ein Auto, das zum Gasthaus soll. Die Frage ist: Wie gelangt man nach oben? Beim Zeichnen entsteht ein Durcheinander von Schülerkommentaren und Lehrerinnenerklärungen. Mittlerweile geht es um die Serpentinen, die den Hügel hinauf führen. Auf die Frage, wie diese Straßen heißen würden, meint Fabienne zu sich selbst: „Kurven, Spirale“. Dann lacht Fabienne über die Zeichnung der Lehrerin: „Das sieht aus“, und Helena fügt gedehnt an: „Der Berg hat Streifen“ – „Zebrastreifen“ ergänzt Fabienne. Die Lehrerin doziert darüber, dass die Kraft kleiner wird und man so Kraft einsparen könne. Dafür werde aber auch der Weg länger. Fabienne nutzt die Erklärungszeit der Lehrerin, Helena zu fragen, ob sie nachher wieder aufs Klo gehen würden (als Alternative zum Hofgang?).
Das Feldprotokoll bewegt sich auf zwei Ebenen, die parallel und im Wechsel beschrieben werden: Eine Ebene beschreibt die Aktivitäten der beiden Mädchen, während sich die andere auf den Unterricht bzw. die Aktivitäten der Lehrerin bezieht. Die beiden Handlungsebenen sind dabei auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verbunden. Zunächst ist eine rein zeitliche Parallelität, d.h. die Synchronität von Handlungssträngen zu bemerken, die inhaltlich nichts miteinander verbindet. Eine Form der Verknüpfung sind Antworten der Mädchen auf Lehrerinnenfragen „im Stillen“ bzw. nur für die Sitznachbarin hörbar. Hierbei wird sichtbar, wie die Schülerinnen für sich alleine Unterrichtsstoff aufnehmen bzw. Handlungen der Lehrerin nachvollziehen. In einer weiteren Variante wird der Unterrichtsstoff zu einer gemeinsamen Sache und Anlass für einen lustigen Kommentar, der von der Partnerin aufgegriffen und weitergeführt wird. Am Beginn und am Ende der Szene eröffnen sich „private Nischen“, die sich mit dem Unterricht überschneiden, ihn überlagern. Der Unterrichtsablauf bietet aus der Perspektive der Mädchen also Gelegenheiten für kommunikative Sonderräume(2), in denen sich Spielräume für peerkulturelle Themen eröffnen.
Als die Lehrerin ankündigt, dass in der Doppelstunde am Freitag diese physikalischen Eigenschaften im Experiment nachvollzogen werden, wird Fabienne ironisch: „So ein Glück“. Helena räumt währenddessen ihren Tisch ein bisschen auf, rückt, sortiert und legt Stifte in die Stiftdose. Dabei fällt ihr Blick auf das Foto von Faiz, das im Deckel der Stiftdose klebt. Viele Utensilien, vor allem auch ihr Diddl-Kalender, sind mit zahlreichen Konterfeis des jungen Sängers geschmückt und künden von ihrer Leidenschaft. Sie klappt den Deckel daraufhin demonstrativ zu (alle Bewegungen Helenas werden von Fabienne registriert und umgekehrt). Fabienne nimmt nun in aller Ruhe die Dose, öffnet sie wieder und hält sie Helena grinsend und kichernd vor die Nase. Helena nimmt die Dose und schließt sie. Fabienne öffnet sie wieder. Schließen-grinsen-öffnen -grinsen – schließen.
Fabienne beweist mit ihrem Kommentar zugleich unterrichtliche Aufmerksamkeit und Distanz zum Geschehen. Die ironisch-gebrochene Kommentierung verweist auf eine unterhaltsame Seite und Qualität von Unterricht, der eben auch Ressource für Humor und Ironie sein kann (vgl. Breidenstein & Kelle, 2002; Bönsch-Kauke, 2003). Helena verfolgt währenddessen anderes und scheint ganz mit sich selbst und der Sortierung ihrer Unterrichtsutensilien beschäftigt zu sein. Wie zufällig landet sie bei einem Bild von Faiz. Im demonstrativen Schließen des Deckels steckt ein deutliches Interaktionsangebot. Hier beginnt nun ein Spiel zwischen beiden Mädchen, das gänzlich vom Unterricht abgekoppelt ist und thematisch an die Pausensituation anschließt. Fabienne „hilft“ in dieser Situation Helena dabei, dass Thema „Faiz“ aufrechtzuerhalten und ihm Bedeutung zu geben. Die spielerische Thematisierung des Tagesthemas funktioniert exklusiv zwischen den beiden Freundinnen und aufgrund ihrer wechselseitig gewährten Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die Lautlosigkeit des Spiels und der geringe Aufwand, mit dem es funktioniert, lassen es dabei als besonders geeignet für die Unterrichtssituation erscheinen. Seine Dynamik entfaltet sich ohne inhaltlichen Bezug zum Unterricht. Die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit, mit der die Mädchen Kontakt aufnehmen und eine Verbindung zwischen sich herstellen, spricht für ihre Einvernehmlichkeit und für ihre alltägliche Vertrautheit. Die Mädchen scheinen eingespielt auf solche Arten von Amüsement. Im Spielen und Spaßen wird Intimität zugleich bestätigt und hergestellt. Unterricht, oder genauer der Frontalunterricht, ist aus dieser Perspektive eine Situation, die zur Herstellung und Aufrechterhaltung von exklusiven Beziehungen nicht nur geeignet, sondern prädestiniert ist.
Die Lehrerin ist gerade dabei zu erklären, wie dieses Phänomen genannt wird. Sie artikuliert laut und deutlich und zieht die Aufmerksamkeit wieder auf sich: „Diese Tatsache nennt man, und dies kann jetzt vielleicht sogar farbig geschrieben werden, die, ‚Goldene Regel der Mechanik’“. Fabienne kichert. „Welche Regel?“-„Ich hab kein Gold“, meint Helena – „Ich hab keine Regel“, gackert Fabienne und weiter: „Was is denn die goldene Regel?“. Unterdessen spricht die Lehrerin zu einer Schülerin: „Du hast kein Goldstift dabei, dann nimm schwarz“. Fabienne zückt daraufhin einen goldenen Stift, zeigt ihn Helena und steckt ihn gleich wieder in ihre Stiftrolle. Helena konterkariert die Lehrerin: „Farbig, mmh, nimm schwarz“. Fabienne lacht laut auf und fragt noch einmal „Was ist die Goldene Regel der Mechanik?“
Die Lehrerin schafft es nun, die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen bzw. der Beobachterin wieder zu binden. Sie weiß um die Konjunktur der Aufmerksamkeit(3) und gestaltet diese mit. Wesentlich ist die Ankündigung, etwas aufzuschreiben – ein untrügliches Zeichen für Bedeutsamkeit. Unterricht ist für Schülerinnen eine spezifische Anordnung von unterschiedlichen Phasen. Immer wieder gibt es Zeiträume, die keine besondere unterrichtsbezogene Aufmerksamkeit erfordern und die für andere Aktivitäten genutzt werden können. Diese Unterscheidung treffen zu können ist für die Schülerinnen von großer Relevanz. Hier scheint es opportun, die gemeinsame „kommunikative Nische“ zu verlassen.
Die Hinwendung zum Unterricht und den Aktivitäten der Lehrerin ist allerdings erneut Anlass für gemeinsame Scherze. In dieser Szene zeigt sich, wie die Unterrichtsinhalte und auch die Aktivitäten der Lehrerin zu Ressourcen für die Interaktionen der Freundinnen werden. Um diese Ressourcen für Freundschaft tauglich zu machen, müssen sie allerdings erst angeeignet und dann verfremdet, d.h. zu „etwas anderem“ gemacht werden.
Die Improvisation „Regel-Assoziationskette“ ist eine Variante solch einer Modulation (vgl. Goffman, 1980), die in der Gegenläufigkeit der Ordnung funktioniert. Es verbinden sich hier Unterrichtsinhalte mit Anspielungen auf das gerade in der Adoleszenz wichtige Thema der Menstruation.(4) Inszeniert wird ein doppeldeutiger Spaß, der gleichberechtigt und wechselseitig von beiden Mädchen getragen und aufrechterhalten wird (vgl. Eder u.a., 1995). Der schlagfertige Abtausch; das gemeinsame Scherzen, wird zu einem exklusiven, Intimität und Nähe voraussetzenden und generierenden Spaß, wobei die Improvisation zeigt, wie mit Vorgaben aus dem Unterrichtsdiskurs gespielt werden kann und wie sie sich in neue und durchaus originelle Zusammenhänge einpassen. Die Mädchen lassen sich nicht vom Unterrichtskontext verpflichten. Dennoch bleibt der offizielle Zweck der Situation präsent. Dazu weiter im Protokoll:
Keine Antwort von Helena. Dann dreht sich Fabienne um zu Katja: „Hey, was war noch gleich die Goldene Regel der Mechanik?“- „Hat se noch nicht gesagt“, meint Katja, und Fabienne dreht sich wieder um. Als die Lehrerin just in diesem Moment die „Goldene Regel der Mechanik“ diktiert. An der Tafel steht nun „Goldene Regel der Mechanik: Was man an Kraft einspart, muss man an Weg zusetzen“. „Gut zu wissen. Is doch alles sinnlos. Unsere Zensuren sind doch fertig, warum gehen wir eigentlich noch in die Schule“, kommentiert Fabienne. Helena will nur noch wissen, wie spät es ist, und Fabienne antwortet stöhnend: „neun Uhr zehn“ und „noch 20 Minuten“. Dann gähnt sie ausgiebig. Die Lehrerin macht unterdessen weiter. Sie wolle mit dem Fahrrad auf den Berg fahren. Wie müsste der Weg da aussehen? Sie wendet sich an Miro, der nichts sagt. Helena dreht sich zu Fabienne und fragt: „Was ist’n das Gegenteil von steil?“ – „flach“. Helena meldet sich als einzige und kommt dran. „Die Straße, muss möglichst flach sein und so wenig wie möglich steil, aber dafür ist dann der Weg länger unterwegs“. –„Möglichst viele Kurven…“, fährt die Lehrerin fort. Während Fabienne lachend meint – „Was hast’n du für’n Deutsch bei deiner goldenen Regel?“
Die Ebene des gemeinsamen Spaßes ist verlassen und die „Ernsthaftigkeit“ der Situation wird sichtbar. Offensichtlich hat sich Fabienne nicht so weit vom Unterricht entfernt, als dass sie nicht wüsste, dass es sachdienlich ist, die „Goldene Regel“ aufzuschreiben. Sie benötigt jedoch Unterstützung. Indem sie sich an ein drittes Mädchen wendet, verlässt Fabienne den gemeinsamen Kommunikationsraum mit Helena und beendet die Exklusivität der Paarbeziehung. Allerdings erweist sich der Kontakt zu einer Mitschülerin als strategisch. Ihre „Inanspruchnahme“ als schulisches Unterstützungssystem dient der Sicherung von Unterrichtsinhalten.(5) Die Mitschülerin bleibt mehr Publikum als Teilnehmerin. Beschrieben ist hier der Übergang von einer „privaten Nische“ zum „öffentlichen Raum“. In „unterrichtsrelevanten“ Situationen heben die Freundinnen ihre kommunikativen Sonderräume auf und wenden sich dem unterrichtlichen Geschehen zu. Genauso wichtig wie die Eröffnung von Kontakten ist eben auch das Wissen um den Zeitpunkt für die Beendigung der Exklusivität.
Nachdem eine wichtige Hürde genommen und erarbeitet ist, setzen sich die Mädchen gemeinsam in ein neues Verhältnis zu Schule und Unterricht. Die Demonstration von Mattheit und Sinnlosigkeit ist eine Verständigung über die aktuelle Situation und eine Interpretation ihrer „Welt“. Mangels Alternativen oder auch pflichtschuldig kann aber auch der Unterricht wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten. Möglicherweise ist es ab und an die angenehmste Art und Weise, die verbleibende Zeit, der man sich vorher vergewisserte, zu gestalten. So präsentiert man sich als aufmerksame, pflichtbewusste und den Unterricht aufrechterhaltende Schülerin.(6)
Der Unterricht geht weiter. Helena und Fabienne kichern, suchen sich gemeinsam neue Spiele und greifen das Dosenspiel noch einmal auf. Ein nächster Anlass sind Sonnenstrahlen, die ins Klassenzimmer und auf Fabiennes Platzfallen. Nachdem sie sich erst alleine mit den Strahlen beschäftigt (sich sonnen, mit dem Uhrenglas Sonnenstrahlen in den Raum spiegeln), dienen sie etwas später als Anlass, um erneut Kontakt zu Helena herzustellen. „Ich blende meinen Arm“, sagt sie erst mehr zu sich, und dann wiederholt sie es lauter und etwas selbstironisch, so dass auch Helena es hören kann: „Ist das nicht toll?“. „Wiederlegt doch mal, dass Lehrer immer recht haben“, ist die Lehrerin zu hören. „Ich bin beeindruckt“, meint Helena. „Ich bin geblendet“, lacht Fabienne und guckt sich dabei das Bild von Faiz an. Helena lacht. Helena und Fabienne kichern. „Wir tragen den Strahl weiter“, doziert Fabienne und strahlt nun an die gegenüberliegende Wand.
Aus der Perspektive des Protokolls agieren Fabienne und Helena vor dem Hintergrund des Unterrichts. Fabienne versucht die Freundin für eine gemeinsame Welt zu interessieren und fordert Aufmerksamkeit und Resonanz. Helena ist für Fabienne die zentrale Person im Unterricht. Aus der Logik der Freundschaftsbeziehung ist es erforderlich, aktiv Kontakt zu suchen und herzustellen. Vor dem Hintergrund des Unterrichts können es auch pointierte Bemerkungen und Kommentare sein, die in aller Kürze eine Verbindung zwischen den Mädchen herstellen. Ihre Interaktionen wirken sehr selbstverständlich und eingespielt. Es scheint keiner besonderen Anstrengung zu bedürfen, diese kleinen Kontakte zu inszenieren. Sich vom Unterricht und seinen Themen zu distanzieren und die Gelegenheiten für Späße zu ergreifen, zu erspüren und sie aufrechtzuerhalten, gehört zu den Routinen der beiden Schülerinnen und ist eine Art, mit Unterricht umzugehen.
„Sind wir jetzt immer noch bei dem, was sie gerade gefragt hat?“, Fabienne wendet sich an Helena, die nickt, hört aber nicht auf, mit der Sonne zu spielen. „Guck mal. Da hinten ist die Wand dreckig“, ist eine ihrer Beobachtungen. „Oh guck mal, mein Strahl geht bis da. Ich trage den Strahl weiter“. Lehrerin: „Eve sagt, beim Hebel gilt es. Jetzt möchte ich das begründet haben. Alle!“ – „Guck mal, bis da“. Niemand antwortet auf die Frage der Lehrerin. Fabienne vertieft sich immer mehr in ihre Spiegelungen. „Ich schreib jetzt auf die Gardine (das schwarze große Rollo) eine Botschaft“. Sie stöhnt und ächzt, und Helena wird aufmerksam. „Oh, ah, das geht nicht“. Sie lässt aber nicht locker, das zweite Wort kann ich identifizieren: FAIZ. Eve ist mittlerweile wieder an der Reihe. Dann Claudius, der zu einer Begründung aufgefordert wird. Helena und Fabienne sind ins Lesen bzw. Schreiben vertieft. Plötzlich ist die Lehrerin zu vernehmen“ „Das ist keine Form der Kraftaufwendung, Fabienne“ – „Doch“, antwortet diese lachend. „Nein!“, sagt die Lehrerin fröhlich beschwingt, „das machen wir in der 8. Klasse. Das ist Optik. Greif nicht immer dem Stoff vor.“ Fabienne lacht. Die Lehrerin „macht wieder Kraft“ und Fabienne schreibt weiter Buchstaben für Helena an die „Gardine“. Die ist aber nicht mehr so interessiert, wendet sich auch wieder der Kraft zu und beantwortet „leise, für sich“ eine Frage der Lehrerin, obwohl sie die letzten Minuten eigentlich gar nichts vom Unterricht mitbekommen haben dürfte.
In der Beziehungsgestaltung unterscheiden sich die Aufgaben. Helena agiert insgesamt stärker unterrichtsbezogen. Ihr obliegt es, das unterrichtliche Geschehen zu verfolgen. Fabienne hingegen ist „Produzentin“ einer eigenen Art von Geschehnissen und stellt – mit Hilfe von Helenas Teilhabe – eine intime Welt in der Sphäre des öffentlichen Unterrichts her. Sie gibt Impulse für Aktivitäten und ist verantwortlich für die Aufrechterhaltung und Inszenierung des peerkulturellen Themas „Liebeskummer“ – auch wenn es in dieser Szene durch das mühselige Schreiben einer Botschaft einiger Anstrengungen bedarf, sich die Aufmerksamkeit Helenas zu sichern. Dennoch wird auch hier die Einvernehmlichkeit und Leichtigkeit sichtbar, mit der Faiz wieder in den Blickpunkt gerät, und die Ausdruck von alltäglicher Vertrautheit sind. Erst wenn sich die gegenseitig gewährte Aufmerksamkeit zu gemeinsamen Aktivitäten steigert, bleibt der Unterricht zumindest zeitweise völlig außen vor. Wesentlich ist dabei die Art und Weise der gegenseitigen Bezugnahme. In Helenas und Fabiennes Welt geht es darum, möglichst viel Unterhaltung aus den Aktivitäten zu beziehen. Die Mädchen sind dabei ihr eigenes Publikum. Sie fokussieren aufeinander, verständigen sich über ihre Welt und stellen sie gemeinschaftlich her. Die Herstellung von Exklusivität bedeutet die Abgrenzung gegenüber dem Unterricht und den Mitschülerinnen und Mitschülern. Im Ausschluss der Umwelt wird also die Intimität der Freundschaft gesichert und zugleich Differenz und Distanz zum Unterricht und zu den Mitschülerinnen erzeugt.
Das Sonnenspiel und auch das Dosenspiel sind Beispiele dafür, dass die Aktivitäten der Mädchen keine Impulse aus dem Unterricht heraus benötigen. Die gemeinsamen Themen werden unabhängig vom Unterrichtskontext aufgerufen. Diese Art von Aktivität ist insofern vorraussetzungsreicher, als hier „intime“ Kenntnisse und außerschulische Anknüpfungspunkte benötigt werden. Die Spiele brauchen und funktionieren nur zwischen den beiden Mädchen; in diesem Sinne sind sie exklusiv. In ihnen manifestiert sich auch eine Haltung und ein Umgang mit Unterricht. Sie zeigen, dass die Mädchen sich nicht vom Kontext verpflichten lassen. Lebensweltliche Bezüge werden spielerisch aufgegriffen und stellen damit die Exklusivität der Beziehung sicher.
Nachdem Thomas beim Lesen eines Buches für Deutsch erwischt wird, plätschert alles erst mal so eine Weile vor sich hin. Helena und Fabienne wechseln nur wenige Worte, bis Helena ganz entkräftet sagt.- „Ooch man. Dieser Scheißkerl. Der is so bekloppt“ – Fabienne lachend: „Dis sag ich doch“. Dann beginnt Helena mit dem Blick auf die Uhr, leidend: „Noch zehn Minuten. Weißte noch vor 20 Minuten? Das ist ewig lange her“, während Fabienne mit den Fingern auf den Tisch trommelt. „Komm wir lesen ‚Bravo’“, sagt’s, holt die Zeitung aus dem Rucksack und legt sie sich auf den Schoß.
Den Rest der Stunde verbringt Fabienne mit dem Lesen der „Bravo“, wobei sie Helena immer wieder an bestimmten Themen teilhaben lässt, indem sie ihr etwas vorliest oder Bilder zeigt.
Freundschaftsbeziehung und Unterricht. Eine Verhältnisbestimmung
Die konsequente Beobachtung einer Unterrichtssituation aus der Perspektive zweier Mädchen hat es in dieser ethnografischen Studie ermöglicht, die Teilnahme von Freundinnen am Unterricht nachzuvollziehen und ihre interaktiven Praktiken in mikrosoziologischer Perspektive zu beschreiben. Formen der Verschränkung von schulischen Anforderungen an das Schülerhandeln sowie Regeln und Bestimmungen, die sich aus der Gleichaltrigenkultur ergeben, sind sichtbar geworden. Es konnte gezeigt werden, wie eine exklusive Gemeinschaft von Freundinnen auch in der Unterrichtssituation aufrechterhalten wird bzw. werden muss und dass die unterrichtliche Handlungsebene dabei insofern immer präsent bleibt, als dass sie den Rahmen fiir die Interaktionen abgibt und auch eigene Anforderungen an die Schülerinnen bereithält.
Im schulischen Kontext müssen die Mädchen ihre Aktivitäten und ihre Aufmerksamkeit zwischen ihrer Freundschaftsbeziehung und dem Unterrichtsgeschehen ausbalancieren, wobei die Freundschaftsbeziehung in der Logik der Freundschaft und der Unterricht in der Logik des Unterrichts bedient werden muss. Aus der Perspektive der Peerkultur ist Unterricht als eine Praxisform zu kennzeichnen, die sich erst im Zusammenspiel beider Handlungsebenen realisiert. Dies zeigt sich im engen Verwobensein der parallelen Handlungsstränge von Schülerinnen und Lehrerin. In der Schulforschung werden diese beiden Handlungsebenen üblicherweise als Haupt- und Nebenbühnen bzw. Vorder- und Hinterbühnen beschrieben (vgl. Zinnecker, 1978), wobei mit Hauptbühne der „eigentliche“ Unterricht gemeint ist und die Nebenbühnen sich auf Schüleraktivitäten beziehen, die nicht auf das Unterrichtsgeschehen bezogen sind. Diese klassische Einteilung der Unterrichtssituation stellt sich nun komplexer und differenzierter dar, da beide Handlungsebenen auf unterschiedliche Art und Weise miteinander verknüpft sind.
Aus der Notwendigkeit, peerkulturelle und schulische Anforderungen zu vermitteln, resultiert ein spezifischer Bezug auf Unterricht. Die beschriebene Synchronität der Handlungsstränge zeigt, dass die Aktivitäten der Schülerinnen punktuell mit den Aktivitäten der Lehrerin verbunden sind, dass aber auch „private Nischen“, d.h. exklusive kommunikative Sonderräume hergestellt werden, die sich mit dem Unterricht überschneiden und ihn überlagern. Die Übergänge zwischen „unterrichtsöffentlichem“ und „privatem“ Bereich sind fließend. Die Aneinanderreihung und Verknüpfung von Handlungssträngen stellt eine zentrale Konstitutionsbedingung für die Gleichaltrigenkultur im Unterricht dar. Aus der Perspektive der Mädchen zeigt sich der Unterricht als Anordnung von Gelegenheiten, peerkulturelle Aktivitäten zu entfalten und Kontakt herzustellen, um den Status der Freundschaft zu bestätigen. In der Beherrschung dieser Unterrichtsstruktur liegt das Können der (vermeintlich) aufmerksamen Schülerinnen und Schüler, jederzeit in den Unterricht zurückkehren bzw. an diesen anschließen zu können. In diesem Sinne liegt in der Fähigkeit, eine Handlungsebene (im richtigen Moment) dominant werden zu lassen, eine zentrale Kompetenz der „guten Schülerin“.
Für die Freundschaftsbeziehung ist der Unterricht ein gemeinsamer Erfahrungsraum, in dem gemeinsam Zeit verbracht wird und werden muss. Die Aktivitäten der Mädchen sind in besonderer Weise in die zeiträumliche Struktur von Schule eingepasst. Der Unterricht rahmt ihre Interaktionen und regt bestimmte Formen der gegenseitigen Bezugnahme an. Dies zeigt sich insbesondere in den nonverbalen und trotzdem hochkommunikativen „Spielen“, die nur im und aus dem Unterricht funktionieren, und die in anderen, außerschulischen Situationen kaum denkbar wären. Die Spiele steigern zugleich die Erlebnisqualität des Unterrichts und helfen damit, Zeit zu gestalten. Auch darin liegt eine Funktion von Freundschaft: Sie hilft, den Unterricht subjektiv zu verkürzen. Eine Freundin im Unterricht zu haben birgt Vorteile. Freundinnen haben „mehr“ als nur den Unterricht. Sie haben eine soziale Beziehung, die für soziale Integration und Stabilität steht. (7) Die Freundin bietet soziale Sicherheit und schulische Unterstützung.
Unterrichtsinhalte und auch die Aktivitäten der Lehrerin sind wesentliche Ressourcen für die Interaktionen der Freundinnen. Innerhalb des Unterrichts thematisiert das Mädchenpaar im Rahmen seiner meist spielerischen und humorvollen Aktivitäten wichtige Entwicklungsaufgaben wie Sexualität, Liebe, Schwärmen, Idole, Menstruation. In diesen Interaktionen geht es um die eigene Positionierung hinsichtlich „klassischer“ Themen der Jugendkultur und um die Kommunikation des eigenen Verhältnisses zur Schule. Gerade in der Adoleszenz bildet sich Identität in Peer-Beziehungen. „Hier wird experimentiert und in ernsthaften Gesprächen unter Freunden das Eigene‘ und das Fremde‘ ausgetestet, wird Abgrenzung erprobt und Identifikation durchgespielt, wird ein Lebensstil erarbeitet, wird der Kern des eigenen Selbst kokonstruiert und mit anderen Feldern der Identitätsbildung, insbesondere mit jenem schulischer Leistungen, balanciert“ (Fend, 1998, S. 241). Helena und Fabienne sind die jeweils zentralen Personen füreinander. Sie bieten sich Anerkennung als Person, definieren ihre Welt und leisten damit wichtige Aufgaben für die Identitätsentwicklung (Erikson, 1988). Im Handlungskontext Unterricht machen Helena und Fabienne vor allem zwei Identitäten als „Identität-in-Interaktion“ (Deppermann & Schmidt, 2003) relevant: die der guten Freundin und die der guten Schülerin. Im Unterricht bzw. in seiner gebrochenen Verwendung können daher wichtige Entwicklungsaufgaben verhandelt werden. Damit liegt genau in jenen humorvollen Interaktionen, die als „private Nischen“ bzw. „exklusive Sonderräume“ beschrieben sind, ein hochfunktionales Element der Identitätsabsicherung.
Fußnoten
(1) Die Analysen sind zu Teilen aus Interpretationssitzungen mit Michaela Böhme, Georg Breidenstein, Kerstin Jergus, Steffen Kleint und Michael Meier heraus entwickelt.
(2) Vgl. Breidenstein (2004b) zum Thema „Räume im Unterricht“
(3) Nicht selten bin ich erstaunt, wie viel die Schülerinnen und Schüler trotz beobachteter „Unaufmerksamkeit“ gegenüber dem Unterricht mitbekommen.
(4) Zum Thema „Assoziation“ vgl. auch Breidenstein & Kelle (1998, S. 156 ff.)
(5) Zum gegenseitigen „Helfen“ vgl. auch Bennewitz & Breidenstein (2004)
(6) Ob Helena mit ihrem Verhalten auch bei ihren Mitschülerinnen und Mitschülern „punkten“ kann, bleibt fraglich. Sie könnte zwar einerseits „Dankbarkeit“ ernten, weil sie den Fortgang der Stunde sichert, sie könnte vermutlich aber auch als Streberin wahrgenommen werden (vgl. dazu Breidenstein & Meier, 2004).
(7) Zur Bedeutung von Schulzufriedenheit und Selbstkonzept vgl. Czerwenka u.a. (1990); zu sozialer Integration und Schulleistung vgl. Horstkemper (1992)
Literatur
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Zinnecker, J., Behnke, I. & Maschke, S. (2003). Null Zoff & voll busy. Die erste Jugendgeneration des neuen Jahrhunderts. Opladen: Leske + Budrich.
Mit freundlicher Genehmigung von Beltz Juventa.
http://www.beltz.de/fachmedien/erziehungs_und_sozialwissenschaften/zeitschriften/zeitschrift_fuer_soziologie_der_erziehung_und_sozialisation.html
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