Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Auftakt und Ankündigung – (k)ein neues Thema“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Beginn der Textlektüre – eine Falle der Abgeklärtheit“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wiederholungsphase – berufene Spontaneität“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Erklärungen der Schülerinnen und Schüler – Spiel als Ernstfall“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Lektüre des Basistextes – Was auf der Insel geschah …“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Besprechung des Textes: Wer ist wer? Wer macht was?“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Ein Arbeitsblatt: Verständnissicherung und Schlüsselworte“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Die Besprechung der Fragen – Situationsvorstellungen, Kontroversen, Analogien“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wie es weitergehen wird – die Sinnstruktur des Lehrers“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Analoger Transfer als Lernhemmnis? Fazit: Erkenntnisinteresse und offene Fragen“
Einleitende Bemerkungen
Es handelt sich um die erste Stunde einer Unterrichtseinheit „Jugend und Politik“, die am 23.10.1996 in der 2. Stunde (8.30 – 9.15 Uhr) stattfindet. Inhalt ist u. a. ein Textauszug (bzw. Textauszüge) aus dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding (vgl. Wochenschau Sek I, 6/1994). Thematisch geht es in dieser Stunde um Verhaltensweisen einer Jungengruppe, die auf sich gestellt ist.
Anwesend sind in alphabetischer Reihenfolge die Schülerinnen: Evin, Jane, Julia, Karmen, Karoline, Nadja, Petra, Renata, Sabine, Sandy, Susanne, Svantje sowie die Schüler: Christoph, Fernando, Klaus, Murat, Nick, Pascal, Paul, Oskar, Osman, der später kommt, Rolf, Ronald und Tim.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Während Svantje vorgelesen hat, hat der Lehrer die Namen von sechs Romanfiguren an der Tafel notiert (Ralph, Piggy, Merridew, Jack, Roger, Henry). ln einem Schnelldurchgang mit teils suggestiven Fragen wie: „wer von den sechs ist sehr enttäuscht, dass er nicht zum Anführer gewählt wird?“ und „was kann man über Piggy sagen?“ notiert er Stichworte, die die Schülerinnen und Schüler nennen, an der Tafel (Ralph à Anführer; Piggy à intelligent; Jack à enttäuscht; Henry à Heimweh). Er entschließt sich also für ein an den Charakteren des Romans orientiertes Vorgehen. Die genannten Romanfiguren und ihre verschiedenen im Text angedeuteten Persönlichkeitsmerkmale (die Psychologie der Personen), ihre jeweiligen Rollen sind ihm offenbar besonders wichtig, sollen unterschieden werden. Vermutlich soll dadurch die Komplexität des Geschehens reduziert und den Schülern eine Strukturierungshilfe an die Hand gegeben werden.
Warum aber entschließt sich der Lehrer für dieses, an den Romanfiguren orientierte, Vorgehen?
• Will der Lehrer sichern, dass die Romanfiguren mit bestimmten persönlichen Eigenschaften identifiziert werden können?
• Geht es dem Lehrer darum, dass die Schülerinnen und Schüler aus ihrer Sicht einzelne Charaktere beschreiben?
• Sind die „Jungen vom Chor“, die außerdem im Text genannt sind, einfach zu unterschlagen?
• Welche anderen Möglichkeiten hätte es nach der Lektüre des Textes gegeben?
• Der Lehrer hätte gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern die weitere Vorgehensweise klären können.
• Der Lehrer hätte den Inhalt mit eigenen Worten wiederholen lassen können, um zu klären, was den Schülerinnen und Schülern wichtig ist und wie sie die Situation verstehen und deuten.
• Er hätte gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern Fragen, Eindrücke, Sichtweisen, Meinungen, Beurteilungen sammeln können, eine Art Metaplan als Merkposten aufstellen können zur Strukturierung des weiteren Vorgehens.
• Die weiter oben gemachten Schüleräußerungen von Petra und Tim (also die Aspekte: ohne Erwachsene, Anführer) hätten hier noch einmal herangezogen werden können, unter der Frage: Was erfährt man im Text darüber?
Aber fragen wir: Welche Möglichkeiten ergreifen die Schülerinnen und Schüler im weiteren Verlauf? Was ist ihnen bezogen auf die noch verbleibenden Romanfiguren Roger und Merridew wichtig? Zuletzt war für den Jungen Henry festgehalten worden, dass er Heimweh hat und nach Hause will.
[…]
Lehrer: sss (SCF1 weinerlich: ich will nach Hause) irgendeine Information über Roger
Osman: er ist dagegen
Oskar: er ist ein ruhiger Typ
Murat: nein [<- lang gezogen] er er will ja die Wahl (Sabine: ach so ich glaub, hier) (Lehrer: moment, (überleg mal) eh Murat) er beeinflusst ja die Wahl, er sagt ja, dass sie wählen sollen besser
Lehrer: können wir da noch mal nachgucken, wo steht das?
Murat: was weiß ich wo das jetzt steht
Lehrer: hervorragend hat Murat das nämlich rausgefunden, das steht auf Seite zwei, die eb (Nadja: zurückhaltend steht da – Evin: der ist zurückhaltend) die fünfte Zeile von unten [Unruhe] Murat liest du mal bitte vor, (Murat: wo ist die denn die fünfte Zeile von unten) tsss Seite zwei, die fünfte Zeile von unten, Murat
Murat: er zögerte, meinen sie das (Lehrer: ja) er zögerte (Lehrer: wer zögerte? Moment) der dunkelhaarige Roger gab endlich seine Zurückhaltung auf
Lehrer: weiter
Murat: mehr steht da nicht
Pascal: am besten wir stimmen ab
Murat: ach so, am besten wir stimmen ab, (Lehrer: das wird schwierig) ja wir wählen unserm Anführer
Lehrer: wer sagt das, am besten wir stimmen ab?
Evin: dieser Roger
andere Sch: Roger
Murat: das ist ja in Anführungsstrichen
Lehrer: ja von daher hat Murat nicht ganz Unrecht, der Roger, der gibt sozusagen fast den, also (Reinrufe Osman: den Lauf – Rolf: ???) was könnt ich hier hinschreiben Osman?
Osman: ergibt den Lauf (Lehrer: er gibt den Lauf) zum Abstimmen
Lehrer: ja ergibt den Lauf, Christoph
Christoph: ??? den Vorschlag
Lehrer: ja find ich ein bisschen besser den Ausdruck Vorschlag
Osman: nix da, Lauf ist viel ???
Lehrer: jaa ich schreib das (in Klammern auf) aber das versteht man sonst so nicht ganz genau,
Ein Schüler/eine Schülerin setzt zunächst mit weinerlicher Stimme das Heimweh des Jungen Henry in Szene. Dabei handelt es sich offenkundig wieder um ein Beispiel für die vonseiten des Lehrers befürchteten spontanen und ungestümen Redebeiträge. Ist dies nicht gleichsam ein Versuch, sich unmittelbar und emotional die Lage des Jungen Henry vor Augen zu fuhren? Handelt es sich dabei nicht auch der Form nach um so genanntes szenisches Verstehen, also um eine Reaktionsweise, um Schülerspontanität, die in diesem gesteuerten Unterrichtsgeschehen zu kurz kommt und sich dennoch eine Bahn bricht (Lorenzer 19954)?
Auf die Anfrage des Lehrers „irgendeine Information über Roger“ sagt Osman „er ist dagegen“, wobei unklar ist, worauf er sich bezieht. Oskar äußert, „er ist ein ruhiger Typ“. Dies folgert er offenbar aus dem Hinweis im Text, dass Roger „endlich seine Zurückhaltung“ aufgab. Murat setzt mit einem lang gezogenen „nein“ zu einer Gegenrede an. Er äußert sich weitgehender und weist darauf hin, dass Roger derjenige ist, der „die Wahl“ initiiert. Der Lehrer drängt darauf, noch einmal nachzugucken, „wo steht das“. Murat antwortet flapsig: „was weiß ich wo das jetzt steht“. Der Lehrer lobt Murat, „hervorragend“ habe er „das nämlich rausgefunden“, und verweist dann selber auf die Textstelle, die Murat für alle laut vorlesen soll.
Deutlich wird, dass, nachdem Murat einen aus Lehrersicht inhaltlich bedeutungsvollen Aspekt dargelegt hatte, die Überprüfung anhand des vorliegenden Textes sich in verwirrender Wechselrede gestaltet. Dabei tauchen neue Fragen auf. Die in Anführungsstrichen stehenden Äußerungen können z. B. nicht ohne weiteres bestimmten Personen zugeordnet werden.
Der Lehrer fasst dann seinerseits zögerlich zusammen: „der Roger, der gibt sozusagen fast den, also“, er scheint selbst unschlüssig und fragt: „was könnt ich hier hinschreiben?“. Er nimmt Osman dran, der bereits reingerufen hat und nun ausformuliert: „er gibt den Lauf zum Abstimmen“. Der Lehrer reformuliert zwischendurch „er gibt den Lauf“, bestätigt mit „ja“, wiederholt dies noch einmal und nimmt Christoph dran. Christoph bringt den Begriff „Vorschlag“ ein, diesen „Ausdruck“ findet der Lehrer „ein bisschen besser“. Osman insistiert auf seine Formulierung. Der Lehrer notiert an der Tafel „Vorschlag“ und in Klammern „(Lauf)“. Er berücksichtigt auch die irritierende Formulierung Osmans.
Während Osman und Oskar zunächst aus den Informationen im Text schließen, dass Roger „dagegen“ ist bzw. „ein ruhiger Typ“ ist, scheint Murat weniger an der Romanfigur als vielmehr an dem Interaktionsgeschehen orientiert zu sein. Dass es der, wie es im Text heißt, „dunkelhaarige Roger“ ist, der „endlich seine Zurückhaltung“ aufgab, wird nun auch für den Lehrer zweitrangig. Für Murat ist in Zusammenhang mit der Romanfigur Roger entscheidend, dass dieser die Initiative zu der das weitere Vorgehen der Jungen bestimmenden Handlung (nämlich abzustimmen) gibt und damit die vorher von Jack für sich reklamierte Anführerschaft zur Disposition gestellt wird. Möglicherweise wollte auch Osman darauf hinaus, wenn er sagt: „er ist dagegen“. Roger jedenfalls ist offenbar eine wichtige Romanfigur. Die Szene, auf die Murat sich bezieht, ist eine entscheidende Stelle in der Textpassage aus dem Roman. Die Sichtweise, die er aufmacht, erweckt die Aufmerksamkeit des Lehrers. Der Lehrer greift den Hinweis, der sein Konzept – nämlich zunächst die persönlichen Merkmale und Eigenschaften der Romanfiguren zu beschreiben – durchkreuzt, auf.
Bemerkenswert an dieser Phase der gemeinsamen Erarbeitung ist, dass mehrere Schülerinnen und Schüler beteiligt sind – und das ohne Meldungen! Daraus lässt sich schließen, dass das Reinrufen und Zurufen phasenweise niemanden zu stören scheint.
Es folgt der Anschluss an die Passage bzw. die Lehreräußerung vorher:
so können wir ganz kurz bei Merridew irgendwie sagen
Osman: ???
Oskar: war die Erste, die da war
Lehrer: Merridew?
(Murat): die fragt, ob da keine Erwachsenen sind, ich sag doch gar nichts???
Lehrer: kann mal jemand, ja, Nadja
Nadja: er war der Erste, der auf den Ruf der Muschel gekommen ist Lehrer, richtig
Oskar: das hab ich gesagt (querst)
Lehrer: und er stellt (SCH: oh Ossi) zwei ganz entscheidende Fragen, oder sagt was ganz Entscheidendes [Unruhe, wegen Oskar] Karmen, tsss (Karmen:???) nochmal laut Karmen
Karmen: er hat gefragt, ob keine Erwachsenen da sind
Lehrer: aha (Evin: ???) und Evin
Murat: und da
Evin: ??? hat schon
Murat: sie sagte, dann müssen wir uns selbst um uns selber kümmern Lehrer ja, was steigt das, wenn er sagt, es sind also keine Erwachsenen da (Murat: selbstständig) und dann sagt er, da müssen wir uns um uns selbst kümmern (Murat selbstständig) ja (Oskar: Merridew ??? Mädchen) was hat er da schnell erkannt?
(Evin): dass der (Lehrer: Evin) die auf sich selbstgestellt sind Lehrer: wie bitte
Evin: dass sie auf sich selbstgestellt sind Lehrer richtig Murat: (schlaues)
Lehrer: also der ist sicherlich eh (SCH: das ist ne sie) [Unruhe] ??? Merridew bat die Situation schnell erkannt, die Erwachsenen sind nicht da (Paul: schlau, intelligent), also müssen sich die Kinder um sich selbst kümmern, ja, so Pascal: dürfen wir den Film gucken (Tim: ja genau) abschlachten Murat: oh der Film ist richtig cool
Tim: wir müssen den Film gucken, damit (Lehrer: ja das mit dem) wir genau den Inhalt und alles mitkriegen
Lehrer: so, jetzt passt ganz gut der Wechsel, Bandwechsel
Als Nächstes geht es um die Romanfigur Merridew. Bevor der Lehrer Nadja aufruft, sagt Oskar: „war die Erste, die da war“. Offenbar gehen er und vermutlich Murat, der anschließt, „die fragt, ob da keine Erwachsenen sind […]“, davon aus, dass es sich bei Merridew um eine weibliche Person, ein Mädchen handelt. Warum? Möglicherweise, weil in Merridew der für Mädchen gängige und englisch ausgesprochen ähnlich klingende Namen Mary enthalten ist. Wie auch immer – mindestens für Oskar besteht Grund zu der Annahme, dass es sich bei der Romanfigur Merridew um ein Mädchen handelt (subjektive Deutung, Projektion). Das ist klärungsbedürftig, denn im Eingangstext ist die Rede von „Schuljungen“, und in dem Text, der nun besprochen wird, heißt es „Nach und nach kommen die Jungen zusammen“.
Obschon Nadja anders als Oskar von „er“ spricht und weitgehender als er ausführt: „der auf den Ruf der Muschel gekommen ist“, reklamiert Oskar den Beitrag für sich.
Der Lehrer, der Nadjas Beitrag als „richtig“ qualifiziert, gibt dann vor, dass Merridew „zwei ganz entscheidende Fragen“ stellt bzw. „sagt was ganz Entscheidendes“. Karmen, die wegen der Unruhe zunächst nicht zu verstehen ist, wiederholt laut: „er hat gefragt, ob keine Erwachsenen da sind“. Evin zieht offenbar einen Beitrag zurück, vermutlich weil, was sie sagen wollte, bereits gesagt ist. Murat vervollständigt: „sie sagte (meint er damit Evin oder geht er weiterhin davon aus, dass es sich bei Merridew um ein Mädchen handelt?) dann müssen wir uns selbst um uns selber kümmern“ – „selber“ fügt er hinzu, das steht nicht in der Textvorlage.
Das Erwachsenen-Thema wird also wieder aufgegriffen und führt diesmal nicht zur Belustigung. Auf dieser Ebene der Textbetrachtung lässt sich offenbar leichter (neutraler) darüber reden.
Die Aspekte „keine Erwachsenen“ und sich „selbst kümmern“, was das zeige, will der Lehrer nun wissen. Murats Reinrufe „selbstständig“ greift der Lehrer nicht auf. Oskar hält offenbar daran fest, dass es sich bei Merridew um ein „Mädchen“ handelt, dies bleibt für ihn bedeutsam. Den Hinweis von Evin: „dass sie auf sich selbst gestellt sind“ kommenden der Lehrer mit „richtig“. Der Lehrer fasst zusammen, dass Merridew „die Situation schnell erkannt“ habe usf., spricht dann selber (geschlechterneutral) von „die Kinder“. Zwischendurch insistiert jemand, dass es sich bei Merridew um eine „sie“ handelt.
Eine Klärung darüber, ob Merridew ein Junge oder ein Mädchen ist, läuft nebenher, wird aber nicht auf die Ebene des offiziellen Unterrichtsgesprächs gehoben. Warum?
Der Lehrer notiert – so geht es aus dem Tafelanschrieb hervor – die Zuschreibung „schlau“ hinter dem Namen Merridew. Diese Zuschreibung ging aus Zwischenbemerkungen hervor, die aber auch als Kommentierungen zu Evin bzw. ihrer „richtigen“ Äußerung verstanden werden können.
Der Lehrer will auf etwas ganz Bestimmtes hinaus, und er will sich damit offenbar nicht lange aufhalten, „ganz kurz“, wie er eingangs sagt, soll die Beschäftigung mit Merridew dauern. Auch hier ist dem Lehrer etwas besonders wuchtig, er verfolgt eine bestimmte Intention, die er allerdings nicht preisgibt.
Zusammengefasst
Bevor wir die Analyse fonsetzen, fassen wir das unübersichtlich anmutende Geschehen zusammen:
ln den Charakterzügen der Romanfiguren sieht der Lehrer eine Strukturierungshilfe, einen didaktischen Zwischenschritt als Orientierungshilfe. Traut er den Schülerinnen und Schülern keine eigene Sinnerfassung und Interpretationsleistung angesichts der Komplexität des Handlungsgeschehens zu? Aber wer das den Schülerinnen und Schülern nicht zutraut, erfährt nie, was sie gekonnt hätten, wenn man sie gelassen hätte.
Die schwer auf den Begriff zu bringende und von den Schülerinnen und Schülern nur schwer zu erahnende Steuerungsabsicht des Lehrers schränkt zumindest die Möglichkeiten der Schülerinnen und Schüler ein, selbst auf den Text zu reagieren, sich auf den Text einzulassen. Man kann an dieser Stelle argumentieren, dass ohne die Steuerung des Lehrers in dieser Klasse tatsächlich die Gefahr von Chaos und Beliebigkeit drohe. Aber durch dieses Arrangement sind die Schüler und Schülerinnen nur zum Rezipieren und Reagieren im Rahmen der undurchschaubaren, nicht näher spezifizierbaren Lehrerabsicht verurteilt. Im Sinne der Zielvorstellung des Lehrers scheint es bloß richtige oder falsche Antworten zu geben. Vermutlich wird deshalb nicht hinterfragt, wie z. B. Oskar darauf kommt, dass Merridew ein Mädchen ist. Also passt die Deutung des Schülers nicht in das Konzept, wird ausgeblendet und ignoriert. Der Lehrer und der Großteil der Schülerinnen und Schüler, so ist zu vermuten, scheinen sich unausgesprochen darin einig, dass Oskar hier einem Missverständnis unterliegt, seine Sichtweise, dass Merridew ein Mädchen ist, falsch ist. Der Schüler bekommt keine Möglichkeit eingeräumt, seine Beweggründe für die Annahme aufzuzeigen, er wird gewissermaßen hingehalten – niemand klärt ihn wirklich auf und er insistiert seinerseits. Es hätte aber an der Stelle die Möglichkeit gegeben, die Frage nach der Geschlechterzugehörigkeit der Romanfiguren, die Geschlechterrolle offiziell zu thematisieren. Also: bislang war der Aspekt, dass es sich um eine „Jungengeschichte“ handelt, nicht weiter hinterfragt worden, aber nun macht ein Schüler dies indirekt zum Thema. Dass der Lehrer den Hinweis des Schülers nicht aufgreift, erinnert an die Ratlosigkeit, mit der er auf Petras Äußerung („dass die Erwachsenen sterben“) weiter oben reagiert hatte. Ähnlich wie dort zielt der Schüler hier auf eine Differenz, eine Unterscheidung. Bei Petras Aussage wurden als latente Sinnstrukturen die Unterschiede zwischen Erwachsenen und Jugendlichen herausgearbeitet, und hier scheint es auf einer latenten Ebene um die Unterscheidung von Mädchen und Jungen zu gehen.
Einschub
Eine bloße Anregung zu Diskussion und Kontroverse im Rahmen dieses lehrerzentrierten Arrangements reicht offensichtlich zunehmend weniger aus, um das Artikulationsbedürfnis der Schüler und Schülerinnen zu strukturieren und zu organisieren. Diese Vorgehensweise unterstellt, dass es eine allen gemeinsame Problempräsentation gibt. Aber eine solche setzt voraus, dass für die Beteiligten erst einmal Gelegenheit besteht, individuelle Ansichten und Auffassungen zu reflektieren und zu Wort kommen zu lassen. Jedenfalls scheint das vom Lehrer angezielte angeleitete Entdeckenlassen deshalb zu scheitern, weil dem nicht zu kritisierenden Versuch, die Aufmerksamkeit der Lernenden in eine in der Lehrersicht „effektive“ Richtung zu lenken, Räume und Gelegenheit zum Nachdenken und zum aktiven Einbringen von individuellen Deutungen, Problemstellungen, Werthaltungen und Einstellungen fehlen, die auch dazu beitragen, alternative Vermutungen schließlich gemeinsam zu prüfen. So wichtig die Versuche des Lehrers sind, erst einmal Informationsressourcen bereitzustellen, so problematisch erscheint es, dies in einer Unterrichtsform zu tun, die ihrer Logik nach mögliche Thematisierungen und Lesarten einengt, statt sie auszubreiten und ihnen Raum zu geben.
Die äußerst individuellen Reaktionen der Schüler zeigen, dass zuvorderst eine in die Breite gehende Strategie – etwa in Form der Bildung von Kleingruppen – zur Anwendung gelangen müsste. Die Zugänge und Wege der Problembestimmungen, die Schüler von sich aus suchen, sind wichtiger für den Lernertrag als vom Lehrer herbeigeführte eindeutige Ergebnisse. So werden in dieser Stunde Annäherungen, Problemsichten, Vorschläge und Lösungswege der Schüler zwar gefordert, aber nicht wirklich akzeptiert, diskutiert und als Lernmöglichkeit gedeutet.
Die Grundstruktur der Interaktion bleibt (strikt) ergebnisorientiert und wenig orientiert an einem Prozess, in dem eine Vorgabe erst in ihrer Problemstruktur entfaltet oder ein Thema als Problem so exponiert wird, dass hierin ein Sog zu dessen Lösung und Bearbeitung entsteht.
Zurück zum Stundenverlauf:
Pascal fragt in Anschluss an die letzte Lehreräußerung („also müssen sich die Kinder um sich selbst kümmern“): „dürfen wir den Film gucken“. Möglicherweise will er wissen, wozu das schließlich führt, dass „die Kinder“ bzw. die Jungen auf sich gestellt sind. Tim stützt das Ansinnen seines Mitschülers, der unvermittelt anfügt: „abschlachten“. Murats Kommentar lautet: „oh der Film ist richtig cool“. Daraufhin fordert Tim energisch: „wir müssen den Film gucken“ und begründet dies: „damit wir genau den Inhalt und alles mitkriegen“. Das Thema Film bleibt also virulent. Was geht hier vor sich? Appellieren die Schüler hier stellvertretend für die Schulklasse an den Lehrer im Sinne von: Lassen Sie uns lieber den Film angucken, damit können wir eher etwas anfangen als mit dem trockenen, in Einzelheiten undurchschaubaren literarischen Text? Verbinden die Schüler mit dem Film die Vorstellung, dass dies spannender sein könnte, spannender als das, was bislang geschieht? Vor allem kann es sich bei Tims Äußerung um eine Reaktion handeln, z. B. auf die immer wieder aufgeworfene Frage, ob Merridew ein Junge oder ein Mädchen ist, auf die verheißungsvollen Andeutungen seiner Mitschüler, die offenbar über gewisse Informationen verfügen. Eventuell verspricht sich der Schüler von der Verfilmung, dass die Textsequenz durch zusätzliche Visualisierung besser nachzuvollziehen ist, sie sich über die eigene Imaginationskraft hinaus ein Bild machen können. Man kann insgesamt also sagen, dass die Schüler Bilder wollen, dass sie die Symbolik einfordern bzw. auf die Symbolik hinauswollen. Sie wollen sich die Ereignisse, das Interaktionsgeschehen sinnlich-symbolisch vor Augen führen können (Lorenzer 1992). Wobei es zwischen Pascal und Murat in der Form ihrer Rede, ihrer Redeweise, ihrem Jargon so etwas wie eine (habituelle) Übereinstimmung (vgl. Bohnsack/Nohl 1998) zu geben scheint („abschlachten“, „cool“). Tim hingegen argumentiert Inhalts- und sachbezogen. Er legt eine ernst zu nehmende, schulgerechte, vernünftig klingende Begründung dar. (Möglicherweise kennt er i. U. zu Pascal und Murat den Film nicht, zumindest nicht so gut wie Murat, der ihn schon mehrmals gesehen hat.)
Gerät der Lehrer durch den unterschwelligen Appell (allen die Möglichkeit zu geben, den genauen Inhalt kennen zu lernen) unter Druck? Er setzt zu einer Antwort an, aber die Diskussion über den Film kommt über einen technischen Umstand zum Abbruch. Während die Tonkassette gewechselt wird, verteilt der Lehrer ein Blatt mit Fragen und Aufgaben (siehe Anhang B).
Wie geht es nun weiter? Wird die Frage nach dem Film erneut aufgegriffen?
Welche Möglichkeiten haben die Schülerinnen und Schüler in der folgenden Unterrichtsphase, um ihre Sichtweisen darzulegen? In Aussicht gestellt worden war ja, dass die Schülerinnen und Schüler später ihrer Fantasie freien Lauf lassen können.
Literaturangaben:
Bohnsack, Ralf/Nohl, Arnd-Michael: Adoleszenz und Migration – Empirische Zugänge einer praxeologisch fundierten Wissensoziologie. In: Bohnsack, Ralf/Marotzki, Winfried (Hrsg.): Biographieforschung und Kulturanalyse. Opladen 1998, S. 260-282
Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt/Main 1992 (Original 1981)
Lorenzer, Alfred: Sprachzerstörung und Rekonstruktion. Vorarbeiten zu einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt/Main 1995* (Original 1970)
Wochenschau Heft 6/1994 Sek. I: Jugend macht Politik (Carla Schelle in Zusammenarbeit mit der Redaktion Wochenschau).
Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages. http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.htmlNutzungsbedingungen:
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