Hinweis des Fallarchivs:
- Dieser Fall verweist auf einen Erfahrungsbericht einer Lehrerin aus Ihrer Vorbereitungszeit: Bohris, S. (2002): Wie ich mich für den Unterricht vorbereite. In: Grundschule, 11/2002, S. 49.
- Ebenso kann der Fall gemeinsam gelesen werden mit Unterrichtsplanungen aus der Sicht von Lehramtsanwärterinnen – Frau Ender.
Einen Vergleich der beiden Falldarstellungen finden Sie hier.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Im Rahmen der Ergebnisdarstellung stelle ich zwei Lehramtsanwärterinnen vor, Nina Ender und Karola Siebert, die beide im ersten Interview – ca. zwei Monate nach dem Start in die 2. Phase der Lehrerausbildung – von der Planung einer in der Folgewoche durchzuführenden Unterrichtseinheit zur Thematik „Die Sinne“ berichten. Es ist bei beiden die erste Unterrichtseinheit im Sachunterricht, die sie im Rahmen des Vorbereitungsdienstes selbstständig planen.
„Also erstmal überleg ich mir n Einstieg natürlich“ – Der Fall Karola Siebert
Karola Siebert hat nach dem Abitur eine Ausbildung zur Industriekauffrau absolviert, dann in verschiedenen Firmen, unterbrochen von Phasen der Erwerbslosigkeit, gearbeitet und letztlich im WS 2003/2004 ein Lehramtsstudium angefangen, das sie nach acht Semestern im Juni 2007 mit dem 1. Staatsexamen abschloss. Sie begann im August 2007 den Vorbereitungsdienst.
Im Interview berichtet sie ausführlich, strukturiert und detailliert über ihr Vorgehen. Sie eröffnet die Erzählung über die Planung ihrer Unterrichtseinheit zur Thematik „Die Sinne“ dabei mit dem Bericht über eine indirekte Opposition gegenüber ihrer Mentorin (1) bzw. deren Themenvorgabe. Nach Ansicht der Mentorin sollte Frau Siebert eine Unterrichtsstunde zum Tastsinn gestalten. Karola Siebert hält es demgegenüber für sinnvoll, erst einmal einführend „alle Sinne“ zu thematisieren und argumentiert im Interview auf der Grundlage des Lehrplans und einer Mitschrift aus der Universität, konkret dem Ordner aus den Schulpraktischen Studien, in dem ein solcher Unterrichtsentwurf abgeheftet ist. Beide Planungsmittel legitimieren ihr Vorgehen und veranlassen sie, gegen die Vorgabe der Mentorin zu handeln. Der Lehrplan nimmt dabei in ihrem Bericht tendenziell den Stellenwert einer verbindlichen, beinahe Gesetzescharakter tragenden Handlungsgrundlage ein. Unter anderem begründet sie im Interview ihre Entscheidung, „erstmal die ganzen Sinne vor(zu)stelle(n)“ (Z. 403) mit dem Fakt: „weil ich habe ja dann zu Hause im Lehrplan nachgeschaut und habe gesehen, in der zweiten Klasse hatten die noch keine Sinne gehabt“ (Z. 404-406).
Aus den Lehrplanangaben leitet sie kognitive Lernziele ab: „Dazu guck ich mir also den Lehrplan an, was steht da in der dritten Klasse, was sollte da zum Thema „Sinne“, was sollen die da wissen.“ (Z. 481f.). Anschließend beginnt ihre Materialsuche in Lehrbüchern, Lehrerhandbüchern, Arbeitsheften und im Internet; an späterer Stelle erwähnt sie noch die Werkstatt vom Verlag an der Ruhr, aus der sie sich unter anderem ihr fachliches Hintergrundwissen zum Thema aneignet. Ihr Blick ist dabei unmittelbar auf die Anwendung der gesichteten Materialien gerichtet, was sich unter anderem an folgender Erzählung mit Hintergrundkonstruktionen im Modus der Beschreibung dokumentiert:
„… und hab dann versucht, Material zusammen (zu suchen), teilweise aus Sachheften, die ich jetzt noch von anderen Verlagen zu Hause habe, wo ich einfach mal gucke, was machen die. Oder Internet. Es gibt schöne Seiten mit Unterrichtsmaterialien zusammengestellt, wo ich einfach drauf zurückgreife und gucke, was geht da oder was wird da gemacht in diesem Zusammenhang. Und musst Du Dir das vielleicht noch ein bisschen auf – gut, jetzt im Moment noch nicht so – auf Niveau der Kinder, weil das kann ich noch nicht so richtig einschätzen. Aber wo ich denke, das wär jetzt zu einfach für die oder das wär jetzt noch zu kompliziert in diesem Zusammenhang, das leg ich dann raus.“ (Z. 420-431)
Sachhefte und Internetseiten bedienen ihre Suche; sie findet „schöne Seiten“ – Seiten, die bei ihr einen positiven Eindruck hinterlassen, die „ihren Intentionen und Werthaltungen entsprechen. Auffällig ist an dieser Passage jene an sich selbst gerichtete grammatikalisch unvollständige Frage, ob die gefundenen Materialien „vielleicht noch ein bisschen … auf Niveau der Kinder“? Syntaktisch fehlt dieser Frage der zweite Teil des Prädikats und damit der sinntragende Handlungsteil des Satzes, die konkrete Aktivität, die Karola Siebert von sich selbst verlangen könnte. Der argumentative Einschub „gut, im Moment noch nicht“ weist ihrer Frage auch den Charakter einer rhetorischen Äußerung zu, den sie im Verlauf der Erzählung damit begründet, das „Niveau der Kinder … noch nicht so richtig einschätzen zu können“. Dass sie nicht wirklich in Erwägung zieht, das Material zu modifizieren, wird auch an der Bemerkung „vielleicht noch ein bisschen“ deutlich, die diese Möglichkeit sprachlich gleich doppelt einschränkt. Ihre gegenwärtige Strategie ist es, Material, das sie für zu leicht oder zu schwer hält, auszusortieren – wegzulegen. Im Begriff des Rauslegens dokumentiert sich zudem ein materieller Charakter des Materials. Man denkt vor allem an Arbeitsblätter, die man sortieren und rauslegen kann – eine Annahme, die sich an der dieser Sequenz folgenden Passage explizit bestätigt.
„Also ich stell dann die Arbeitsblätter so ein bisschen um, so wie ich das denke und wie ich denke, das ist so meine Unterrichtsarbeit für die Klasse und gut ist.“ (Z. 431-433)
Es wird deutlich, dass Karola Siebert die diesem Prozess zu Grunde liegenden Kriterien nicht theoretisch-begrifflich ausdifferenziert; sie handelt vor dem Hintergrund der Antizipation ihrer zukünftige Unterrichtstätigkeit, die von ihr als „Unterrichtsarbeit für die Klasse“ bezeichnet wird – eine interessante Metapher, die ein lehrerzentriertes, dienstleistungstheoretisches Verständnis des Unterrichtsprozesses dokumentiert und, rein mechanisch gewendet, den Unterrichtsprozess als Kraftaufwand im Dienste der Klasse widerspiegelt (2). Wie dieser Unterrichtsprozess in der von ihr beschriebenen Unterrichtsstunde gekennzeichnet ist, wird an der sich unmittelbar anschließenden Beschreibung deutlich. Mit den Worten „Dann überleg ich, wie mach ich das?“ (Z. 434) leitet sie in diese Beschreibung ein. Am Beginn ihrer Überlegungen steht das Nachdenken über den Unterrichtseinstieg. An ihrer Äußerung „Also erstmal überleg ich mir ‘n Einstieg natürlich“ (Z. 434f.) dokumentiert sich die Selbstverständlichkeit dieses geordneten, chronologischen Vorgehens in Entsprechung zur zeitlichen Dimension des Unterrichts, das dann mit der Planung des Hauptteils der Stunde, einer Tafelarbeit, fortgesetzt wird. Die Tafelarbeit wird in ihren Ausführungen dabei vergegenständlicht – ähnlich einem Gegenstand, einer Sache, die man besitzt oder eben »hat«:
„Und dann hab ich ähm ‘ne Tafelarbeit. Also ich hab da ein Bild gefunden mit einem Kind drauf, wo Pfeile zu den Sinnen dargestellt sind. Und dann waren da schöne Sachen zum Laminieren, also Begriffe: Ohr, Nase, Mund. Und dann: was kann ich mit diesen machen. Also riechen, sehen, schmecken. Kann man wieder daneben heften an die Tafel. Und dann verschiedene Adjektive: glatt, spitz. Und das sollen die dann den entsprechenden Sinnen zuordnen.“ (Z. 452-458)
Die Tafelarbeit wird als Zusammenspiel von Bild und Begriffen beschrieben, die vorbereitend laminiert, d.h. vergegenständlicht und greifbar gemacht werden. Hier dokumentiert sich eine gebrauchs- und anwendungsbezogene Perspektive unabhängig vom Sachgehalt der ausgewählten Materialien, was auch an der Wahl der Sprache deutlich wird. Karola Siebert bevorzugt sachfreie Benennungen: „Adjektive“ statt Sinnesempfindungen, konkrete Benennungen der Sinnesorgane und Sinnestätigkeiten als „Begriffe“ statt generalisierter Fachbegriffe. Sie beschreibt diese Tafelarbeit zudem als Prozess der An- und Zuordnung von Materialien durch die Kinder – an anderer Stelle spricht sie vom „dahin packen und dorthin packen“ (Z. 462) eines Adjektivs so dass der Modus des Ordnens und „Geordnet-Seins“ sich an dieser Tafelarbeit ebenso widerspiegelt wie in der anschließenden Ergebnissicherung, in der eines der von Frau Siebert erstellten Arbeitsblätter seine Anwendung findet:
„Ja, und dann zur Ergebnissicherung quasi hab ich ein Arbeitsblatt erstellt. Ist ein kleiner Text, also sind drei Zeilen, was die Sinne charakterisiert. Also wir haben fünf Sinne und so weiter und so fort. Und dann stehen da angefangene Sätze und sie sollen, sollen sie dann das entsprechende Verb dann einsetzen. Und unten ist dann auch so ‘ne Tabelle, wo Tätigkeiten stehen, und diese Tätigkeiten sollen sie dann eben den verschiedenen Applikationen da oben – Nase, Mund, Auge – zuordnen. Das ist dann so meine Ergebnissicherung, ja.“ (Z. 465-471)
Das Arbeitsblatt repräsentiert die Phase der Ergebnissicherung. Anhand ihrer Beschreibung kann man sich gut vorstellen, wie es aufgebaut ist: Oben ein kleiner Text, bestehend aus drei Zeilen und beginnend mit der Aussage, dass wir fünf Sinne haben. Darunter angefangene Sätze, möglicherweise eine Art Lückentext. Darunter eine Tabelle. Es ist deshalb gut vorstellbar, weil Karola Siebert in ihrer Beschreibung die Anordnung der Teile dieses Arbeitsblattes und deren äußere Merkmale fokussiert. Ein sachunterrichtsspezifischer Gehalt drückt sich in dieser Beschreibung nicht aus; das Arbeitsblatt könnte auch im Deutschunterricht eingesetzt werden.
Aufschlussreich ist noch einmal ihre abschließende Stellungnahme: „Das ist dann so meine Ergebnissicherung, ja.“ Karola Siebert sagt nicht: »Mit Hilfe dieses Arbeitsblattes führe ich dann mein Ergebnissicherung durch«. In ihrer Aussage übernimmt das Arbeitsblatt diese Funktion. Das Medium wird zum eigentlichen Akteur in der Vermittlung zwischen Kind und Sache; Karola Siebert tritt hinter ihr Material zurück. Dies bereitet dort keine Schwierigkeiten, wo das Material die Art und Weise des Umgangs durch die Schülerinnen und Schüler eindeutig determiniert wie in dieser Phase der Ergebnissicherung oder auch im Verlauf der Tafelarbeit. Wo dies nicht der Fall ist, wo das Material zu keiner eindeutig-antizipierbaren Schülertätigkeit auffordert und Aktivität von der Lehrperson erforderlich sein könnte, um ihr Unterrichtsthema zu klären, markiert sie wörtlich und dokumentarisch – man beachte die Fülle der Fragen – Hilflosigkeit und Unsicherheit: An ihren beschreibenden und bewertenden Aussagen zum Unterrichtseinstieg – sie „nimmt“ (Z. 435) dafür ein für sie thematisch passendes, „toll gewählte[s]“ Gedicht von Helme Heine, „wo er halt in die Welt rausgeht und wo in verschiedenen Strophen die einzelnen Sinne eben genannt sind und was man da alles machen kann mit den Sinnen“ – wird dies besonders deutlich:
„Und dann frag ich mich immer, was will ich jetzt mit diesem Gedicht erreichen, also was will ich jetzt da in der Stunde, was stell ich danach für ‘ne Frage an die Kinder? Was will ich jetzt von denen wissen? Ob sie sich vorstellen können, worum es jetzt in der Stunde geht? Da denken die vielleicht, es geht um ein Gedicht. Ja, also das ist für mich sehr schwer, anhand meines toll gewählten, für meine Begriffe toll gewählten Einstiegsmaterials dann irgendwie, was wünsch ich eigentlich von den Kindern mit diesem Gedicht zu erreichen. Was ich bis jetzt immer noch nicht weiß. Ich find es gut und es passt bestimmt und es gibt genau das Thema. Aber ich weiß jetzt nicht, wie ich die Kinder da hinführe, dass sie mir sagen, genau das sagen, was ich hören will. Ob ich im Vorhinein, bevor ich das Gedicht vortrage, dann irgendwie einen Input gebe oder einen Impuls: Also passt besonders darauf auf, wenn ich euch das vorlese, weil da will ich dann danach eine Frage dazu stellen oder irgendwie. Also, da bin ich mir noch total unschlüssig, weiß ich nicht, was ich damit mache.“ (Z. 435-452)
Fußnoten:
(1) Gemeint ist die fachbegleitende Lehrkraft an der Ausbildungsschule.
(2) Der mechanische Arbeitsbegriff definiert Arbeit als Produkt aus der aufgewendeten Kraft entlang eines Weges und der zurückgelegten Wegstrecke.
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