Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Beginn der Textlektüre – eine Falle der Abgeklärtheit“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wiederholungsphase – berufene Spontaneität“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Erklärungen der Schülerinnen und Schüler – Spiel als Ernstfall“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Lektüre des Basistextes – Was auf der Insel geschah …“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Besprechung des Textes: Wer ist wer? Wer macht was?“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Ein Arbeitsblatt: Verständnissicherung und Schlüsselworte“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Die Besprechung der Fragen – Situationsvorstellungen, Kontroversen, Analogien“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wie es weitergehen wird – die Sinnstruktur des Lehrers“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Analoger Transfer als Lernhemmnis? Fazit: Erkenntnisinteresse und offene Fragen“
Einleitende Bemerkungen
Es handelt sich um die erste Stunde einer Unterrichtseinheit „Jugend und Politik“, die am 23.10.1996 in der 2. Stunde (8.30 – 9.15 Uhr) stattfindet. Inhalt ist u. a. ein Textauszug (bzw. Textauszüge) aus dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding (vgl. Wochenschau Sek I, 6/1994). Thematisch geht es in dieser Stunde um Verhaltensweisen einer Jungengruppe, die auf sich gestellt ist.
Anwesend sind in alphabetischer Reihenfolge die Schülerinnen: Evin, Jane, Julia, Karmen, Karoline, Nadja, Petra, Renata, Sabine, Sandy, Susanne, Svantje sowie die Schüler: Christoph, Fernando, Klaus, Murat, Nick, Pascal, Paul, Oskar, Osman, der später kommt, Rolf, Ronald und Tim.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
[…][1]
Lehrer: so, Murat, können wir jetzt da Schluss machen mit der Mappe? [abnehmendes Gemurmel] wir fangen heute ein neues Thema an, und ich möchte heute euch ausdrücklich bitten, im Unterrichtsgespräch, wenn es nachher um Tragen geht, sich zu melden und nur was zu sagen, wenn ihr dran kommt, ich weise sonst noch mal darauf hin, dass wir jetzt so ein Schülerarbeitszimmer haben, und dann werdet ihr da halt alleine arbeiten müssen, Karoline möchte ich noch bitten, ihre Mütze abzunehmen, so, ich verteil jetzt einen Text beziehungsweise es äh, will jemand verteilen von euch? (SCH:??? Gemurmel – Evin: können sie selber machen), dann mach ich das selbst, und in der Zeit kann das gerne ein bisschen unruhig sein, weil das nämlich drei Seiten sind, [wird unruhig – der Lehrer mit lauter Stimme] und danach möchte ich jemanden bitten, [der Lehrer lauter ->] danach hab ich gesagt, soll das unruhig werden und nicht davor, (SCH-Lachen: hohobo) danach möchte ich gerne jemanden bitten, am liebsten würd ich S van je bitten, weil die so schön lesen kann, wenn sie damit einverstanden ist, den Text einmal (Murat: wir wissen doch noch gar nicht, was unser neues Thema ist) vorzulesen, ja, so
Der Lehrer ergreift das Wort. Er markiert mit „so“ einen Einschnitt und fokussiert die Aufmerksamkeit auf sich. Vorher ging es vermutlich um etwas anderes. Er nennt den Schüler „Murat“ beim Namen. Soll Murat nun drankommen oder gibt es einen anderen Grund dafür, dass gerade dieser Schüler beim Namen genannt wird? Der Lehrer fährt unvermittelt fort und fragt: „können wir jetzt da Schluss machen mit der Mappe?“. An der Äußerung irritiert, dass der Lehrer sich semantisch mit „können wir“ in eine Handlung einbezieht, an der er vermutlich nicht selbst direkt beteiligt ist.
Die Setzungen „wir jetzt da“ können räumlich nicht genau lokalisiert werden, sie können letztlich auch nicht konkreten Personen zugeordnet werden. Die Adressaten bleiben anonym.
Denkbar ist, dass der Schüler Murat mit einer Mappe beschäftigt ist und er deshalb direkt angesprochen wird. Denkbar ist auch, dass Murat aus anderen Gründen angesprochen oder etwa ermahnt wird und darüber hinaus Schüler oder Schülerinnen (noch) mit einer Mappe bzw. ihren Mappen beschäftigt sind. Befremdend bleibt, dass der Lehrer von „wir“ spricht, obschon er offenbar „ihr“ (oder mit Blick auf Murat „du“) meint. Möglich bleibt auch, dass Murat drankommen soll, dem vorläufig aber noch nicht stattgegeben werden kann, weil noch nicht alle bei der Sache sind.
Auffallend ist, dass die Frage eine Zielbestimmung („Schluss machen“) enthält. Anzunehmen ist, dass der Lehrer eigentlich schon weiß, was er will: Die Mappe bzw. Mappen sollen beiseite gelegt werden. Man kann sich an dieser Stelle fragen, was den Lehrer dazu veranlasst, sein Ansinnen in der sprachlichen Form vorzubringen:
• Möchte er freundlich-zurückhaltend eine direktive, imperative Anweisung vermeiden?
• Versucht er die Situation, indem er eine Anweisung in eine Frage kleidet, zu entdramatisieren?
Zum einen könnte man sagen, der Lehrer wendet sich den Schülerinnen und Schülern persönlich zu und signalisiert ihnen gleichzeitig, was sic zu tun haben. Zum anderen scheint die Lehreräußerung aber auch ambivalent strukturiert: Er wendet sich dem Schüler Murat und möglicherweise auch anderen zu („können wir“ als sprachliche Form mit persönlichem Bezug) und nimmt gleichzeitig direktiv den Abschluss einer Handlung vorweg („Schluss machen“ als Inhalt, Botschaft).
Die Eigenart einer solchen Ansprache scheint vor allem darin zu liegen, dass der Lehrer Murat persönlich und zugleich stellvertretend für den anderen Teil der Klasse (,,wir“) anspricht.
Kurzum:
Der Lehrer versucht, bevor er fortfährt, einige Bedingungen zu klären (siehe dazu auch weiter unten – nach dem Beginn der Textlektüre). Seiner Aufmerksamkeit ist nicht entgangen, dass noch eine Mappe oder mehrere Mappen im Spiel sind. Er hat die Schulklasse und Einzelne im Blick. Alle sollen ihm aufmerksam folgen und die Mappe soll nicht länger von dem geplanten Geschehen, von einer beabsichtigten Handlung, ablenken. Signalisiert wird, dass gleich etwas geschieht, das absolute Aufmerksamkeit erforderlich macht.
Was hätte der Lehrer sonst tun können?
• Er hätte fragen können, was es mit der Mappe/den Mappen auf sich hat.
• Er hätte sein Anliegen, seine Bitte mit konkretem Adressatenbezug Vorbringen können.
• Er hätte ignorieren können, dass irgendwer noch mit der Mappe beschäftigt ist.
Aber offenkundig gehört die Herstellung von Aufmerksamkeit und Konzentration ermöglichenden Bedingungen zu den Voraussetzungen, auf die der Lehrer im Unterricht zumindest in der Einstiegsphase besonders achtet, was durchaus dem Normalfall von Unterricht entspricht.
Der Hinweis, dass das Gemurmel abnimmt, scheint die Interpretation der stellvertretenden Ansprache des Schülers Murat für die Schulklasse zu bestätigen. Der Lehrer fährt mit einer Ankündigung fort: „wir fangen heute ein neues Thema an“. Er leitet wieder mit „wir“ ein, spezifiziert auch hier eine „wir“-Gruppe nicht weiter, nennt keine Namen. Gemeinsam wird die „wir“-Gruppe heute mit einem neuen Thema beginnen. Wahrscheinlich ist, dass er sich und die Schulklasse meint. Er setzt dabei stillschweigend das Einverständnis der Schülerinnen und Schüler voraus. Der Lehrer inszeniert den Themenauftakt als gemeinschaftliches Anliegen. Dass etwas Bestimmtes geschehen wird, hat er also im Vorfeld entschieden. Um was es dabei konkret gehen wird, ist noch offen.
Die getroffene Ankündigung jedenfalls bedeutet für die Schülerinnen und Schüler, dass das vorangegangene Thema definitiv abgeschlossen ist und gleich mit etwas Neuem begonnen wird. Zu erwarten ist, dass der Lehrer als Nächstes darlegt, worin das neue Thema besteht, wie das neue Thema heißt. Möglich wäre auch, dass der Lehrer sich darüber mit den Schülerinnen und Schülern noch verständigen wird. Vielleicht macht er verschiedene Vorschläge, vielleicht sammelt er verschiedene Vorschläge der Schülerinnen und Schüler?
Der Lehrer fährt dann aber nicht damit fort, etwa das neue Thema zu nennen oder es mit den Schülerinnen und Schülern zu besprechen, sondern er wechselt auf eine andere Ebene (Metaebene). Ein vom Lehrer zunächst durchaus beabsichtigter Spannungsaufbau erfährt einen Abbruch. Doch schauen war zunächst, was es damit auf sich hat.
Der Lehrer richtet sich mit einem dringenden Anliegen an die Schülerinnen und Schüler: „und ich möchte heute euch ausdrücklich bitten“. Mit der zeitlichen Bestimmung „heute“, die der personalen Anrede „euch“ vorgeschaltet ist und dem verstärkenden „ausdrücklich“, ist auf eine besondere Situation hingewiesen. Dies kann damit zu tun haben, dass die Stunde aufgezeichnet wird. Der Lehrer kündigt, worum er bitten möchte, jedenfalls mit Nachdruck an und nimmt dann gleichsam vorweg: „im Unterrichtsgespräch, wenn es nachher um Fragen geht, sich zu melden und nur was zu sagen, wenn ihr drankommt“. Dem Lehrer, so lässt sich knapp fassen, ist daran gelegen, dass die Schülerbeteiligung in geordneter, in organisierter Weise abläuft.
Der Fachbegriff „Unterrichtsgespräch“ verweist auf eine bestimmte Verteilung des Rede- und Kommunikationsrechtes. Dabei soll es vermutlich, und dies ist eine weitere Einschränkung, um ein bestimmtes Thema gehen. Wenn sich die Schülerinnen und Schüler nicht gegenseitig aufrufen, bedeutet dies, in der vom Lehrer vorgetragenen Form, dass das Geschehen in seiner Hand bleibt
Als weitere Lesart bietet sich an:
Der Lehrer greift hier auf eine Erfahrung zurück. Er muss die Schülerinnen und Schüler nicht etwa zur Mitarbeit ermuntern. Vielmehr scheint es ansonsten (dies legen die Hervorhebungen „heute“ und „ausdrücklich“ nahe) eine potenzielle Bereitschaft zu geben, sich spontan zu äußern. Der Lehrer möchte einer Entgrenzung des ritualisierten Ablaufmusters von Meldung und Drankommen vorgreifen.
Im Vorgriff auf den späteren Verlauf, bei dem es um Fragen gehen wird, verknüpft der Lehrer eine Bitte mit konkreten Handlungsanweisungen, er appelliert mit Regelungen (melden und nur dann sich zu äußern), die in einem 8. Schuljahr als bekannt vorausgesetzt werden können. Es muss einen Grund geben, weshalb er an dieser Stelle darauf so nachdrücklich eingeht, möglicherweise möchte der Lehrer eine gute Aufnahmequalität garantieren.
Die nächsten Äußerungen deuten aber darauf hin, dass es für diesen Einschub offenbar noch andere Gründe gibt. Der Lehrer zeigt sanktionierende Maßnahmen an, die er – wie beiläufig – mit den Worten: „ich weise sonst noch mal darauf hin“ einführt. Er muss also bereits zu einem früheren Zeitpunkt auf etwas hingewiesen haben, das gleich folgen wird. Er erläutert dann, „dass wir jetzt so ein Schülerarbeitszimmer haben, und dann werdet ihr da halt alleine arbeiten müssen“. Dabei handelt es sich offenbar um eine neue schulische Einrichtung, möglicherweise gedacht als eine Rückzugszone für Schülerinnen und Schüler, die in Ruhe arbeiten möchten, die überdies für pädagogische Maßnahmen genutzt werden kann. Der Lehrer spricht eine Drohung aus, die darin besteht: „halt alleine arbeiten“ zu müssen. Damit ist gleichzeitig das besonders Abschreckende der sanktionierenden Maßnahme signalisiert.
Die besondere Wirksamkeit der Drohung scheint für den Lehrer in der Isolierung, in einem Ausschluss, in einer Ausstoßung aus der Gemeinschaft zu bestehen. Wie aber denken die Schülerinnen und Schüler darüber? Geht ihnen die Androhung persönlich nahe? Wie nehmen sie die Androhung auf? Wird die Androhung im Laufe des Unterrichts „vollstreckt“? Und: Welche Erfahrungen haben Lehrer und Schülerinnen und Schüler miteinander? Es gibt offenbar einen Erfahrungshintergrund, der es dem Lehrer notwendig erscheinen lässt, bevor er zum neuen Thema überleitet, drastische Maßregelungen anzukündigen.
Insgesamt betrachtet bringt der Lehrer sich sowie die Schülerinnen und Schüler um die Möglichkeit, den erzeugten Spannungsaufbau (die Neugierde auf das neue Thema) produktiv zu nutzen. Dabei lässt sich folgende Paradoxie beschreiben:
Bevor das Thema genannt wird und entsprechende Assoziationen sich entfalten können, wird eine gelenkte Form der Schülerbeteiligung als Regel eingeführt. Diese Botschaft läuft auf eine kontrollierte Form der Schülerbeteiligung hinaus.
Hier zeigt sich ein wichtiger Bezug zu der Frage danach, in welchen Formen, Arrangements usw. der Politikunterricht für die Schüler und Schülerinnen bedeutsame Lernkontexte aufzugreifen vermag bzw. – wie es sich hier anbahnt – ausblendet. Der (rituelle) Auftakt der Stunde unterläuft als institutionalisiertes Interaktionsmuster die Entfaltung eines spontanen Zugangs, ein spontan am Sachverhalt wachsendes Interesse.
Der Lehrer fährt aber nun zunächst mit dem Versuch des Aufbaus einer Interaktionsordnung fort. Er fordert die Schülerin Karoline indirekt auf („Karoline möchte ich noch bitten“), ihre Mütze abzunehmen. Warum spricht er sie nicht direkt an? Warum darf sie die Mütze nicht aufbehalten? Wiederum wird einem geordneten Ablauf große Aufmerksamkeit geschenkt.
Der Lehrer markiert wieder einen Einschnitt („so“) und verkündet: „ich verteil jetzt einen Text“. Er hat also etwas Konkretes vorbereitet. Die Aussicht, mit den Schülerinnen und Schülern über mögliche Themen zu reden, kann daher kaum mehr in Betracht gezogen werden. Es ist immer noch nicht klar, um was es thematisch, inhaltlich gehen wird, so gesehen wird wieder Spannung erzeugt und aufgebaut. Aber klar ist: Der Lehrer hat sich schon für einen Text entschieden, den er vorhat auszuteilen.
Sogleich korrigiert er sich: „beziehungsweise es äh, will jemand verteilen von euch?“ Vonseiten mehrerer Schülerinnen und Schüler ist Gemurmel zu hören. Evin äußert sich deutlich: „können sie selber machen“. Die Schülerinnen und Schüler gehen auf das plötzliche Angebot nicht ein, niemand will offenbar den Text verteilen. Möglicherweise wollen sie keine Hilfstätigkeit übernehmen. Vielleicht erwägen sie auch ganz pragmatisch, dass es zügiger vorangehen soll.
Der Lehrer fährt, seine vorherigen Ermahnungen relativierend fort: „und in der Zeit kann das gerne ein bisschen unruhig sein, weil das nämlich drei Seiten sind“. Warum macht er dieses Angebot? Sollen die Schülerinnen und Schüler – bevor es richtig losgeht – noch einmal miteinander und durcheinander reden können, wie es ihnen beliebt? In die nun entstehende Unruhe hinein kündigt der Lehrer eine spätere Handlung an. Er spricht lauter „und danach möchte ich jemanden bitten“. Noch lauter schließt er an „danach hab ich gesagt, soll das unruhig werden und nicht davor“. Das hatte er so nicht gesagt. Ein Schüler scheint sich über die Situation zu belustigen: „hohoho“. Der Lehrer schließt an seine vorletzte Äußerung an: „danach möchte ich gerne jemanden bitten, am liebsten würd ich Svantje bitten“. Er begründet sein Vorhaben damit, „weil die so schön lesen kann, wenn sie damit einverstanden ist, den Text einmal (…) vorzulesen, ja, so“. Soll Svantje die Möglichkeit haben, das Ansinnen des Lehrers abzulehnen? Zwischendurch interveniert Murat: „wir wissen doch noch gar nicht, was unser neues Thema ist“ (siehe unten).
Die Situation ist also gekennzeichnet von paradoxen Handlungsanweisungen: Der Lehrer initiiert unklare Abläufe. Zunächst bemüht er sich um die Verankerung einer Interaktionsordnung und behält sich die Regie des Geschehens vor. Zugleich will er den Schülerinnen und Schülern entgegenkommen, während er die drei Seiten austeilt, können sie sozusagen noch einmal richtig Dampf ablassen. Er ist aber, was die Schülerinnen und Schüler nicht ahnen können, mit seiner Ansage noch nicht fertig und wird dann laut und rigoros, damit das, was er noch zu sagen hat, nicht in der aufkommenden Unruhe untergeht.
Von gleicher Ambivalenz ist die Sequenz, wer vorlesen soll. Svantje wird mehr oder weniger überrascht und überrumpelt. Eingekleidet in eine konjunktivische Formulierung („am liebsten würde ich“), die Offenheit suggeriert, bestimmt er Svantje zum Vorlesen. Die Begründung für seine Entscheidung („weil die so schön lesen kann“) ist einerseits ein Lob, eine Aufwertung, andererseits wird Svantje damit unter Druck gesetzt.
Die Irritation verschärft sich dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler noch nicht wissen, um was es inhaltlich bei dem „Text“ gehen wird. Mittlerweile ist klar, der Lehrer hat die weiteren Schritte vorbereitet. An dieser Stelle protestiert Murat: „wir wissen doch noch gar nicht, was unser neues Thema ist“. Er äußert sich hier stellvertretend für alle und liefen einen Hinweis zur Unterrichtsorganisation, denn üblicherweise werden Themen vorweg benannt. Er klinkt sich mit dieser Frage unaufgefordert in die Gestaltung des Unterrichts ein. Ist Murats Einlassung eine Reaktion auf einen Überhang an Anweisungen? Nimmt der Schüler den Fremdzwang wahr, die bloße Rezipienten- und Ausführungsrolle, die den Schülern hier zugewiesen wird? Schwingt da auch noch Enttäuschung über den Spannungsabbau mit? Sinngemäß klagt Murat ein, dass man die Schülerinnen und Schüler nicht einfach übergehen kann, sie nicht einfach im Ungewissen lassen kann, sie nicht für „unmündig“ halten kann.
Der Lehrer geht auf Murats Äußerung nicht näher ein. Dies kann verschiedene äußere Gründe haben:
• Es soll weiterhin spannend bleiben.
• Er will keine weiteren Vorgaben machen.
• Murat hat (ohne dranzukommen) reingerufen, und der Lehrer misst dieser inoffiziellen Äußerung keine Bedeutung bei.
Zusammengefasst
Deutlich wird, dass der Lehrer den Themenauftakt vom Ablauf her kompliziert gestaltet. Einfälle, die seine eigenen Handlungen und Ankündigungen durchkreuzen, äußert er spontan, die Schüler und Schülerinnen sollen dies aber offenbar nicht tun. Er erzeugt damit diffuse Situationen, bei denen nicht ohne weiteres klar ist, wer gemeint ist, wer sich angesprochen fühlen soll und was als Nächstes geschieht bzw. geschehen soll. Der Lehrer versucht, einen geregelten Unterrichtsverlauf zu sichern. Dabei wirkt sich die Art und Weise, wie er den Themenauftakt gestaltet, als Spannungsabbruch aus.
Der Lehrer scheint grundsätzlich bemüht, die Schülerinnen und Schüler miteinzubeziehen, immer auch für sie bzw. für einzelne Schülerinnen und Schüler mitzudenken, sie anzusprechen, ja er deutet und spricht für sie (Einzelne sollen nicht übergangen werden, die Zettel können auch von den Schülerinnen und Schülern ausgeteilt werden, sie können zwischendurch lauter werden) (vgl. Oevermann 1996, mehr dazu siehe im folgenden Kapitel). Doch selber und offiziell kommen sie nicht zu Wort. Ihr Beitrag ist gewünscht, aber er soll kalkulierbar bleiben.
Was auf dem Spiel steht, kann vorläufig mit dem Begriff Gesprächskultur gefasst werden: Der Lehrer will zwar ein Unterrichtsgespräch initiieren, unterstellt aber den Schülern eine (noch) fehlende Gesprächs- und Argumentationskultur. Solange die nicht vorhanden ist, sollen die Regeln des Gesprächs durch autoritative Hinweise des Lehrers, qua Drohung und Sanktion, gesichert werden. Die Regeln werden gesetzt, nicht gemeinsam entwickelt oder verabredet (zumindest bis zu dieser Stelle). Kurz: Das, was gleiche Kommunikationsrechte für alle verspricht – ein Gespräch wird berufen, aber zugleich eingeschränkt (vgl. Bourdieu 1990, mehr dazu siehe im folgenden Kapitel).
Von der Form fokussiert dieser Anfang um den Sachverhalt der Mündigkeit. Für die Auftaktsituation erweist sich die Verteilung von Rede- und Kommunikationsrechten als besonders problematisch. Hier werden Rollen und Beteiligungsrechte zugeschrieben, zu denen es aus Sicht des Lehrers offenbar (noch) keine Alternativen gibt.
Hier zeigt sich in besonderer Schärfe das Auftakt- bzw. Anfangsproblem jeder Unterrichtsstunde, das darin besteht, ein Thema so zu exponieren, dass Lernende wie Lehrende selbst in den Sog eines Problems geraten und gemeinsam nach ertragreichen Lösungen suchen.
An der Stelle ist allerdings festzuhalten, dass es sich noch nicht um ein fachspezifisches Problem handelt. Inwiefern die Fachperspektive Politik von dem hier vorliegenden Versuch zur Kontrolle der Interaktionsdynamik berührt wird, wird sich im weiteren Verlauf der Stunde zeigen.
Alternativen zu diesem Anfang wären aus Sicht des Lehrers riskantes Handeln, riskant, weil sich eine schwer zu kontrollierende Interaktionsdynamik entwickeln könnte. Dabei muss in Betracht gezogen werden, dass es sich hier um einen Stundenanfang im Sinne eines überkommenen Typus der Wissensvermittlung handelt. Der Lehrer folgt dem Selektionsmuster des Stundenhaltens (vgl. Rumpf 1996). Wissens- und Handlungsanforderungen werden hier tendenziell mit normativem Druck und Vorgaben vonseiten des Lehrers vermittelt. Die Abwehr und der Widerstand gegenüber diesem normativen Druck (wie er in der Intervention Murats zum Ausdruck kommt) kann nicht in das Handlungsschema dieses Anfangs integriert werden. Die Schülerinnen und Schüler haben sozusagen keine eigenen Rechte. Es ist der Lehrer, der die Bedingungen setzt und klärt. Summa summarum: Dieser Anfang und Auftakt der Unterrichtsstunde folgt dem Prinzip der verordneten Autonomie (vgl. Combe/Helsper 1994, 164ff.; vgl. Helsper 1996).
Was aber wären offene oder offenere Anfänge, in denen die eine Seite sich nicht über die Eigenheit, die Rechte und die Würde der anderen Seite hinwegsetzt, in denen die Transformation der Schülerrolle nicht nur berufen oder protestierend angebahnt wird? Wo beide Seiten nicht unproduktiv in einem bestimmten (Vor-) Verständnis von der eigenen Rolle befangen bleiben?
Durch die Form der Auftaktszene zieht sich also eine bestimmte Qualifizierung und Sicht der Schülerrolle, die darin besteht, dass es vonseiten der Schülerinnen und Schüler ein natürlich-ungestümes Bedürfnis und den Drang gibt, sich mitzuteilen. Dies könnte aber in unübersichtliche Interaktionen münden, und die Situation scheint in dieser Klasse so dramatisch, dass es der Androhung bedarf, ausgeschlossen zu werden.
Worin könnten nun aber die ungestümen Schülerbeiträge bestehen?
• In unmittelbaren, spontanen, nicht steuerbaren Reaktionen?
• In Kommentierungen zum Unterrichtsgeschehen, zum Vorgehen, zur Interaktion, wie z. B. der intervenierende Hinweis von Murat (zu Metakommunikation vgl. Geulen 1989, 399ff.)
• In Fragen, Reinrufen usf., die sich auf vorliegende Inhalte und Thematisierungen beziehen?
Besteht für den Lehrer Anlass zur Sorge, dass dadurch Einzelnen verwehrt bleibt, ihre individuellen Beiträge zur Geltung zu bringen, dass sich Einzelne das Recht zu reden erteilen, ohne Rücksicht auf andere?
Zugespitzt lautet die Fragestellung, der im Folgenden nachgegangen wird: Inwiefern können sich die Schülerinnen und Schüler nach diesem Auftakt mit ihren Sichtweisen an dem Unterrichtsprozess beteiligen, welche Möglichkeiten ergreifen sie? Inwiefern gestalten die Schülerinnen und Schüler das Unterrichtsgeschehen dennoch mit?
Als Nächstes verteilt der Lehrer die Textvorlage an die Schülerinnen und Schüler (siehe Anhang A). Sie ist folgendermaßen aufgebaut:
In Großschrift und unterstrichen steht vorweg die Überschrift: „Gemeinsam einsam“. Darunter folgt ein mehrzeiliger Text, in dem die Begriffe „zivilisatorische Ordnungsprinzipien“ unterstrichen sind, in kleiner Schrift ist darauf verwiesen, dass dies dem „Vorwort“ aus William Goldings „Herr der Fliegen“ entnommen ist usf. In einen Kasten gerahmt folgt eine „Worterklärung“ (im Original rechts unten am Rand) zu den Begriffen „Zivilisatorische Ordnungsprinzipien“. Unter der hervorgehobenen Überschrift „Was geschah?“ beginnt ein längerer Text, bei dem es sich um einen Auszug aus einer übersetzten Fassung des englischen Originals von Golding handelt.
Zur Vorlage diente dem Lehrer das Wochenschau-Themenheft „Jugend macht Politik“ (6/1994). Neben der Autorenschaft des Heftes und anderen Hinweisen hat er die Kapitelüberschrift „Und wann ist Politik im Spiel?“ weggelassen. Dass der Lehrer das Thema der Stunde – auch auf Nachfrage Murats (siehe oben) nicht nennt –, steht möglicherweise in Zusammenhang mit dieser von der ursprünglichen Form abweichenden Präsentation der Textvorlage. Soll das Thema der Stunde nun „Gemeinsam einsam“ lauten? Will der Lehrer diesbezüglich keine weiteren Vorgaben machen? Soll weiterhin spannend bleiben, was das Thema ist? Möglicherweise will der Lehrer die Schülerinnen und Schüler das Thema erarbeiten lassen.
Fußnoten:
[1] Transkriptionsregeln: […] Auslassung; [xxx] Kommentierung; ??? unverständlich; … Pause; (SCH: xxx) Zwischenrede; (xxx) undeutlich gesprochen; die Kommasetzung folgt dem Höreindruck.
[2] Schon um den Rahmen der Analyse nicht zu sprengen, wird nicht die gesamte Stunde analysiert. Es werden thematisch zusammenhängende Szenen/Passagen/Handlungen segmentiert, die Aufschlüsse hinsichtlich der vorab dargelegten Forschungsfragen vermuten lassen.
Literaturangaben:
Bourdieu, Pierre: Was heisst Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches. Wien 1990 (Original 1982)
Combe, Arno/Helsper, Werner: Was geschieht im Klassenzimmer? Perspektiven einer hermeneutischen Schul- und Unterrichtsforschung. Zur Konzeptualisierung der Pädagogik als Handlungstheorie. Weinheim 1994
Geulen, Dieter: Das vergesellschaftete Subjekt. Zur Grundlegung der Sozialisationstheorie. Frankfurt/Main 1989
Helsper, Werner Antinomien des Lehrerhandelns in modernisierten pädagogischen Kulturen. Paradoxe Verwendungsweisen von Autonomie und Selbstverantwortlichkeit. In: Combe, Arno/ Helsper, Werner a. a. O. 1996, S. 521-569
Oevermann, Ulrich: Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns. In: Combe, Arno/Helsper, Werner (Hrsg.): Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns. Frankfurt/Main 1996, S. 70-182
Rumpf, Horst: Abschied vom Stundenhalten. In: Combe/Helsper 1996 a. a. 0., S. 472-500
Wochenschau Heft 6/1994 Sek. I: Jugend macht Politik (Carla Schelle in Zusammenarbeit mit der Redaktion Wochenschau).
Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages. http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.htmlNutzungsbedingungen:
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