Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

Falldarstellung

Klasse 5x, 16.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (10h22)

Die Tür wird geöffnet. Jeannette, Uzman, Martina, Ulak, Sabah, Jana, Stefan, Andy und David gehen in Richtung Garderobe. Einige Kinder beginnen im Gehen bereits, ihre Jacken auszuziehen. Jeanette kommt rasch ohne Jacke von der Garderobe zurück und geht zu ihrem Platz. Uzman geht mit der Jacke im Arm zur Garderobe. David geht, mit einer Jacke bekleidet, zum Regal, das die linke von der rechten Garderobe trennt, und beginnt, seine Jacke und seinen Schal auszuziehen. Uzman kommt ohne Jacke von der Garderobe zurück.

Klasse 4y, 25.03.1999, Übergang Pause-Unterricht (10h26)

Die Tür wird von außen aufgeschlossen und geöffnet. Innerhalb der folgenden 30 Sekunden betreten alle an dem Tag anwesenden Kinder (bis auf Wladimir und Canel, siehe unten) in einem fortlaufenden Strom den Raum. Als erste kommt Birgiel (im Anorak) herein. Sie geht zu ihrem Platz, zieht den Anorak aus und hängt ihn über den Stuhl. Cennet geht zu ihrem Tisch, Öffnet ihren Anorak, zieht ihn aus, geht zurück und bringt ihn zur Garderobe neben der Tür. Lisa biegt nach Betreten des Raumes unmittelbar in den Garderobengang zwischen Paul und Sörens Tisch und der Wand ein, zieht ihren Anorak aus, hängt ihn auf und geht dann zu ihrem Platz. Samuel geht zu seinem Tisch, zieht dort den Anorak aus, dreht sich um, geht zurück, bringt den Anorak zur Garderobe neben der Tür, hängt ihn dort auf und geht wieder in Richtung seines Platzes. Sabine, die im Anorak bis zu ihrem Platz gegangen ist, geht zurück zur Garderobe, zieht vor dem dort an seinem Tisch stehenden Sören ihren Anorak aus und hängt ihn auf.

Interpretation

Gemeinsam ist diesem alltäglich zu beobachtenden Handlungsmuster, dass unmittelbar auf den erstmaligen Wiedereintritt in das Klassenzimmer nach der Pause zwei Bewegungen (Überkleidung ausziehen, Überkleidung aufhängen) so rasch aufeinander folgen, dass der betreffende Schüler nur wenige Sekunden nach dem Eintritt seine Kleidung ausgezogen und aufgehängt hat. Zwischen den kleidungsbezogenen Bewegungen und den raumbezogenen Bewegungen zur Garderobe und zum eigenen Platz besteht in allen Fällen ein enger Zusammenhang. Die Gemeinsamkeit dieses in beiden Klassen zu findenden Handlungsmusters ist der Zusammenhang der vier (zwei kleidungsbezogenen und zwei raumbezogenen) Bewegungen. Die Rede ist von einer ritualisierten, in beiden Klassen gleichermaßen vorzufindenden Reihenfolge dieser Bewegungen. Denn diese Abfolge, die erst eine Ritualisierung im engeren Sinne auszeichnet, fällt in den beiden untersuchten Klassen verschieden, innerhalb der Klassen allerdings relativ einheitlich aus.

Im Hinblick auf die dargelegte Gemeinsamkeit lässt sich dieses Handlungsmuster im bereits mehrfach angesprochenen Sinn als Affirmation der organisatorischen Ordnung der Institution deuten. Mit dem Ausziehen der Überkleidung wird ein längerer Aufenthalt im Innenraum (Klassenraum) antizipiert, akzeptiert und somit Unterrichtsbereitschaft hergestellt. Mit der Kleiderablage bzw. –aufhängung innerhalb der ersten Sekunden nach der Öffnung der Tür wird die kleidungsimmanente Beibehaltung des Pausencharakters im Klassenraum auf ein Minimum beschränkt, d.h. die Unterrichtsbereitschaft wird zumindest kleidungsmäßig umgehend hergestellt. Mit der bereits beim Eintritt einsetzenden und bis zur Vollendung nicht enthaltenden Ausziehbewegung wird diese zusätzlich beschleunigt.

Bei aller Gemeinsamkeit sind doch auch in diesem schulaffirmativen Muster des Umgangs mit Kleidung Unterschiede zwischen beiden Klassen zu erkennen.

Zum einen fällt auf, dass in der vierten Klasse deutlich mehr Kinder sofort nach ihrem Ersteintritt in den Klassenraum ihre Überkleidung ausziehen und ablegen als in der fünften Klasse. Möglicherweise spielt hier das unterschiedliche Alter bzw. der unterschiedliche Zeitpunkt kindlicher Entwicklung eine Rolle. Von den Zehnjährigen lassen sich mehr Kinder auf das vorgegebene Ritual und damit auf die Autorität institutioneller Ordnung ein, als von den Elfjährigen (und die sich von ebendiesen Fünftklässlern darauf einlassen, wirken auch ansonsten jünger als ihre Klassenkameraden).

Vergleichsweise schwerer fällt die Interpretation des deutlichen Unterschiedes zwischen den jeweils dominanten Reihenfolgen im Umgang mit Kleidung. Während jene Kinder der fünften Klasse, die das vorgestellte schulaffirmative Muster rascher Kleidungsablage nach Eintritt ins Klassenzimmer praktizieren, in der Regel von der Tür aus direkt zur Garderobe gehen, dort die (gegebenenfalls bereits unterwegs ausgezogene) Überkleidung aufhängen und sich dann zu ihrem Platz begeben, gehen die Kinder der vierten Klasse von der Tür aus zumeist zuerst zu ihrem eigenen Platz, dann zur Garderobe neben der Tür, also wieder zurück, und schließlich erneut zu ihrem Platz. Sinnvoll erscheinen hier zwei Interpretationen: Zum einen kann hier die je spezifische Binnenstruktur der Klassenräume eine Rolle spielen. Während der Weg Zur Garderobe im Raum der fünften Klasse quer durch den Raum führt, und damit nicht nur eine Reihe von Kindern nahe an ihrem Platz vorbeikommen, sondern der Gang durch den Raum zur Garderobe die Weiträumigkeit der in den Schülerkörpern noch aktivierten Pausenhofbewegung ermöglicht und den Raum so als lebendigen erobert, befindet sich die Garderobe in der untersuchten vierten Klasse neben der Tür, verhindert damit eine solche Schwellenzeit und fordert von dem, der auf direktem Weg nach dem Eintritt zu ihr geht, eine abrupte Zäsur des Pausenhabitus. Zum anderen, und diese zweite Interpretation geht in eine ganz andere Richtung, kann in dem von den Viertklässlern als erste Phase des Musters praktizierten direkten Gang zum eigenen Platz auch wieder die affirmative Einstellung zur institutionellen Ordnung zum Ausdruck kommen (zur Wechselwirkung von Peer-Wahl und institutioneller Sitzordnung, vgl. Abschnitt). Für letztere Interpretation spricht, dass bei den Viertklässlern die Sitzordnung bereits beim Eintritt mimetisch angedeutet wird: Mehrere Sitzordnungspaare, also im Unterricht nebeneinander sitzende Schülerinnen und Schüler, gehen jeweils nebeneinander durch die Tür und betreten zugleich den Raum.

Als letzter Kontrast in der Praxis des in beiden Klassen zu findenden schulaffirmativen Musters rascher Kleidungsablage nach der Pause ist ein Unterschied in ethnischer Hinsicht zu notieren. In der Klasse 5x überwiegen unter den Kindern, die dieses Muster praktizieren, Kinder deutscher Herkunft, obwohl diese in der Klasse zahlenmäßig in der Minderheit sind. So finden sich in der oben beschriebenen Szene in der Eintrittsgruppe, die umgehend ihre Kleidung ablegt und sich an ihre Plätze begibt, allein sechs der insgesamt sieben Kinder deutscher Herkunft in dieser Klasse, aber nur drei von insgesamt dreizehn Migrantenkindern. Dagegen ist eine solche Tendenz in der Klasse 4y zwar auch, aber vergleichsweise nur sehr schwach zu erkennen.

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