Falldarstellung

Unterschiedliche „Rahmungen“ einer Tabelle

Es geht um das leidige Rechnen mit „Plus“ und „Minus“, das in der erwähnten 8. Klasse zu Beginn des Schuljahres noch einmal wiederholt und vertieft wurde. Am Beispiel der Wasserstandsmessung will der Lehrer die Addition positiver und negativer (ganzer) Zahlen verdeutlichen. Er skizziert dazu an der Tafel einen Fluss, an dessen Ufer ein Zelt steht, und eine Messlatte, die in den Fluss hineinreicht.

Der Lehrer verweist auf den verregneten Sommer und deutet mögliche Ferienerlebnisse an.

Der Schüler Joachim erzählt lebhaft Erlebnisse aus seinen Sommerferien, die er wohl teilweise auf einem Zeltplatz verbracht hat. Er will die Geschichte anfänglich in das offizielle Unterrichtsgespräch einbringen. Dies gelingt ihm nicht. Der Lehrer wendet sich anderen Schülern zu. Joachim wird seine Geschichte aber in einer Kommunikationszone los, die (in dieser Situation) aus seinen Tischnachbarn Ulrich, Dirk und Martina besteht. Dort berichtet er, wie er mit seinen Eltern auf einem von ihnen besuchten Zeltplatz nachts von einem Hochwasser überrascht wurde, wie sie deswegen aus den Zelten mussten und wie das Hochwasser abgepumpt wurde. Für kurze Zeit sind diese vier Schüler in der von ihnen etablierten Kommunikationszone von Joachims Geschichte gefangengenommen.

Derweil fordert der Lehrer zwischenzeitlich die Schüler auf, eine fiktive Tabelle über den wechselnden Wasserstand des Flusses anzulegen. An der Tafel entsteht folgende Tabelle:

„Wasserstand vor Ferienbeginn: 350 cm

1. Tag + 7

2. Tag +12 „

Es entspann sich folgendes Unterrichtsgespräch (5):

1 Lehrer: Um wieviel hat sich der Wasserstand innerhalb dieser zwei Tage geändert?
2 mehrere Schüler gleichzeitig: Multiplizieren! Minusnehmen! Zuzählen!
3 Lehrer: Abziehen. Wer kann Gründe dafür nennen?
4 Frank: Zuzählen.
5 Joachim: Differenz muß gebildet werden.
6 Martina: Zusammengezählt sind das 19, bei Minus 5.
7 Peter: 350 cm minus 19 rechnen.
8 Beate: Nein zuzählen muß man, weil Wasser dazukommt. Also 7 plus 12 rechnen.
9 Ulrich: Nein, es wird immer von 350 ausgegangen.
10 Dirk: Man muß immer von 350 ausgehen. Denn was ist, wenn man einen Tag mal nicht Radio hört, dann weiß man am nächsten Tag nicht mehr, wie hoch das Wasser ist.
11 Martina: Wir müssen 12 minus 7 rechnen.
12 Joachim und Ulrich: Es wird immer von 350 ausgegangen.

Wie man sieht, melden sich in dieser Passage auch die Schüler Joachim, Martina, Ulrich und Dirk wieder zu Worte. Joachim hat seinen Bericht über sein Camping-Erlebnis beendet.

Wir wollen jetzt ausführlicher auf die dargestellte Situation eingehen. Zuerst Beates Äußerung [in 8]: Sie wagt als erste der hier zu Worte kommenden Schüler ihre Meinung auch zu begründen. Sie nimmt eine Deutung der Tabelle vor (Situationsdefinition): Am ersten Tag steigt der Wasserstand um 7 cm und am zweiten Tag noch zusätzlich um 12 cm. Auf die Frage des Lehrers muss man also mit „Zuzählen“ antworten. Im Gegensatz zu der noch darzustellenden Deutung der Tabelle durch die Schüler Joachim, Ulrich und Dirk hat man hier den Eindruck, als argumentiere Beate schon sehr „algebraisch“ (im Sinne von Schulalgebra). Es scheint so, als identifiziere sie die Wasserstands-Zuwächse mit den Zahlen +7 und +12.

Dirk, Ulrich und Johannes deuten die Tabelle zwar auch als Angaben über Wasserstandsveränderungen, aber, wie sie von der Äußerung [in 9] bis zu der Äußerung [in 12] verdeutlichen, in einem anderen Sinne (Rahmen (vgl. Goffman 1980; Krummheuer 1981b)). Ihr Verständnishintergrund ist geprägt von dem Hochwassererlebnis, das Joachim in der beschriebenen Kommunikationszone erzählt hat. Mit ihren Argumenten versuchen sie ein Interpretationsschema für Wasserstandsvorhersagen zu entwickeln und darzustellen.

Wenn Beates Argumentation als eine „algebraische“ charakterisiert wurde, so vor allen Dingen deswegen, um einen Unterschied zu den Argumentationen der Schülergruppe Ulrich, Dirk und Johannes hervorzuheben. Beate argumentiert in gewissem Sinne stärker „mathematisch“, als sie das in diesem Unterricht offenbar gesetzte Lehrziel (Addition von positiven und negativen Zahlen) stärker in den Blick bekommt. Auch das von der Schülergruppe Ulrich, Dirk und Johannes vertretene Interpretationsschema der „Wasserstandsvorhersage“ enthält die vom Unterricht intendierten mathematischen Operationen. In ihrem „Rahmen“ stellen sie aber nicht das Primäre dar. Für sie ist wichtig, die Tabelle so zu verstehen, dass man auch bei nicht kontinuierlicher Verfolgung der Wasserstandsmeldungen sich jederzeit Klarheit über den momentan interessierenden Wasserstand verschaffen kann. Aufgrund des dargestellten Erlebnisses von Joachim in seiner Kommunikationszone kann man annehmen, dass sie wegen dieser Geschichte zu dieser „Rahmung“ der Tabelle gelangten.

Wir wollen jetzt den Unterricht ein Stück weiter verfolgen.

Rahmenerklärung

In dem Unterrichtsgespräch setzt sich nun eine Szene fort, die man als Rahmenerklärung bezeichnen könnte.

13 Lehrer: Wir wollen nicht immer von 350 ausgehen. Das geht ja auch deswegen nicht, weil der Wasserstand an jeder Stelle verschieden ist.
14 Ulrich: Aber hier ist doch nur eine Meßstelle.
15 Lehrer: Wieviel sind mehr dazu gekommen vom ersten zum zweiten Tag?
16 Einige rufen: 12, andere: 5, wieder andere: 19.
17 Lehrer: 12, ja richtig.
18 Beate: Hab ich doch recht gehabt (an Ulrich und Joachim gewendet).
19 Ulrich: Es wird immer vom Normalstand ausgegangen.
20 Lehrer: Ja, ich gebe zu, in diese Zeichnung kann eine Mißdeutung reinkommen. Aber es soll sich immer auf den Vortag beziehen. Nehmen wir das mal an. (Er demonstriert dabei, mit der flachen Hand Höhen anzeigend, das Ansteigen des Wasserstandes.) Was müssen wir dann tun?
21 Mehrere Schüler: Zusammenzählen
22 Lehrer: Ja, zusammenzählen (schreibt an die Tafel:) (+7) + (+12)

In [13] expliziert der Lehrer die von ihm gewünschte Interpretation der Tabelle. „Wir wollen nicht immer von 350 ausgehen“. In dem weiteren Satz dieser Äußerung [in 13] versucht er m.E. sogar die Deutung auf der Grundlage der Rahmung der „Wasserstandsmeldung“ als unvernünftig zu widerlegen.

Interpretation

Die beiden hier analysierten Deutungen der Tabelle stehen sich durch die Äußerungen zweier Kommunikationspartner direkt gegenüber und man könnte sich nun vorstellen, dass die Nützlichkeit und Angemessenheit dieser beiden Deutungen diskutiert würde. In einer solchen Diskussion hätten dann die Schüler Joachim, Ulrich und Dirk ihre durch ihre Rahmung vorgenommenen Identitätsanteile konstruktiv in den Unterricht einbringen können. Dasselbe gilt auch für den Lehrer. Und es sei nur am Rande erwähnt, dass die vom Lehrer beabsichtigte Behandlung der Addition positiver und negativer Zahlen genauso gut vom Rahmen der Wasserstandsmeldungen ausgehen könnte. Aber gerade ein solcher Versuch wird nicht unternommen. Der Lehrer stellt [in 15] eine Frage, mit der er, bei aller Missverstehbarkeit in ihrer Formulierung, versucht, durch eine „Richtig-Falsch-Bewertung“ sein Verständnis der Tabelle durchzusetzen.

Für die Schüler ist, wie man [in 16] ersehen kann, nicht einheitlich klar, was die „richtige“ Antwort in des Lehrers Vorstellung ist. Erst seine Reaktion [in 17] verschafft Klarheit. Beate „jubelt“ auf, weil sie offenbar durch die Fragestellung des Lehrers dazu verführt wurde, zu denken, dass es tatsächlich nur eine richtige Interpretation gibt. Ulrich will sich – erfreulich hartnäckig – noch nicht zufriedengeben. Der Lehrer gesteht, nachdem er seine Interpretation verbindlich durchgesetzt hat, großzügig „Mißdeutungen“ zu und beharrt zugleich auf der Verbindlichkeit seiner Rahmung. Ulrich, Joachim und Dirk müssen umdenken, d.h. die Tabelle neu „rahmen“, ohne einsehen zu können, warum ihre ursprüngliche Rahmung falsch ist. Die Möglichkeit, in diesem Kommunikationsprozess zu einem lernenden Subjekt zu werden, ist verspielt. Es findet eine Abkoppelung des Unterrichtsinhaltes von den „je spezifischen Unterrichtssituationen und Erfahrungskontexten“ (vgl. Heipcke 1977, S. 148) der betroffenen Schüler statt.

Obwohl es sich hier um ein einzelnes Unterrichtsbeispiel handelt, sind doch m.E. für die Kommunikation im Mathematikunterricht typische Merkmale aufzeigbar:
• Schüler können ihre aktuellen biographisch eingebundenen Erfahrungen nicht (mehr) in das offizielle Unterrichtsgespräch einbringen. Ihre Erfahrungen werden entweder völlig aus der Unterrichtskommunikation verdrängt, oder in die „nicht-offiziellen, semi-öffentlichen Nebenaktivitätsstränge“, den Kommunikationszonen abgedrängt.
Die Schüler scheinen in diesen Kommunikationszonen relativ rasch zu einem gemeinsam geteilten Verständnis (Rahmen) des anliegenden mathematischen Gegenstandes zu gelangen. Die Schüler einer Kommunikationszone sind ein eingespieltes Team. Sie sind oft in vielen Kursen immer am selben Tisch zusammen und treffen sich auch außerhalb der Schule an Nachmittagen und Abenden zu gemeinsamen Unternehmungen.
• Die Gespräche in diesen Kommunikationszonen gehen über das Erzählen von erlebten Geschichten hinaus. In diesen Unterhaltungen wird vielmehr ein umfassendes Deutungsmuster mit einer handlungsorientierenden Organisationsstruktur und Plausibilitätsstruktur aufgebaut. Dies ist u.a. mit dem Begriff der „Rahmung“ eines Ereignisses gemeint. Sie beinhaltet die von den Schülern einer Kommunikationszone gemeinsam geteilte Sicht der Ereignisse im Mathematikunterricht.
• Wenn derartige Rahmungsprozesse außerhalb des offiziellen Unterrichtsgespräches stattfinden, dann sind sie dem Lehrer nur schwer oder gar nicht zugänglich. Wenn die Schüler nach einiger Zeit mit der in ihrer Kommunikationszone gewonnenen Rahmung in das offizielle Unterrichtsgespräch eintreten, dann erscheint die häufig zu beobachtende Abwegigkeit ihres Standpunktes und Hartnäckigkeit, mit der sie ihn vertreten, lästig. Der Lehrer muss befürchten, dass sein Unterricht in ein Chaos entgleitet, wenn er sich mit der nötigen Intensität diesen Schülern zuwenden würde.

Der hier beobachtete Lehrer schafft die Rahmungsdifferenzen durch die Statuierung einer rigiden „Richtig-Falsch-Bewertung“ aus dem Weg. Für die Schüler Joachim, Ulrich und Dirk heißt das, dass sie, ohne eines Besseren belehrt worden zu sein, ihre aufgebaute Rahmung und die darin enthaltenen persönlichen Identitätsanteile aufgeben müssen. Aber auch Beate ist um einen einsichtsvollen Lernprozess betrogen worden, weil sich bei ihr der Eindruck verfestigt, dass es nur eine richtige Interpretation gibt, und weil sie, wie ihre gehässige Reaktion [in 18] zeigt, in den Äußerungen von Ulrich, Dirk und Johannes eine sie bedrohende Konkurrenz wähnt.

Die Schwierigkeiten im Unterricht sind scheinbar für alle Betroffenen gelöst worden. BAUERSFELD, der bei der Analyse eines anderen Unterrichtsgesprächs ähnliche Phänomene von Kommunikation im Unterricht beschreibt, resümiert „Die Schrecklichkeit liegt nicht zuletzt darin, daß die angedeutete verdeckte Ritualisierung und Stereotypisierung den Mathematikunterricht in falsch verstandenem beiderseitigen Interesse, d.h. für Lehrer und Schüler, konfliktfreier „laufen“ läßt bei gleichzeitiger inhaltlicher Sinnentleerung. Der Schüler wird um ein Hauptziel; seinen einsichtsvollen Lernprozeß, betrogen“ (Bauersfeld 1978, S. 166).

Literaturangaben:

Bauersfeld, H.: Kommunikationsmuster im Mathematikunterricht; in: ders. (Hg.): Fallstudien und Analysen zum Mathematikunterricht; Hannover usw. 1978.

Goffman, E.: Rahmen-Analyse; Frankfurt 1980.

Heinze, Th.: Schülertaktiken; München, Wien, Baltimore 1980.

Heipcke, K.: Das Curriculum unter dem Einfluß der schulischen Leistungskontrolle: Eine kritische Betrachtung anläßlich des Normenbuches Mathematik; in: Kutscher, J. (Hg.): Beurteilen oder Verurteilen; München, Wien, Baltimore 1977

Krummheuer, G.: Die Wirklichkeit des Mathematikunterrichts; Weinheim 1981a.

Krummheuer, G.: Rahmenanalyse zum Unterricht einer achten Klasse über „Termumformungen“; in: Institut für Didaktik der Mathematik (Hg.): IDM-Reihe Untersuchungen zum Mathematikunterricht, Band 4, 1981b.

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