Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Zeigte das letzte Beispiel bereits eine Form von Dramatisierung, so gibt es weitere Szenen in denen Geschlecht explizit angesprochen und damit in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt wird. Durch eine solche Kombination wird jedoch die Aktivität, um die es geht, das Geschlecht gebunden, womit Geschlechterstereotypien bedient werden. In einigen Beispielen wird eine Dramatisierung durch die Jugendlichen selbst vorgenommen, der Lehrer geht jedoch nicht darauf ein und kann so eine Stereotypierung vermeiden.
Im ersten Beispiel geht es um das Missverständnis einer Schülerin, die glaubt, die Nummer hinter ihrem Namen auf dem Zettel der Lehrerin bedeute ihre Note, während es tatsächlich die Nummer der zu bearbeitenden Station darstellt:
„Vanessa schaut auf den Zettel der Lehrerin: ,Warum bin ich so schlecht?’ Lehrerin: ,Das ist die Nummer der Station.’ Vanessa: ,Ach so.’ Lehrerin: ,Oh, und die anderen Damen haben sogar vier, fünf und sechs.’ Die beiden Schülerinnen schauen. Lehrerin: ,Die Damen dachten, die Stationen wären die Noten.’ Die beiden: ,Oh.’ Rebecca und Schülerin 1 formulieren Antworten auf die Fragen auf dem Zettel.“
Die Lehrerin klärt nicht nur das Missverständnis auf, sondern nimmt mit der Bezugnahme auf die „Damen“ eine Dramatisierung vor, die den Fehler mit Geschlecht in Verbind bringt.
Auch im folgenden Beispiel wird durch den Lehrer eine Differenzierung in die Mädchen die Jungen vorgenommen und damit dem Stereotyp, dass Mädchen ordentlich und fleißig seien, Jungen jedoch nicht, Vorschub geleistet:
„In der letzten Viertelstunde sollen die Schülerinnen und Schüler einen Versuch aus dem Chemiebuch für die folgende Stunde vorbereiten und den Versuchsaufbau aufschreiben. Am Ende der Stunde kontrolliert der Lehrer die Aufgabe. Dazu sagt er: ‚Im Schnitt kann man sagen, die Mädchen haben die Hausaufgaben gemacht, die Jungen nicht. Die Jungen müssen als Hausaufgabe die Stühle ranschieben.’“
Auch in einer anderen Stunde findet sich eine stereotype Zuschreibung über die explizite Bezugnahme auf das Geschlecht:
„Lehrer: ,Meine Damen, die Verschönerung der Tabellen könnt ihr auch wann anders machen, das muss nicht so perfekt sein!’“
Beobachtet man Sitzordnungen wie Zusammensetzungen von Arbeitsgruppen, so sind diese in der Regel geschlechtshomogen. Dies ist allerdings zumindest auch eine Folge der Unterstellung seitens von Lehrkräften, koedukative Gruppen seien ungewöhnlich. Die protokollierte Interaktion zwischen einem Lehrer und der Ethnografin macht dies deutlich:
„Der Lehrer kommt zu mir und sagt, dass ich meinen Platz wechseln soll und neben Tea und Dorothea oder Esma und Dilber stehen soll, weil eines eine gemischte Gruppe und die andere eine Mädchengruppe sei. Daraufhin wechsele ich meinen Platz und stelle mich zwischen beide Gruppen.“
Diese „Ungewöhnlichkeit“ koedukativer Gruppen wird gegenüber den Schülerinnen und Schülern dramatisiert (womit sie eine „institutionelle Reflexivität“ im Sinne Goffmans wird, vgl. Faulstich-Wieland 2001). Das folgende Protokoll macht dies noch einmal deutlich:
„Frau Ritter erzählt zu Beginn der ersten Stunde, dass sie in den kommenden zwei Stunden mit dem Gasbrenner arbeiten wollen. Dazu sollen sich die Kinder zu zweit zusammen tun und einen Gasbrenner holen. Die Mädchen bilden drei geschlechtshomogene Gruppen, von denen eine aus dreien, die anderen aus zwei Mädchen bestehen. Frau Ritter fragt, welcher Junge es sich vorstellen könnte, mit einem Mädchen zusammenzuarbeiten. Die Jungen schreien ,Nein’. Rana, ein Mädchen aus der Dreiergruppe meldet sich und sagt, sie würde mit Nabeel zusammenarbeiten, der alleine an einem Tisch sitzt. Frau Ritter lobt sie dafür.“
Die Lehrerin dramatisiert die Geschlechtszugehörigkeit, indem sie zunächst fragt, ob sich ein Junge vorstellen könne, mit einem Mädchen zu arbeiten. Impliziert ist in dieser Frage, dass eine solche Zusammenarbeit keineswegs selbstverständlich ist. Dies wird noch durch das Lob an Rana verstärkt, nachdem diese sich anbietet, mit einem Jungen in eine Arbeitsgruppe zu gehen.
Auch in einer anderen Klasse findet sich eine solche Dramatisierung. Nachdem ein Demonstrationsversuch durchgeführt wurde und die Schülerinnen und Schüler nun verschiedene Stoffe wie Wolle, Holz usw. in die Flamme halten und die Ergebnisse in einer Tabelle festhalten sollen, bleibt eine Schülerin allein:
„Jolande hat keinen Partner. Frau Ritter sagt, dass eines der ,Dreier-Mädchen’ oder einer der ,Dreier-Jungen’ mit ihr arbeiten solle.“
Wiederum benutzt die Lehrerin als Beschreibung der Gruppen den Bezug zur Kategorie Geschlecht, statt die gemeinten Personen namentlich anzusprechen. Eine weitere Dramatisierung von Geschlecht, die zugleich mit einer expliziten Zuschreibung einhergeht, findet sich im folgenden Protokoll:
„Frau Ritter schreibt: ‚Arbeit mit dem Gasbrenner’ an die Tafel und verteilt die Gasbrenner. Dabei macht sie die Bemerkung, dass sie die Schläuche nicht zu fest auf den Hahn drehen sollten, da sie schon erlebt habe, dass selbst Jungen ihn dann nicht mehr abbekommen hätten.“
Mit einer solchen Äußerung wird den Jungen Kraft und Stärke zugeschrieben und – entsprechend der oppositionellen Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit – den Mädchen abgesprochen. In mehreren Protokollen findet sich beim Aufrufen bzw. beim Versuch, die Jugendlichen zur Mitarbeit zu bewegen, eine Dramatisierung von Geschlecht. Exemplarisch dafür folgende Szene:
„Nach der Pause soll dann zusammengetragen werden, was die Gruppen notiert haben. Die vordere Mädchengruppe zeigt dem Lehrer ihren erarbeiteten Zettel, dieser reagiert aber kaum, denn er ist damit beschäftigt, die Klasse und vor allem die Jungen ruhig zu halten. Er macht ein Tonsignal mit einer Art Instrument, schaut dabei nur in die hintere linke Ecke des Klassenraums. Seyyal meldet sich die ganze Zeit, da der Lehrer nicht reagiert, nimmt sie den Arm wieder herunter. Nach einer Weile erklärt Herr Korfhage in Richtung von Seyyal: ,Wir fangen mal mit den Damen an’. Faruq greift das auf: ,Okay, Ladies first’. Maysan nennt dann die Beispiele aus ihrer Gruppe, die der Lehrer auf ein großes Stück Papier an der Tafel, den ,Wissensspeicher’ überträgt.“
Durch den Hinweis, „wir fangen mal mit den Damen an“, bindet der Lehrer die kommenden Antworten an das Geschlecht, sie werden zu „Mädchenantworten“. Solche Dramatisierungen kommen zum Teil jedoch auch von den Schülern. Hier haben wir in einigen Fällen gefunden, dass es den Lehrern gelungen ist, nicht auf die Dramatisierung einzugehen.
„Anschließend will der Lehrer wissen, was der Unterschied zwischen den beiden Zeichnungen ist bzw. wer länger gebraucht habe. Als sich offenbar nur Schüler melden, spricht der Lehrer dies an: ,Häufig ist es die rechte Seite, die etwas sagt. Was ist mit der linken Seite?’“
Im Protokoll ist dann folgender Ablauf notiert:
„Schüler etwas abfällig und großspurig: ‚Ja, die Weiber.’ Schüler (plural) eifrig: ,Das sind die Mädchen’. Schüler: ,Halb Mädchen, halb Jungen’. Schüler: ,Wir haben noch fünf Minuten’. Lehrer: ,Marie was meinst du?’ Der Lehrer scheint etwas, das ich nicht verstehen konnte, zu wiederholen: ,Paul hat länger gebraucht’.“
Von Seiten der Schüler wird der Hinweis auf die linke Seite der Klasse zu einer Dramatisierung von Geschlecht genutzt, denn dort sitzen die vier Mädchen in den beiden vorderen Reihen, allerdings auch zwei Jungen in der letzten Reihe. Der Lehrer geht auf keinen der Kommentare ein, nimmt mit Marie aber nun eine Schülerin aus der zweiten Reihe dran. In der folgenden Stunde wird erneut von einem Jungen Geschlecht als Kriterium für Unterrichtsbeteiligung dramatisiert:
„Sowohl die Besprechung des ersten wie des dritten Versuchs geschieht ausschließlich im Unterrichtsgespräch zwischen dem Lehrer und den Jungen der Klasse. Beim zweiten Versuch nimmt der Lehrer Jennifer dran, den Schaltplan zu zeichnen. Stefan reagiert prompt mit der Frage: ,Wieso kommen immer die Mädchen ran?’ Lehrer: ,Das ist Unsinn. Hier kommt jeder dran, der sich ordentlich meldet und keinen Blödsinn macht.’ Jennifer malt ihren Schaltplan an die Tafel. Lehrer: ,Richtig! Sehr schön. Ich verändere das wieder, weil ich die zwei Glühbirnen gern oben hätte, aber das ist richtig.’ Er wischt die Zeichnung weg und malt eine neue hin.“
Die Lehrkraft reagiert nicht auf die Provokation von Stefan, sondern fokussiert auf ein anderes Kriterium als Geschlecht, nämlich auf die ordentliche Beteiligung. Er kann damit vermeiden, dass die Beteiligung oder Nicht-Beteiligung als geschlechtsabhängig stehen bleibt. Ein letztes Beispiel zeigt ebenfalls, dass Lehrkräfte entdramatisierend Einfluss nehmen können auf die Auflösung geschlechtsstereotypen Verhaltens. Häufig wird berichtet, dass geschlechtsgemischte Gruppen zu einer internen Arbeitsteilung neigen, die den Mädchen jene Aufgaben überlässt, die „naturwissenschaftsferner“ sind. Solche Aufteilungen konnten auch im Unterricht einer 8. Klasse beim Experimentieren beobachtet werden und der Lehrer wies die Protokollantinnen explizit daraufhin, sich das Zusammenspiel in geschlechtshomogenen Gruppen anzusehen. Folgende Beobachtung entstand dabei:
Elisa, Roland und Kevin beginnen mit dem Experiment und es ergibt sich eine klare Aufgabenverteilung, Elisa schreibt die Werte auf, die ihr Roland und Kevin sagen. Elisa sagt von sich aus, dass sie schreibt. Hier greift der Lehrer ein.
„Kevin nimmt die Alkoholflasche, Elisa steht nur da und schaut. Roland schüttet den Alkohol hinein. Lehrer zu Elisa: ,Elisa, du kannst ja schon mal sehen, wie die Temperatur ist’. Patrick soll den Zettel vorlesen […]. Der Lehrer wickelt etwas zum Kühlen um die Apparatur: ,Ihr müsst auf drei einstellen, wenn die Uhr läuft. Ihr protokolliert mit, was die drei auf den Overhead- Projektor schreiben’. Elisa: ,Ich schreibe!’ Sie schauen auf die Apparatur […] Elisa: ,Es beschlägt’. Patrick lauter: ,Es beschlägt’1 […] Elisa: ,Es beschlägt und stinkt. Ist das richtig, dass das so angebrannt riecht’? Lehrer: ,Ich weiß nicht, was da vorher drin war’.“
Der Lehrer fordert Elisa explizit auf, die Temperatur abzulesen und erteilt den Auftrag, das Ergebnis auf den Overhead-Projektor zu schreiben an alle drei. Damit verhindert er zwar nicht, dass Elisa sich als „Schreiberin“ betätigt, erreicht aber, dass sie eben nicht nur dieses tut, sondern aktiv an der Beobachtung und Interpretation beteiligt ist. Entscheidend für das entdramatisierende Vorgehen ist hier, dass er bei der Aufforderung nicht auf Geschlecht Bezug nimmt – „du als Mädchen“ oder „nicht nur die Jungen“ o. ä. sondern sie persönlich und direkt anspricht.
Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages
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