Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Auf dem Flur – im Vorbeigehen – ereignete sich folgende Szene:

Ein Kind wendet sich an Kurt: Kannst du mir sagen, wie spät es ist? Kurt bleibt stehen und schaut auf die Uhr, die über der Bürotür hängt.
Kurt: Ja pass mal auf. Da ist ein großer und ein kleiner Zeiger und wenn der…
Kind: (genervt) oh Lehrer! Du sollst mir nicht die Uhr erklären, sondern sagen, wie spät es ist.

Kurt hat die Eigenart, jede Situation, auch außerhalb der offiziellen Lernzeiten, als Lernmöglichkeit zu definieren. Das Kind war unterwegs im Flur, wahrscheinlich auf dem Weg zum Essen, wollte nur schnell die Uhrzeit wissen und sieht sich unvermittelt einer Lernaufforderung ausgesetzt. Auch während der Lernzeiten bekommen die Kinder nie schlichte Antworten, sondern Hilfen, um die Antworten selbst zu finden.

Der Lehrer1 kommt mit Carsten und holt sich ein Lexikon, blättert beim Zurücklaufen. Carsten ist ihm ungeduldig auf den Fersen und sagt: Man, ich will doch nur wissen, wo Westen und Osten ist: Der Lehrer antwortet, dass das ja in dem Buch stehe. Carsten setzt sich mit resignierendem Gesichtsausdruck auf seinen Platz.

Kurt ist der Lehrer in Person! Die Kinder haben ihm sehr bald einen neuen Namen gegeben: statt Kurt wird er – sogar von seinen Kolleginnen im Kontext schulischer Situationen mit Kindern – „Lehrer“ genannt („Frag doch mal den Lehrer“). Die Taufe Kurts zum „Lehrer“ durch die Kinder ist nicht nur ein Kontextualisierungsmarkierer (du bist der Lehrer, wir die Schülerinnen – also machen wir hier Schule). Die Kategorie „Lehrer“ als eine, die die Institution Schule kennzeichnet, wird hier zu seinem Rufnamen. Institutionelle Bezeichnung und Beziehungsebene werden vermischt.
Die Kinder holen den Kontext Schule als gesellschaftliche Institution in ihre Freie Schule, indem sie einen Erwachsenen zum „Lehrer“ machen. Sie scheinen damit sagen zu wollen: auch hier geht es um Autorität und Macht – wir sind nicht alle gleich und thematisieren damit die Grenzen der Freiheiten dieser Schule. Kurt spielt dieses Spiel mit und wird von seinen Schülerinnen und Schülern symbolisch zum Vertreter ihrer Schule in einem gesellschaftlichen Rahmen stilisiert. Dieser „Agent der Hoheitsstaatlichkeit“ wird mal liebevoll verhöhnt, mal in seiner Autorität anerkannt („Der Lehrer weiß alles“). Die ironisierte Verpackung beherrschen dabei beide Seiten und machen diese alltäglichen Inszenierungen zu einem Spiel der wechselseitigen Zuschreibungen.

Vicki: Oh Lehrer
Kurt: Schülerin

Wie die Kinder an der FSU Lernsituationen gestalten, interpretieren und dazu Lehrer- und Schülerrollen konstituieren, soll im Folgenden geklärt werden. Wir befinden uns in einer Lerngruppe „Mathe groß“ mit drei 10 bis 11 jährigen Mädchen und Kurt, dem Lehrer. Die Kinder sitzen in ihrem Gruppenraum an zwei aneinandergeschobenen Schultischen am Fenster. Zwei sitzen sich gegenüber. Kurt steht meistens in der Nähe eines Kindes. Nachdem nach und nach das Zusammenkommen der Gruppe, das soziale Arrangement und inhaltliche Anliegen – „Geomachen“ – von allen Beteiligten geklärt wurde, geht es an die Arbeit, nämlich Dreiecke zu zeichnen und Winkel und Höhen zu messen. Während dieser Arbeit fallen vor allem die sich durch die Kommunikation wie ein roter Faden ziehenden Vergewisserungsfragen der Kinder auf. Sie erteilen Kurt immer wieder das Rederecht. Indem er selbst darauf adäquate Antworten erzeugt, wird er als Lehrer konstituiert, der weiß, was richtig und falsch ist. Ihm kommt dadurch die Aufgabe zu, die Arbeiten der Kinder zu bewerten. Die Kinder formulieren durch Vergewisserungsfragen die Wissensdifferenz zwischen sich und ihm. Dies geschieht häufig mit ironischer Konnotation.

590 Mila: Jetzt bin ich fertig.

591 Sonja: Ich auch. Lehrer, is das so richtig?

592 Kurt: (bejahend) Hm.

593 Mila: Lehrer, is das so richtig?

594 Sonja: Lehrer, is das so richtig?

595 Tila: Lehrer, is das so richtig?

596 ((Sonja lacht))

597 Kurt: Joo, das is richtig…

Klassische Lehrerfragen, die an die Klasse gerichtet nach einer Antwort suchen, in deren Besitz die Lehrkraft selbstverständlich ist, etwa: „Wie misst man die (Höhe)?“, werden von den Kindern regelmäßig ironisch kommentiert. Sie spielen Schülerinnen, die eine brave Antwort auf eine Lehrerfrage geben und betonen dabei ihr Wissen darum, dass diese Fragen unechte Fragen sind, da Kurt die Antwort weiß.
Das Frage-Antwort-Schema bei solchen unechten Lehrerfragen räumt unter Klassenraumbedingungen dem Fragenden die Exklusivrechte für die anschließende Sprecherwahl ein. Es ermöglicht die gezielte Thematisierung von Wissensgegenständen. In dem hier analysierten Kontext erhält es eine neue Bedeutung. Es wird als ein Routineverfahren der Regelschule inszeniert und (ironisch) kommentiert:

642 Kurt: ( )…die höchste Stelle in diesem Dreieck. Wo ist die?

643 Sonja: (piepst) Hier.

644 Kurt: Ja, das is richtig.

645 Vicki: Da.

646 Mila: (echot) Da.

647 Kurt: Wie misst man die?

648 Mila: Oh.

Das Spiel mit formalen Gesprächsmustern eines klassischen Schulunterrichts weist auf den hochgradig reflexiven Umgang mit der aktuellen Schulsituation hin. Die Kinder wissen sehr wohl: Schule machen geht auch anders. Auf der Metaebene der Kommunikation bleibt dieses Thema über die gesamte Lerneinheit dominant. Die Kinder spielen mit Kurt das Lehrer-Schüler-Spiel „Unterricht machen“. Kommunikative Routinepraktiken des Regelschulunterrichts, die dort zur Verständigung zwischen Lehrerlnnen und SchülerInnen und zur Wissensvermittlung genutzt werden, werden hier antizipiert und gleichzeitig karikiert. Zu diesen Routinen gehört das didaktische Frage-Antwort-Schema mit den angeschlossenen Bewertungspraktiken der Lehrperson.
Im Mittelpunkt meiner Forschungen stehen die Aktivitäten, die aus einer Situation eine Schulsituation machen – noch enger geht der Blick auf die Schulsituation als Lernsituation (vgl. ausführlich Wiesemann/Amann 2002). Die Interpretation blendet die Interaktionen zwischen den Mädchen als Peer Culture Aktivitäten weitgehend aus. Es geht um die Bezugnahme auf die Situation als Lern- bzw. Schulsituation. Hier könnte der Frage weiter nachgegangen werden, wie die Mädchen die Ernsthaftigkeit der Situation immer wieder konterkarieren und wie gerade dieses Spiel um Rollen und Interaktionsroutinen in der Schule die Basis für ihr Mitmachen wird, wie ihre Peer Culture Praktiken schulisch inszeniert werden, wie die rituelle Rebellion und Kommentierung aller Lehreraktivitäten Teil der Peer Culture ist, in der es unter Umständen auch darum geht, die Distanz zum schulischen Geschehen demonstrativ in Szene zu setzen. Das sind die Themen einer ethnographischen Peer Culture-Forschung in der Schule.

Fußnoten:

(1) Selbst in meinen Beobachtungsprotokollen erhält Kurt häufig den Namen „Lehrer“.

Literatur

Wiesemann, Jutta/ Amann, Klaus (2002): Situationistische Unterrichtsforschung. In: Breidenstein, G./ Combe, A./ Helsper, W./ Stelmaszyk (2002) (Hrsg.): Forum qualitative Schulforschung 2. Interpretative Unterrichts- und Schulbegleitforschung. Opladen. S. 133 – 158.

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