Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Dokumentation einer Fallarbeit – Carolin (1)
Die zehnjährige Carolin ist ein aktives Kind, sie lässt sich begeistern und hat Lust auf die Mathematikaufgaben, die ich ihr für das Lerntraining mitbringe. Sie malt und bastelt gern und ist ausgesprochen fantasievoll. Worin bestehen ihre Lernprobleme, warum fällt ihr Rechnen so schwer?

Ausgangssituation
Carolin konnte zu Beginn des Lerntrainings im Zahlenraum bis Zehn fehlerfrei addieren und subtrahieren, sowohl beim Kopfrechnen als auch bei schriftlichen Verfahren. Beim Zehnerübertrag im Kopf tat sie sich dagegen schwer. Auch wenn sie sich anstrengte, kam sie oft zu falschen Ergebnissen. Das war bei der Addition wie Subtraktion so. Die schriftlichen Verfahren der Addition und Subtraktion fielen ihr etwas leichter. Von den Einmaleins-Reihen beherrschte Carolin etwas mehr als die Hälfte. Bei Divisionsaufgaben war sie sehr unsicher. Gleich in den ersten Lerntrainingsstunden hat sie mir aus dem Mathematikunterricht Plus- und Minustabellen gezeigt, in denen jeweils die dritte Zahl ergänzt werden sollte. Es musste dabei addiert oder subtrahiert werden. Carolin hatte bei beiden Rechenvorgängen Probleme beim Zehnerübertrag. Mal zählte sie mit den Fingern ab, mal riet sie. Offenbar verfügte sie über keine verlässliche Methode, um diese Aufgaben anzugehen. Hinzu kam, dass Carolin die Rechenoperationen im Zahlenraum bis zehn zwar fehlerfrei ausführen konnte, sie jedoch noch nicht so automatisiert abliefen, wie es für weiterführende Aufgaben not-wendig wäre. Ich vermute, dass Carolins Unlust, sich in Mathematik bei bestimmten Aufgaben anzustrengen, damit zusammenhing, dass sie die basalen Rechenschritte des Auf-Zehn-Ergänzens und Auf-Zehn-Reduzierens nicht beherrschte. Aus dieser Rechenunsicherheit heraus resultierte ihr unstrukturiertes Vorgehen bei Aufgaben mit Zehnerübertrag. Dabei würde ich nicht sagen, dass sie kognitiv dazu nicht in der Lage gewesen wäre. Vielmehr war es so, dass Unlust, fehlende Ausdauer und mangelnde Aufmerksamkeit aufgrund der geschilderten Lücken im Laufe der Zeit entstanden waren und sich verfestigt hatten.

Zur Situation im Lerntraining
Zu Beginn der Lerntrainingsstunden ist sie meist selbst motiviert und hat den richtigen Schwung, mit den Aufgaben zu beginnen. Vor allem wenn sie aus einer größeren Anzahl von Aufgaben selbst eine Auswahl treffen darf, verfügt Carolin über eine hohe intrinsische Motivation. Kommt sie innerhalb des Lösungsvorgangs dann aber an einen schwierigen Punkt, möchte sie die Aufgabe am liebsten abbrechen. Sie zeigt insgesamt eine geringe Anstrengungsbereitschaft und wenig Ausdauer. Ihre anfängliche Lust lässt nach und damit auch ihre Aufmerksamkeit. Sie würde dann am liebsten etwas anderes machen. Wenn sie allein arbeitet, tut sie das vermutlich auch häufiger. Wären andere Kinder mit im Raum, so wie während des Unterrichts, würde sie sich in diesem Moment leicht ablenken lassen. Da wir im Lerntraining an diesem Punkt die Aufgabe nicht abbrechen und auch keine Ablenkung von außen da ist, habe ich beobachtet, dass sie die Aufgabe dann sehr unstrukturiert fortführt. Neben den geschilderten Lernproblemen ist mir aufgefallen, dass Carolin eine Tendenz zum Kleinkindsprechen hat. Besonders wenn ihr Aufgaben zu schwierig werden und sie die Lust verliert, verfällt sie in diesen Tonfall. Möglicherweise denkt sie, durch sprachliches Regredieren ließe sich das Maß an Anforderungen mindern.

Zum Lernzuwachs
Im Laufe des Lerntrainings ist Carolin durch wiederholtes Üben des Zehnerergänzens wesentlich sicherer in dieser grundlegenden Rechenoperation geworden. Erreicht haben wir dies mit Hilfe zweier selbst gebastelter, wenn auch nicht selbst erfundener Übungsmaterialien, der „Rechen-streichholzschachtel“ und den „ Verliebten Herzen“. Das erst genannte Material besteht aus einer mit 10 Pfefferkörnern gefüllten Streichholzschachtel, in deren Mitte wir einen Pappstreifen geklebt haben, so dass die Schachtel nun eine halb durchgezogene Trennwand besitzt. Schüttelt man die Streichholzschachtel, verteilen sich die Pfefferkörner auf deren rechte und linke Kammer. Wenn Carolin die Streichholzschachtel nun zur Hälfte bis zur Trennwand aufzieht und vier Pfefferkörner sieht, muss sie überlegen, wieviel Pfefferkörner sich in der anderen Kammer befinden. Sie muss 10-4 = 6 rechnen. Durch vollständiges Öffnen der Streichholzschachtel kann das Ergebnis leicht selbst überprüft werden. Die Rechenstreichholzschachtel eignete sich gut, um allein damit zu arbeiten und die Ergebnisse selbstständig zu kontrollieren. Ein weiteres Übungsmaterial zu diesem Thema, das ich eingesetzt habe, waren die „ Verliebten Herzen“. Es handelte sich um zehn Klappkarten, die jeweils aus zwei Herzen bestanden. Carolin sollte nun auf ein Herz eine Zahl schreiben und auf das andere den Partner, so dass sie zusammen 10 ergaben. Als alle Klappkarten mit Zahlenpaaren versehen waren, konnte damit in ähnlicher Weise gerechnet werden wie mit der Rechenstreichholzschachtel, indem man ein Herz aufklappt, die entsprechende Zahl auf 10 ergänzt und durch Aufklappen des anderen Herzens selbst überprüfen kann, ob man richtig gerechnet hat. Mit zunehmender Sicherheit konnte dieser Rechenvorgang im weiteren Verlauf des Lerntrainings auf höhere Zahlenräume (20, 30 bis 100) übertragen werden.

Nach dem Blockpraktikum hat sie mit ihrer zunehmenden Sicherheit bei Additions- und Subtraktionsaufgaben auch Divisionsaufgaben durch schrittweises schriftliches Zerlegen der Zahl lösen können. Diese halb-schriftliche Strategie ist typisch und wird auch von anderen Kindern in diesem Alter angewendet. Dabei ist Carolin auch der Zusammenhang zwischen Multiplikations- und Divisionsaufgaben bewusst geworden. Über mehrere Lerntrainingssitzungen haben wir dann gemeinsam eine Art Brettspiel entworfen, bei dem zwei Spielfiguren als Ziel eine Eisdiele erreichen müssen. Das Spiel war zu Ende, wenn alle die Eisdiele und eine gewisse Punktzahl erreicht hatten, die in Euro umgerechnet wurde. Um die Anzahl der Eiskugeln zur errechnen, musste der Betrag durch den Preis für eine Kugel geteilt werden. Erstaunlich war, dass Carolin, die sich bei Divisionsaufgaben sonst schwer tat, mit ihrer Zerlegungsstrategie in kurzer Zeit das Ergebnis nennen konnte. Ich überprüfte ihre Rechenfertigkeit, indem ich ihr andere Aufgaben gab, die sie ohne Probleme zu lösen wusste.

Perspektive
Carolin tut sich beim Bearbeiten von Aufgabenformaten, die einen Lebensbezug oder eine spielerische Komponente aufweisen, leichter als mit traditionellen Mathematikaufgaben. Ich denke, dass sie diese Vorliebe im Unterricht zu ihrem Vorteil nutzen kann, wenn entsprechend anregende Aufgabenformen angeboten werden. Bei Arbeiten in der Schule, aber auch in anderen Bereichen, die für sie auf den ersten Blick nicht lustvoll erscheinen, wird sie mit zunehmendem Alter lernen müssen sich darauf einzulassen. Dabei ist es sinnvoll, nicht mit Druck zu reagieren, sondern sie von der Notwendigkeit der zu erledigenden Aufgaben zu überzeugen. Da sie ein ausgesprochen kreatives Kind ist, ist sie eher empfänglich für überraschen-de und ungewöhnliche Mittel.

Hinsichtlich ihrer geringen Anstrengungsbereitschaft wäre für Carolin wichtig, dass die Initiative, an schwierigen Stellen weiterzuarbeiten und nicht aufzugeben, zukünftig mehr von ihr ausgeht und sie nicht auf einen Impuls von anderen wartet. Nur so kann sie selbstständiger und selbstsicherer im Lösen von Aufgaben werden und ihre eigenen Erfolgserlebnisse haben. Während des Lerntrainings haben wir das ausprobiert und ich habe gemerkt, dass das für sie und für mich mit erheblich mehr Anstrengung verbunden ist. Für sie, weil sie ihre Unlust ohne Anfeuerung von außen selbst überwinden muss, und für mich, weil ich weniger eingreifen darf und mehr Geduld aufbringen muss. Vor allem fiel es ihr wie mir schwer, die in solchen Situationen zwangsläufig auftretende Missstimmung auszuhalten.

Zu mir als Lerntrainerin mit Blick auf meinen zukünftigen Beruf
Zu Beginn des Lerntrainings habe ich viel Verständnis für mein Lerntrainingskind aufgebracht und Geduld mit ihrem Problem der geringen Anstrengungsbereitschaft gehabt. Nach ungefähr drei Monaten merkte ich allerdings, dass ich an die eigenen Empathiegrenzen stieß. Da ich selbst im Lernen eigentlich nie Probleme habe, Lernhürden oder -widerstände aus eigenem Antrieb zu überwinden, empfand ich das Ausleben der Unlust, ohne gegen sie anzugehen, als ziemlichen „Luxus“. Ich zeigte wenig Verständnis dafür, dass es sich Carolin so einfach macht und war zunehmend genervt von ihr. Als mir bewusst wurde, dass wir in diesem Punkt sehr unterschiedlich sind, konnte ich ihr nach einiger Zeit wieder gelassener gegenüber treten. Mein Anspruch hatte sich nun dahingehend verändert, sie zwar weiterhin darin zu unterstützen, selbstständiger im Lernen zu werden, ihr aber nicht meine eigene Zielstrebigkeit überstülpen zu wollen.

Kommentar zur beschriebenen Fallarbeit

Der Auszug aus der Dokumentation der Fallarbeit verdeutlicht, wie die Studentin ihre Erfahrungen mit den Lernschwierigkeiten von Carolin in Form einer „dichten Beschreibung“ zu ordnen und interpretativ einzuordnen versucht (Geertz zit. in Heinzel 2003, S. 20). Zum einen gilt es zu verstehen, worin Carolins habituellen Probleme beim Lernen bestehen, wie sich diese in fachlichen Defiziten manifestiert haben und wie aus dem Teufelskreis von Unlust, Fachlücken und Misserfolgserleben weitere Vermeidungsstrategien erwachsen sind. Zum anderen sind die Studierenden aufgefordert, sich selbst als Lerntrainer mit ihrem Lerntrainingskind in Beziehung zu setzen, d. h. die Aufmerksamkeit auch auf sich selbst zu richten und das eigene Verhalten gegenüber dem Kind oder Jugendlichen einzuschätzen. Im vorliegenden Fall liefert die Studentin Erklärungsversuche für die Lernprobleme ihrer Schülerin, bevor im zweiten Schritt das eigene Verhalten als Lerntrainerin analysiert wird. Dabei kommen eigene innere Widerstände im Kontakt mit dem Lerntrainingskind zur Sprache. Petra Reddeck versucht zu verstehen, was mögliche Gründe für die eigene Ablehnung der Arbeitshaltung von Carolin sein könnten. Die Studentin findet schließlich einen Weg, das Mädchen weiterhin ohne handlungsbelastende eigene Affekte lernfördernd zu begleiten.
Wie ist die Studentin als Handelnde in der Situation des Lerntrainings vorgegangen? Im Sinne der könnensorientierten Lehrerforschung, die Lehrerwerden als einen aktiven, zielgerichteten Selbstlernprozess von angehenden wie praktizierenden Lehrern versteht, kann das Vorgehen von Petra Reddeck folgendermaßen charakterisiert werden: Die in der Dokumentation der Fallarbeit rekonstruierte Einschätzung deutet darauf hin, dass die Studentin zur Bewältigung der vorliegenden Probleme – Lernschwierigkeiten von Carolin, eigene Distanzierung von deren Lernhabitus – versucht, im Sinne „rekursiven Beobachtens“ eigenes handlungsleitendes Wissen zu entwickeln (Wallner zit. in Klement 2002, S. 90). Dabei geht es zunächst um das Einnehmen eines fremden Blicks auf die Situation, um den Kern des Problems erkennen und herausfiltern zu können. Die Studentin tritt in eine „reflektierende Konversation mit der Situation“ („the Situation talks back to you“) und entwickelt auf der Grundlage der Situationseinschätzung ein „Wissen in der Handlung“ (Schön zit. in Altrichter/Posch 1998). Dieses lokale Wissen entsteht in einem Zirkel von Aktion und Reflexion und wird gleichsam zu einer praktischen handlungsleitenden Theorie. Im Studium erworbenes theoretisches Wissen kann dafür einen Orientierungsrahmen liefern, etwa in Form bestimmter Wahrnehmungsmuster, es wird in der Handlungssituation aber nicht unmittelbar wirksam (vgl. Messner 2001, S. 14 f.)

Fußnoten
(1)  Hierbei handelt es sich um den Auszug aus der Dokumentation der Fallarbeit von Petra Reddeck, Grundschulstudentin im 4. Semester. Der Name der Schülerin wurde anonymisiert.
(2)  Die könnensorientierte Lehrerforschung ist seit den 70er Jahren mit dem englischen Erziehungswissenschaftler Stenhouse verbunden und wurde von seinem Schüler Elliott fortgeführt. Im Zentrum steht die Idee des Lehrers als Mitglied einer Profession, der sein berufliches Können durch systematisches Studium der eigenen Arbeit und der seiner Kollegen weiterentwickelt.

Mit freundlicher Genehmigung des Leipziger Universitätsverlages
http://univerlag-leipzig.de/catalog/article/656-Schulpraktische_Studien

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