Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Im Folgenden werden zwei Episoden einer Schülergruppe behandelt, in der die Schüler versuchen eine vorgegebene Aufgabe zu lösen. Hierbei lässt sich eine Strukturierung der Mensch-Computer Interaktion rekonstruieren, die sich durch eine total Computer-bezogene Bearbeitungsweise auszeichnet. Dies soll heißen, dass die Schüler sich untereinander verständigen auf
1. einen schnellen und spontanen Zugriff auf den Computer und
2. eine einhellige Abweisung von alternativen Zugängen, wie z.B. der vorherigen Klärung relevant erachteter mathematischer Begriffe oder Programmschritte.
Es folgen die Darstellung und Analyse der beiden Episoden:
Schülern einer 8. Klasse wird in einer Computer-AG folgende Aufgabe zur Bearbeitung vorgelegt (vgl. Krummheuer 1989, 38ff):
„Es gilt z. B.
36:(3+6) = 4,
das heißt, 36 ist durch seine Quersumme teilbar ohne Rest.
Frage: Welche Zahlen zwischen 1 und 100 sind sonst noch durch ihre Quersumme teilbar ohne Rest?“
(Alle vier Schüler lesen schweigend für ca. 30 sec. die Aufgabe durch.)
1 Ad: ich weiß schon was er meint.
2 Ab: (nur de) Quersumme – (..) durch vier
3 Ac: doch ohne Rest, Mensch
4 Ab: ja, ja mein ich ja.
5 Ad: wir fangen an zu programmieren, los..REM, wie solln
6 mer das Program nennen’.. Primzahlen-
7 Ac: Aufgabe eins. ..Aufgabe eins.
8 (Ad gibt in den Computer ein: „10 REM Aufgabe 1“)
9 Aa: ah so, das hatten wer, schad daß ich das alte Matheheft
10 (Ad gibt in den Computer: „20 REM Gruppe 1“)
11 Aa: nicht hab .. die Quersumme, eh die ..
12 Ac: wir sollen, wir sollen n Programm schreiben, wir sollen
13 (nitt einfach?) die Quersumme angeben.
14 Aa: ja, ich weiß.
15 Ac: (..) SAVE jetz.
Ad beendet in 1 die gemeinsam anberaumte Zeit zum Durchlesen des Aufgabentextes. Ohne auf die Äußerungen von Ab und Ac in 2 und 3 einzugehen, schlägt er vor, mit dem Programmieren zu beginnen. Die anderen drei Schüler erheben keinen Widerspruch. Eine Computerorientierung baut sich auf interaktive Weise auf. Ad’s Programmiervorgang besteht aus dem Eintippen zweier REM-Zeilen. Und dabei bleibt es. Man kann annehmen, dass Ad nach 1-jähriger Teilnahme an einer Computer-AG über die Funktionsweise des REM-Befehls und über die Funktion der Zeilennummerierung Bescheid weiß. Dies führt zu der Interpretation, dass Ad tatsächlich ein Programm zu schreiben beabsichtigt.
Aa erinnert sich in 9 und 11 offenbar an die Behandlung von Quersummen im Mathematikunterricht. Aa weist darauf hin, dass die im Mathematikunterricht behandelten Kenntnisse zu Quersummen hier und jetzt nicht im Vordergrund stehen (10/11). Aa stimmt ihm zu. Ac’s Hinweis auf die erste Programmspeicherung in 15 kann als Schlusspunkt dieses halbminütigen Aushandlungsprozesses gelten.
Die interaktiv hergestellte Einigung auf ein derartiges Computerbezogenes Aufgabenverständnis scheint nur verschwindend wenige inhaltliche Absprachen zu benötigen. Ad’s Hinweis auf Primzahlen wird aus inhaltlicher Sicht weder bestätigt noch verworfen. Eine damit verbundene alternative Strukturierung der Interaktion, die beispielsweise auf eine argumentativ geführte Diskussion von mathematischen Begriffen und ihrer vermutlichen Nützlichkeit zur anstehenden Problemlösung hinauslaufen könnte, wird gleichsam in seinen Anfängen bereits unterdrückt. Auch die zwei eingegebenen REM-Zeilen geben wohl nicht nur dem außenstehenden Interpreten keine inhaltlichen Hinweise auf das Aufgabenverständnis.
Die Einigung unter den Schülern scheint eher in einer spezifischen Realisation der Mensch-Computer Interaktion zu liegen: Das Computersystem wird ohne weitere Absprachen „spontan“ in die Interaktion zwischen den Schülern einbezogen. Es dient als zusätzliches Kommunikationsmittel. Der Konsens darüber wird zügig erreicht. Eine bereits zur Gewohnheit gewordene Interaktionspraxis in einer sogenannten „interaktiven“ Computerumgebung scheint sich hier erneut zu stabilisieren.
Wenig später haben die Schüler eine FOR-NEXT Schleife implementiert, in der neben der Index-Variablen N auch noch die Quadratwurzel von N bestimmt und ausgedruckt wird. Das Programm lautet (vgl. Krummheuer 1989, 75ff):
10 REM AUFGABE 1
20 REM GRUPPE 1
30 FOR N = 1 TO 100
40 PRINT N
50 A = SQR(N)
60 PRINT A
70 NEXT N
Diese Programmzeilen sind am Computer während des folgenden Dialogs zwischen Ac und Ad entstanden:
100 Ad: wie kann man die Quersumme hier zeichnen.
101 Ac: was, was hast du denn überhaupt vor’
102 Ad: ach du hast oben hier gesagt daß daß es hier son LEN
103 oder so was irgendwas gibt was die Quersumme dann sagt.
104 Ac: die Quersumme (nit die Teiler? wart ma, wart ma .. SQR.
105 SQR
106 (Ac tippt die Programmzeilen 30, 40 und SO ein. Ad ver-
107 vollständigt das Programm durch die Zeilen 60 und 70.
108 Sodann lassen sie das Programm laufen: )
109 Ac: geht schon ma
110 Ad: aha das ist schon ma ganz gut
111 Ac: stimmt. denn siebnvierzig is sechs Komma .. nochma, man
112 muß das übersichtlicher gestalten ne’, wenn mer das –
113 Ad: Das hab ich auch noch nit, da hab ich auch noch nit ge
114 wußt ei.
115 Ac: so da haben wer se. eins is eins und zwei ist, eh, wart
116 ma
117 Ac: nee nee stimmt nicht, stimmt nicht
119 Ad: weißt du was wer jetzt raushabn’, das sind die Wurzel-
120 zahlen
121 Ac: genau
Interpretation
Es soll hier bei der Interpretation nicht um die detaillierte Analyse dieses „Experimentierverhaltens“ der beiden Schüler gehen. Diese Episode soll hier dazu dienen, die von den Schülern einvernehmlich realisierte Struktur der Mensch-Computer Interaktion genauer zu beschreiben.
Die Schüler ‘interagieren’ hier mit dem Computer gemäß signifikanter Elemente einer Interaktionsstruktur, die BAUERSFELD (1978) bei der Analyse eines Interaktionsprozesses zwischen einer Lehrerin und einer Schülerin das „Trichter-Muster“ nannte. Hierunter ist eine Interaktionsstruktur zu verstehen, in der durch einengende Fragen des Lehrers und durch lokal darauf bezogene Antworten des Schülers interaktiv ein Aufgabenbearbeitungsprozess hervorgebracht wird, für den der Schüler keine umfassende Problemsicht und kein reflektierendes Lösungshandeln benötigt. Die Schritte dieses „Trichter-Musters“ lauten (vgl. Bauersfeld 1978, 162):
1. Der Schüler erkennt die mathematischen Operationen nicht.
2. Der Lehrer stellt kurze Frage nach dieser Operation – Die Frage wird vom Schüler falsch oder gar nicht beantwortet.
3. Die Verständnislücke wird nun nicht mehr grundsätzlich sondern nur noch aufgabenspezifisch behandelt.
4. Die Lehrerbemühungen konzentrieren sich zunehmend nur noch auf das bloße Hersagen der erwarteten Antwort.
5. Der Prozess endet, wenn die erwartete Antwort fällt.
BAUERSFELD (1978) spricht von „Handlungsverengung durch Antworterwartung“. Die Simulation in einer interaktiven Bedienungsoberfläche bezieht sich vor allem auf die Schritte 1, 3, 4 und 5. Bei dieser Simulation am Computer wird der Lehrer durch das „interaktive Computersystem“ ersetzt. ‘Antwort’-Erwartungen haben die Schüler an den Computer, wenn diese durch einen möglichst schnell herbeigeführten Programmstart eine ‘Antwort’ des Computers auf ihr Programm provozieren. Eine ‘Antworterwartung’ des Computers an die Schüler wird dabei von den Schülern dem Computer unterstellt, wenn dieser mit einem Ausdruck oder einer Fehlermeldung reagiert. Diese Art der Verwendung einer „interaktiven“ Programmierumgebung führt bei dem Schüler zu einer Handlungsverengung, da sie, am Beispiel verdeutlicht, nur noch nach einem anderen Befehl für SQR(N) suchen, ohne zu bedenken, dass die Quersumme nicht zum Grundwortschatz von BASIC gehört. Dieser spezifische sozial etablierte Umgang mit einem „interaktiven Computersystem“ soll als die Inszenierung eines „automatisierten Trichter-Musters“ bezeichnet werden (vgl. Krummheuer 1989, 188ff). Wie im traditionellen Unterricht Lehrer und Schüler unter einem Trichter-Muster zu einer richtigen Lösung vorstoßen, so bringen die Schüler mit dem Computer unter einen automatisierten Trichter-Muster ein funktionsfähiges Programm hervor.
In dieser Computer-Praxis wird also eine Mensch-Computer Interaktion gemäß dem handlungsverengenden Konzept von Interaktion nach dem Trichter-Muster stabilisiert. Die Schüler kommen für ihre Programm-Entwicklungen mit einem Minimum an vorausdenkender und problem-reflektierender Planung und mit routiniert beherrschten Programmierkenntnissen aus. Die Erfolgsquote ist unter einem solchen Vorgehen nur bei äußerst einfach strukturierten Programmen ausreichend hoch. Da erfahrungsgemäß jeder Programmierkurs mit solchen einfachen Programmen beginnt, ist die soziale Hervorbringung einer solchen Interaktionspraxis mit dem Computer auch in anderen Gruppen zu erwarten und als ein sich in der sozialen Praxis etablierender gewohnheitsmäßiger Umgang mit einem „interaktiven“ Computersystem zu verstehen.
Literaturangaben:
Bauersfeld, H. (1978): Kommunikationsmuster im Mathematikunterricht. Eine Analyse am Beispiel der Handlungsverengung durch Antworterwartung. In: Bauersfeld, H. (Hg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht. Hannover.
Krummheuer, Götz (1989): Die menschliche Seite am Computer. Studien zum gewohnheitsmäßigen Umgang mit Computern im Unterricht. Weinheim.
Krummheuer, G. (1989a): Die Veranschaulichung als „formatierte“ Argumentation im Mathematikunterricht. In: mathematica didactica 12(4), S. 225-243
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