Falldarstellung
Perikles, der große athenische Politiker, war das Thema des Geschichtsunterrichts in einer 7. Klasse. Die Vorgeschichte war besprochen, analysiert und erzählt worden. Und nun sollte der „Fall Perikles“ zur Diskussion gestellt werden. Das Interesse der 13-Jährigen für vorbildhafte, große Persönlichkeiten ist bekannt. Es hat viel zu tun mit der Suche nach einem neuen Ich-Ideal, das jenseits der Familie Orientierung bieten kann.
Die guten und die schlechten Seiten des Politikers Perikles standen als „Pro und Contra“ an der Tafel und nun sollte – in der Schlussphase der Stunde – noch ein „Scherbengericht“ abgehalten werden. Ich zeigte den Schülern, um die Szene etwas zu dramatisieren, ein Bild von einer solchen Tonscherbe. Doch dann kam alles anders, als von mir erwartet.
Ein Schüler meldete sich und erklärte, in der attischen Demokratie hätten doch auch die Frauen, wie in der letzten Stunde besprochen, kein Stimmrecht gehabt. Tumult entstand in der Klasse, denn die Provokation war für die Mädchen in der Klasse nicht zu überhören. Der Einwand des Schülers wurde nun von den Jungen mit Ernst diskutiert. Einige Schülerinnen zeichneten bereits etwas belustigt ein kleines Demonstrationsplakat. „Für das Frauenstimmrecht“. Es gongte. Die Stunde war zu Ende.
Einige Tage nach dieser Episode veränderte sich das Klima in der Klasse signifikant. Auf Wunsch der Mädchen sollten nun alle in U-Form sitzen. Die Mädchen richteten dabei die Bänke so aus, dass sie zu den Jungen Blickkontakt hatten; die Jungen allerdings wehrten sich gegen dieses Arrangement und blieben in ihrer früheren Sitzordnung, die frontal mit Blick zum Lehrer ausgerichtet war.
Da die Unruhe in der Klasse und der Streit um die Sitzordnung zu Beginn des Unterrichts auch in folgenden Unterrichtsstunden kein Ende nehmen wollte, reagierten mehrere Lehrer in der Klasse sehr ungehalten und ordneten kategorisch wieder die alte, dreigliedrige Sitzordnung frontal zum Lehrer an.
Die Klasse war schockiert und bestürzt. Misstrauen breitete sich aus. Die Distanz zu Lehrern, auch zu mir, wuchs und mit ihr die Konzentrationsstörungen.
Interpretation
Der didaktische Einfall, sich mit dem „großen Perikles“ kritisch auseinanderzusetzen, provozierte unversehens eine Konstellation im Unterricht, in der sich ein Entwicklungsthema abbilden konnte. Die libidinösen Beziehungen sollten im Unterricht neu geordnet werden. Die Klasse setzte dabei ihr bis dahin streng gehütetes „Geheimnis“ in Szene, dass Jungen und Mädchen im Klassenraum sitzen und sich möglicherweise füreinander interessieren könnten.
Für 13-jährige Jungen ist Perikles zunächst wohl eher ein väterliches Objekt für ernste und kritische Auseinandersetzung; für 13-jährige Mädchen ist der große Politiker mehr ein Objekt der Bewunderung. Durch das Auftauchen des ödipalen Konfliktes, der durch solche Beziehungsphantasien offenbar wiederbelebt wurde, kam es zur Regression im Klassenzimmer. Das unbewusste Thema, wie denn die Libido im Klassenzimmer verteilt werden sollte, wurde zunächst agiert und inszeniert.
Die Folgen für den Unterrichtsprozess waren nicht zu übersehen: Nicht Perikles war infolge der Regression am Ende der Gegenstand für Auseinandersetzungen, sondern die realen „Objekte“ im Klassenzimmer. Mit ihnen wollten die Schüler ihre früher erworbenen Beziehungsmuster wiederholen.
Was zeigt sich? Die Fallbeispiele [vgl. auch „Die warme Ofenbank“, „Das gezeichnete Ich“] verweisen gerade über die in Erscheinung tretenden „Fehlleistungen“ auf defizitäre Bedingungen des schulischen Rahmens für Lernen.
Die amerikanische Psychoanalytikerin McDougall (1988, S. 26) unterscheidet zwischen zwei Quellen für traumatisch wirkende Erfahrungen. Auch Störungen im Unterricht entstehen vermutlich entweder durch den Versuch, seelischen Schmerzen zu entfliehen oder aber durch den Versuch, unzusammenhängenden Mitteilungen der „Eltern“ einen Sinn abzugewinnen.
Im Diskurs der psychoanalytischen Pädagogik wurde bisher möglicherweise der Aspekt einer neurotischen Disposition der Schüler für Unterrichtsstörungen zu sehr betont. Die Abweichung des Verhaltens, der Schmerz, der weitergereicht wird, die Kränkung, kann so zwar möglicherweise besser verstanden werden. Diese einseitige Suche nach „Störungen“ im Sinne „neurotischer Abweichung“ im Unterricht verstellt jedoch den Blick für die eigentlich viel subtilere Wirkung des in vielen Bereichen auf Desintegration basierenden gesamten psychischen Raumes. – Traumatisierend wirkt die Schule nicht zuletzt durch die vielen völlig „unzusammenhängenden Mitteilungen“ und den Wirrwarr, den sie als gesellschaftlicher Ort „organisierter Bildung“ den Schülern zumutet.
Hierzu abschließend nur einen Gesichtspunkt: Der Erfahrungsprozess im Unterricht ist bisher darauf abgestellt, dass zweckrationales Lernen und konflikthaftes Erleben praktisch völlig getrennt nebeneinander existieren. Insbesondere Lehrer am Gymnasium verstehen sich nach wie vor als „Fachkollegen“, die sich mit pädagogischen Fragen eigentlich nicht zu befassen haben. In einer ganz fundamentalen Weise mutet die Schule so den Adoleszenten zu, das völlig unzusammenhängende Nebeneinander von kognitiven und emotionalen „Mitteilungen“ in solchen Lernprozessen zu verarbeiten. Zweckrationale Orientierungen und ästhetisch-moralische Praxis (vgl. Hirblinger 1999) können in der Schule so kaum in Ansätzen – wie von der Verfassung eigentlich gefordert – vermittelt werden. Auf die Auswirkungen dieser organisierten Spaltung des Erlebens auf den Identitätsbildungsprozess der Adoleszenten kann ich hier jedoch nur hinweisen: Es geht darum, dass die beiden elementaren Pole adoleszenter Stukturbildung, die Integration und die Differenzierung zweier Existenzformen, die im „Being-“ und „Doing“ (Erlich 1993) begründet sind, nicht mehr als Einheit erlebt werden können.
Solange Lehrer im Umgang mit Adoleszenten ihre „antipsychotische Abwehr“ (Fürstenau 1992, S. 99), d.h. ihre ausschließliche Orientierung an der Logik von Macht und institutionalisierten Dreierbeziehungen aufrechterhalten, um ihrerseits traumatische Erfahrungen mit der Schule abzuwehren, sind sie aus strukturellen Gründen kaum in der Lage, sich auf die Erfahrungsmodi des „frühen Ich“ einzulassen. Der gesamte Bereich der Spaltungsprozesse, der unbewussten Delegation, der manischen Schuldverleugnung, der überkompensierenden Reaktionsbildung tritt dann jedoch auch nicht in den Horizont ihrer pädagogischen Praxis.
Literaturangaben:
Erlich, S.H.: Verleugnung in der Adoleszenz. Einige widersprüchliche Aspekte. In: Psyche 44 (1990), S. 218-239
Erlich, S.H.: Phantasie und Realität in der Adoleszenz. In: Leuzinger-Bohleber, M. u. Mahler, E. (Hg.): Phantasie und Realität in der Spätadoleszenz. Opladen. 1993, S. 115-128
Freud, S.: Das Ich und das Es. In: Studienausgabe Bd. III, Frankfurt a.M. 1980, S. 273-330
Hirblinger, H.: Über Symbolbildung in der Adoleszenz. In: Jahrbuch für Psychoanalytische Pädagogik 3, Mainz. 1991, S. 90-117
Hirblinger, H: Pubertät und Schülerrevolte. Mainz (Matthias-Grünewald) 1992 Hirblinger, H.: Erfahrungsbildung im Unterricht. Die Dynamik unbewusster Beziehungskonflikte im unterrichtlichen Beziehungsfeld. Weinheim und München. 1999
McDougall, J.: Theater der Seele. Stuttgart. 1988
Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift Pädagogik, erschienen im Beltz Verlag
http://www.peterlang.com/index.cfm?vID=41422&vLang=D&vHR=1&vUR=2&vUUR=1
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