Hinweis – Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:

 Einleitende Bemerkungen

[…] An unseren Forschungen, über die wir hier sehr selektiv berichten, wirkten Jugendliche im Alter von 11 bis 17 Jahren mit. Die Teilnehmer besuchten zum Zeitpunkt der Untersuchung unterschiedliche Schultypen. Im Folgenden beziehen wir uns auf eine einzige Gruppendiskussion, die im März 2000 von drei Gymnasiastinnen und einem Gymnasiasten im Alter von 13 bzw. 14 Jahren bestritten wurde. Die Diskussion fand in einem Raum einer katholischen Gemeinde statt, aus deren Jugendgruppe die Forschungspartner rekrutiert wurden. Zur Teilnahme meldeten sich die Jugendlichen freiwillig, als sie im Rahmen eines ihrer Treffen von dem Diskussionsleiter gefragt wurden, ob sie Lust hätten, sich zu je vier Diskutanden an einem Gruppengespräch zum Thema „Geschichte“ zu beteiligen. Die Teilnehmer besuchten damals die achte Klasse derselben Schule einer mittelgroßen Stadt im Südwesten Deutschlands. […]

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Jugendlichen verwenden mehrfach die Wörter „Sitten“, „Bräuche“ oder „Lebensstile“ und heben diesbezüglich auf tiefgreifende historische Differenzen ab. Gerade diese Andersheit erregt ihr spezielles Interesse, und zwar umso  mehr, als das Andere zum Fremden wird. Nicht zuletzt dieser Aspekt kann als Indikator für Modernität gelten. Die von Neugier und Interesse begleitete Erfahrung und Reflexion von Alterität und Fremdheit hat, wie oben dargelegt, noch keine allzu lange Geschichte. Die hier zu Wort kommenden Jugendlichen artikulieren solche Erfahrungen und Reflexionen, die ihre Empfänglichkeit speziell für das historisch Fremde dokumentieren. Das Textprotokoll ist reich an Beispielen für die Faszination vergangener Zeiten. Wie aus dem oben zusammengefassten Diskussionsverlauf hervorgeht, stellt etwa die  mittelalterliche Hexenverfolgung ein historisches Faszinosum dar.

Heide: Ja, okay. Die Hexenverfolgung find ich auch/
Achim: (((lachend))) find ich auch ganz toll ((alle lachen))/
Heide: ((betont)) interessant. Ja also was da so passiert ist, ist ja auch ganz schön sensationell. (Z.1743-1748)

Der Besitz von Sklaven in der römischen Antike bietet ein weiteres (nicht ganz so spektakuläres) Beispiel:

Miriam: Weil mit den Römern das warn ja schon ganz andre sozusagen Sitten und so und wenn man dann Sklave war, das kann man sich ja heute
auch schon schlechter vorstellen. (Z.140-143)

Die historisch verbürgte Existenz von Sklaven oder die mittelalterliche Hexenverfolgung ist nicht allein etwas, das im Vergleich zu heute bloß anders wäre. Es ist fremd. Mit BOESCH (1998, S.77) kann man davon ausgehen, dass „das Fremde […] nicht nur anders [ist], sondern auch unvertraut, und seine Unvertrautheit kann uns zugleich ängstigen wie anziehen.“ Die Schwierigkeiten, sich vorzustellen, wie es wohl gewesen ist, ein Sklave zu sein oder deutlicher: wie die Hexenverfolgung verlaufen ist und warum sie überhaupt stattgefunden hat, bilden eben nicht nur Schranken der Imagination und mehr noch des Verstehens, sondern auch einen permanenten Anreiz zur weiteren Beschäftigung. Miriam, Heide und die anderen Diskutanden bleiben ja nicht einfach bei der Feststellung von hermeneutischen Problemen stehen, sondern greifen im Verlauf der gesamten Diskussion immer wieder auf diese „schwierigen“ Themen zurück.

In vielerlei Hinsicht fremd ist wohl nicht zuletzt die NS-Vergangenheit. Das besondere an ihr ist, dass sie nun selbst die eigenen nächsten und vertrautesten Verwandten in ganz besonderer Weise zu Fremden macht, sie gewissermaßen der Gegenwart noch stärker „entrückt“ als dies eine andere Vergangenheit vermöchte. Dies liegt daran, dass sich bei manchen der Diskutanden beim Bedenken der Vergangenheit der eigenen Großeltern starke Zweifel bezüglich ihres Handelns in der Zeit des „Dritten Reiches“ einstellen, die die eben noch vertrauten und geliebten Menschen ins Zwielicht rücken. Hierfür sei noch ein letztes Beispiel lediglich angeführt:

Miriam: Ja ich denk auch irgendwie, wenn ich immer mit meinen Großeltern darüber rede, denk ich immer so, wie die schon so ausweichen, irgendwie als ((betont)) wüssten sie nichts dadrüber oder vielleicht wissen se ((betont)) wirklich nicht so viel, aber ich denk immer irgendwie die wollen ausweichen und mir das nicht erzählen, weil es ihnen/weil sie es selbst auch nicht hören wollen oder vielleicht weil sie es selbst nicht ((betont)) wahrhaben, daß sie da nichts gemacht haben oder daß sie sich nicht getraut haben zu helfen oder so. (Z.676-686)

Mit freundlicher Genehmigung des Forums Qualitative Sozialforschung.
http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/904
 

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