Hinweis: Der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Auftakt und Ankündigung – (k)ein neues Thema“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Beginn der Textlektüre – eine Falle der Abgeklärtheit“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wiederholungsphase – berufene Spontaneität“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Erklärungen der Schülerinnen und Schüler – Spiel als Ernstfall“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Besprechung des Textes: Wer ist wer? Wer macht was?“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Ein Arbeitsblatt: Verständnissicherung und Schlüsselworte“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Die Besprechung der Fragen – Situationsvorstellungen, Kontroversen, Analogien“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Wie es weitergehen wird – die Sinnstruktur des Lehrers“
- „Eine Rekonstruktion: Der Fall „Insel“ – Analoger Transfer als Lernhemmnis? Fazit: Erkenntnisinteresse und offene Fragen“
Einleitende Bemerkungen
Es handelt sich um die erste Stunde einer Unterrichtseinheit „Jugend und Politik“, die am 23.10.1996 in der 2. Stunde (8.30 – 9.15 Uhr) stattfindet. Inhalt ist u. a. ein Textauszug (bzw. Textauszüge) aus dem Roman „Herr der Fliegen“ von William Golding (vgl. Wochenschau Sek I, 6/1994). Thematisch geht es in dieser Stunde um Verhaltensweisen einer Jungengruppe, die auf sich gestellt ist. Anwesend sind in alphabetischer Reihenfolge die Schülerinnen: Evin, Jane, Julia, Karmen, Karoline, Nadja, Petra, Renata, Sabine, Sandy, Susanne, Svantje sowie die Schüler: Christoph, Fernando, Klaus, Murat, Nick, Pascal, Paul, Oskar, Osman, der später kommt, Rolf, Ronald und Tim.
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
[…]
Lehrer: sie können sich ernähren, sie können sich versorgen, und jetzt frag ich Svantje, ob sie Lust hat zu lesen, ja oder nicht? gut, Svantje
SCH-Kommentare/Äußerungen
Lehrer: wir lesen den Textjetsä, könnt ihr euch wieder einkriegen jetzt bitte, wir lesen den Text jetzt einmal [bleibt unruhig] (Evin: Herr *** ???) Svantje liest ihn einmalganz durch, bitte um Rübe, Evin (SCH: Evin) Svantje bitte
Der Lehrer lehnt an der Tafel
Der Lehrer fasst aus seiner Sicht Aspekte aus dem einleitenden Text zusammen und leitet zur Lektüre des Haupttextes über. Dieser Übergang gestaltet sich nicht reibungslos. Es kommt Unruhe auf. Wiederum sind die Aktivitäten des Lehrers auf die Herstellung von Konzentration und Aufmerksamkeit gerichtet. Die indirekte Ansprache von Svantje, mehrfache Ermahnungen vonseiten des Lehrers, aber möglicherweise auch Ansätze einer Selbstregulierung[1] (siehe Evin, die den Lehrer direkt anspricht) kennzeichnen die Situation.
Svantje: Was geschah, Ralph, einer der jungen, fand eine große Muschel, Piggy schnappte nach Luft und fuhr mit der Hand vorsichtig über das glitzernde Etwas in Ralphs Armen, Ralph! Ralph blickte auf, damit können wir die anderen herbeirufen, und dann ha [räuspern] halten wir eine Versammlung ab, wenn die uns hören, kommen sie bestimmt, erstrahlte Ralph an, du hast sicher gleich schon daran gedacht, deshalb hast du sie auch rausgefischt, was?, Ralph strich sein blondes Haar zurück, wie bläst man da drauß Ralph nahm die Muschel von den Lippen, Donnerwetter! seine Stimme klang wie ein Flüstern im Vergleich zu dem rauen Ton des Muschelhorns, er hob das Horn an die Lippen, holte tief Luft und blies noch einmal, das hört man bestimmt meilenweit, Ralph hatte wieder Lift bekommen und stieß mehrmals kurz hintereinander in das Muschelhorn, da kommt schon einer, rief Piggy, nach und nach kommen die Jungen zusammen, [zum Lehrer gewandt] wie spricht man den Namen aus?
Lehrer: ja ich würde ihn (Murat: Merridee) englisch aussprechen, wer macht einen Vorschlag?
SCH: Peggi – SCH: Merridew
SCH: Peggi, ach so
Lehrer: wenn man in englisch ausspricht?
SCH-Zurufe: Merridew
Lehrer: Merri, wie wer hat das eben gesagt?
SCH: ich
Lehrer: ja Julia, dann melde dich doch (SCH: ich auch)
Julia: Merridew
Lehrer: Merridew, ne [mit Betonung auf der Endsilbe] wund ich sagen
Svantje: Merridew wandte sich an Ralph, [Klopfen und die Tür zum Klassenzimmer geht auf] sind überhaupt keine Erwachsenen
Die Lektüre wird unterbrochen. Osman kommt herein, er hat verschlafen.
[..]
Durcheinander, Unruhe
Lehrer und SCH sind gleichzeitig zu hören
Lehrer dann lauter: ja ja nun wars gerade mal so schön ruhig
Tim: doch den Anfang hab ich mal glaub ich mal gesehn
Durcheinander an Stimmen
Lehrer: ihr könnt eurer Fantasie nachher noch freien Lauf lassen, (Murat: den hab ich dreimal gesehn den Film) also wir fangen noch mal an, nach und nach kommen die Jungen zusammen, Svantje
Während Svantje mit ruhiger Stimme den Text flüssig vorliest, ist es still (zum Textgeschehen siehe unten). An einer Stelle hält sie inne. Bevor sie weiterliest, möchte sie von dem Lehrer wissen, wie der Name „Merridew“, der ihr offenbar im Unterschied zu den anderen Namen unbekannt, fremd ist, ausgesprochen wird. Noch bevor der Lehrer zu Ende führt, dass er den Namen „englisch aussprechen“ würde, formuliert Murat „Merridee“ und prononciert ein langgezogenes: iii am Ende des Namens. Der Lehrer geht darüber hinweg und fragt: „wer macht einen Vorschlag?“. Es folgen mehrere Zurufe, unter anderem von Julia, die sich nicht gemeldet hatte, was der Lehrer nicht unkommentiert lässt. Der Lehrer bessert bei ihrem Vorschlag zur Aussprache des Namens lediglich die Betonung nach.
Svantje fährt zu lesen fort. Nach kurzer Zeit klopft es an der Tür. Osman, der verschlafen hat, betritt das Klassenzimmer. Die Situation, die durch sein plötzliches Auftauchen verursacht wird, führt wiederum zu allgemeiner Unruhe. Der Lehrer bedauert mit lauter Stimme, dass es „gerade mal so schön ruhig“ war. Tim ist zu hören, er glaubt, den Anfang des Films „mal gesehn“ zu haben.
Dass es einen Film zu der vorliegenden Story gibt, lässt die Schülerinnen und Schüler gedanklich nicht los. Es kommt wieder zu einem Stimmengewirr. Der Lehrer (offenbar nimmt er bestimmte Äußerungen der Schülerinnen und Schüler wahr) stellt in Aussicht: „ihr könnt eurer Fantasie nachher noch freien Lauf lassen“. Murat wirft zum wiederholten Male ein, dass er den Film „dreimal gesehn“ hat. Der Lehrer erklärt „also wir fangen noch mal an“, und zwar bei der Textstelle: „nach und nach kommen die Jungen zusammen“.
Für das Beharrungsvermögen des Lehrers lassen sich an der Stelle gute Gründe erwägen. Beispielsweise könnte er die Absicht verfolgen, dass die Schülerinnen und Schüler nicht einfach zum Nächsten übergehen, ohne sich intensiv auf den Text einzulassen. Die Arbeit am Text würde dieses Einlassen erforderlich machen. Zu fragen ist allerdings: Warum dann dieser lange und gesteuerte Weg bis hin zur Textlektüre? Die Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler werden bislang gebremst und kanalisiert. Der Lehrer hat von Beginn an eine offene Situation vermieden, in der die Schülerinnen und Schüler direkt ihre Empfindungen, Sichtweisen usw. hätten darlegen können.
Doch schauen wir weiter. Svantje bekommt wieder das Wort und liest vor.
Svantje: Merridew wandte sich wandte sich an Ralph, sind überhaupt keine Erwachsenen hier?, nein! Merridew setzte sich auf einen Stamm und blickte in die Runde, dann müssen wir uns selbst um uns kümmern, geborgen an Ralphs Seite, ließ Piggy sich schüchtern vernehmen, deshalb hat Ralph ja eine Versammlung einberufen, damit wir was unternehmen können, dann sprach Jack, wir müssen was zu unserer Rettung unternehmen, ein Stimmengewirr war die Antwort, einer der Kleinsten, Henry, sagte, er wolle nach Hause, halt die Klappe, sagte Ralph mit unbeteiligter Stimme, er hob das Muschelhorn hoch, ich glaub, wir brauchen einen Anführer, dann geht das besser, einen Anführer, ja einen Anführer, das mache ich am besten, sagte Jack mit ganz selbstverständlicher Anmaßung, ich bin Kapitelsänger und Klassensenior, und ich kann das höbe C singen, erneutes Stimmengewirr, also gut, sagte Jack, ich, er zögerte, der dunkelhaarige Roger gab endlich seine Zurückhaltung auf, am besten, wir stimmen ab, ja!, wir wählen unsern Anführer, au ja, los, wir stimmen ab, [Blättergeraschel] (Murat: oh jetzt kommt erst mal so ein fetter Text) eine Wahl, das war wie ein Spielzeug, fast so unterhaltend wie das Muschelhorn, Jack versuchte aufzubegehren, aber die Versammlung leitete jetzt nicht mehr der allgemeine, nicht mehr der allgemeine Wunsch nach einem Anführer, man wollte Ralph einfach als Anführer ausrufen, keiner hätte dafür einen Grund anzugeben vermocht, Intelligenz hatte bisher nur Piggy bewiesen und die [Svantje räuspert sich] und die offensichtliche Führerpersönlichkeit war Jack, aber wie Ralph so dasaß, umgab ihn etwas Ruhiges, das ihn aus den anderen heraushob, weiter sprach für ihn sein anziehendes Äußeres, und hinter ihm stand zwar unausgesprochen, aber um so wirksamer, die Zauberkraft des Muschelhorns, er hatte geblasen, er hatte auf der Plattform auf sie gewartet mit dem zerbrechlichen Ding auf den Knien, er war etwas Besonderes, der mit der Muschel, Ralph, Ralph, der mit dem Trompetendings soll den Anführer machen, Ralph gebot mit der Hand Schweigen, also gut, wer stimmt für Jack?, missmutig hoben die vom Chor die Hand, wer stimmt für mich?, alle, außer den Jungen vom Chor und Piggy, reckten sofort die Hände in die Höhe, dann hob auch Piggy widerwillig die Hand, Ralph zählte ab, dann bin ich also Anführer, die Versammlung brach in Beifallsrufe aus, in die sogar die Jungen vom Chor einfielen, Schamröte der Erniedrigung verdeckte die Sommersprossen auf Jacks Gesicht, er sprang auf, überlegte es sich dann anders und setzte sich wieder hin, während die Plattform noch von zustimmenden Rufen widerballte, Ralph blickte ihn an und wollte ihn versöhnen, der Chor untersteht natürlich dirLehrer: vielen Dank Svantje, ganz toll gelesen
Klatschen
SCH-Zurufe
Soweit die Lektüre des Textes. Murat kommentiert zwischendurch: „oh jetzt kommt erst mal so ein fetter Text“. Er meint offenbar den größeren, engzeilig gedruckten Abschnitt auf der dritten Seite. Anzumerken ist, dass einige Schülerinnen und Schüler Beifall klatschen, nachdem Svantje gelesen hat. Auch Zurufe sind zu hören. Hier ist eine von ihnen Akteurin gewesen und dies wird nachhaltig gewürdigt!
Einschub
Der Text enthält unterschiedliche Erzählformen: direkte Rede im Präsens (wobei es nicht ganz einfach ist, diese jeweils einem bestimmten Sprecher zuzuordnen), Beschreibungen in der Vergangenheitsform sowie Kommentierungen und Deutungen. Es gibt mehrere Romanfiguren[2]. Verschiedene Handlungen sind beschrieben. Die Komplexität des Textgeschehens ist also nicht leicht in den Griff zu kriegen. Die Szene bietet zahlreiche Ansatzpunkte und Zugänge zum Verstehen sowie unterschiedliche Möglichkeiten zur Deutung und zur Beurteilung, deshalb soll nun zunächst das Textgeschehen näher betrachtet und interpretiert werden[3].
Leitfragen dabei sind:
• Welche Handlungssituation wird bzw. welche Handlungen werden dargestellt?
• Was ist das Handlungsproblem bzw. was sind die Handlungsprobleme, die bewältigt werden müssen?
Der Text beginnt damit, dass Ralph ein Muschelhorn findet. Offenbar ist es die Idee von Piggy (bei dem Namen handelt es sich wohl um einen „Spitznamen“, der mit Schweinchen übersetzt werden kann), die anderen mit dem Muschelhorn herbeizurufen, um eine Versammlung abhalten zu können, auch wenn er einräumt, dass Ralph aus genau diesem Grund das Muschelhorn „rausgefischt“ habe. Ralph bläst schließlich in das Muschelhorn. Das Muschelhorn bekommt also symbolisch eine Funktion zugeschrieben, es fungiert als eine Art Megafon, mit dem eine Versammlung (als eine Form geordneter Zusammenkunft) einberufen werden kann.
Eine Versammlung einzuberufen, eine Abstimmung, eine Wahl stellen (selbstbestimmte) Versuche dar, die Situation zu ordnen, die Rettung vorzubereiten, wobei Regeln und Gesetze in der Geschichte nicht direkt vorgegeben sind (vgl. Freiwald/Oehlschläger 1972, 214). Dabei bedienen sich die Jungen dem Schema nach einer Vorgehensweise, die ihnen aus der Erfahrungswelt, der sie entstammen, bekannt ist. „Diese Schar von Jungen lebt nach erinnerten und reproduzierten Ordnungen, die“, so heißt es bei von Hentig, „einen Teil ihrer Probleme nicht löst“ (Hentig 1969,126).
Die Wahl des Anführers leiten nicht in erster Linie rational begründete Motive. Die Jungen kennen sich kaum, wissen nicht, wie z. B. Ralph wirklich ist. Sie richten ihre Entscheidungen an nicht näher begründeten (Persönlichkeits-)Merkmalen aus und stehen gleichsam unter dem Druck, sich solidarisch zu zeigen. Für Ralph spricht einerseits, dass ihn etwas Ruhiges umgibt, dass er ein anziehendes Äußeres hat, hinter ihm die Zauberkraft des Muschelhorns steht (positive Aura, Erwecken von Zuversicht), obschon Piggy bislang Intelligenz bewiesen hatte, obschon sich Jack als eine Führerpersönlichkeit andient.
Der Vorgang der Abstimmung verläuft eher informell. Es wird deutlich, dass nicht alle aus voller Überzeugung ihre Wahl treffen. Es gibt keine längere Bedenkzeit, die Wahl ist auch nicht geheim. Es gibt nur die Alternative zwischen den Gegenspielern Ralph und Jack, die beide nicht ausnahmslos sympathisch beschrieben sind. Die Ad-hoc-Abstimmung hat etwas von Überrumpelung.
Die Jungen formieren sich zu einer Art Zweckgemeinschaft, die durch den Chor (als eine Teilgruppe) einerseits und die übrigen Jungen (die sich offenbar nicht näher kennen) andererseits geprägt ist. Einzelne verschaffen sich Gehör, andere werden zurückgewiesen.
Piggy scheint die Rolle eines Vordenkers, Bedenkenträgers zu haben. Er ist Ralph einerseits zugeneigt, scheint andererseits, was die Abstimmung bzw. die Wahl als Prozedere anbelangt, skeptisch zu sein.
Dass die versammelte Jungenschar in Beifallsbekundungen (euphorische Grundstimmung) ausbricht, ist für Jack eine zusätzliche Demütigung. Ralph will offenbar einlenken, indem er dem Gegenspieler ein Zugeständnis macht. Jack soll nicht alle Vorrechte verlieren, er soll sein Gesicht, sein Ansehen wahren können. Ralph wendet sich mit einer versöhnlichen Geste an Jack, der Chor soll ihm unterstehen. „Der gewählte Ralph spürt die Verletztheit des Rivalen“ wie es von Hentig ausdrückt (Hentig 1969,111).
Halten wir fest:
Die Jungen befinden sich in einer prekären Situation. Sie stehen unter Handlungsdruck und können mögliche Vorkehrungen auf Rettung nicht vertagen. Sie einigen sich auf ein schnelles, formales Verfahren. Das gewählte Verfahren berücksichtigt noch nicht die Bedürfnisse und die Interessen Einzelner. Es gibt keinen längeren Prozess des Aushandelns und Beratens.
Das Handeln der Jungen ist an Beteiligungsformen ausgerichtet, wen sie aus institutionell verfassten Gemeinschaften (wie z. B. der institutionalisierten Politik) bekannt sind. Allerdings ermöglicht das rasch in die Wege geleitete Verfahren kaum ein individuelles Reagieren, ein Nachfragen, eine offene Aussprache etwa über den Zweck bzw. das Ziel der Anführerschaft.
Mit Mead ließe sich einwenden: „Der Wert einer geordneten Gesellschaft ist für unser Leben von entscheidender Bedeutung, doch müssen auch dem Einzelnen genug Ausdrucksmöglichkeiten Vorbehalten sein, wenn wir eine ausreichend entwickelte Gesellschaft haben wollen“ (Mead 1973, 265).
Die dargelegte Interpretation folgt der Spur, dass es sich in dieser Inselsituation um eine Art Ursprungsszene des Politischen handeln könnte. Die „Erfindung des Politischen“ baut einerseits auf schon vorhandenen sozialen Strukturen auf. Andererseits sind diese situativ
auch immer wieder neu zu erzeugen; etwa durch Aushandlungen oder Kompromissbildungen. Dieses Ineinanderspielen von „Determination“ und „Emergenz“ (Mead) (vgl. Wagner 1999, 16ff.), zwischen Planung, vertraglicher Ordnung einerseits und der Ungewissheit, Unplanbarkeit und Zukunftsoffenheit des Entwicklungsprozesses hinsichtlich seiner konkreten Ausgestaltung andererseits, kennzeichnet diese Inselsituation als Prototyp des politischen Handelns. Zwar besteht der Rückgriff auf vorhandene Regelungen und Regelungsformen des Zusammenlebens, aber auch diese werden, wie Elias zum Prozess der Zivilisation ausführt, erst „(…] in Gang gehalten durch die Eigendynamik eines Beziehungsgeflechts, durch spezifische Veränderungen der Art, in der Menschen miteinander zu leben gehalten sind“ (Elias 1976, 316). In diesem Sinne kann Elias sagen, der Prozess der Zivilisation vollzieht sich als Ganzes ungeplant (ebenda, 312ff.).
Somit führt die beschriebene Situation, in der sich die gestrandeten Jungen befinden, in meinem Verständnis, letztlich zu Grundfragen der Reproduktion der sozialen Ordnung und des sozialen Wandels. Gleichsam repräsentiert und thematisiert der literarische Text die Bedeutung von präsentativen Symbolen und sinnlich-symbolischen Interaktions formen. Damit werden Fragen von Identität und Sozialität berührt (Lorenzer 1992).
Was die aus der Story erwachsenden Möglichkeiten für politische Bildung anbelangt, so sei mit Freiwald/Oehlschläger11 kritisch angemerkt: „Auch kann gegen die Verwendung von Goldings Roman als eines Denkmodells in der Auseinandersetzung um Demokratie und Diktatur eingewendet werden, daß mit ihm in Wahrheit die Kategorie des Sozialen, nicht aber die des Politischen getroffen sei.“ (Freiwald/Oehlschläger 1972, 216). Zwar nehme die literarische Vorlage dichterisch gestaltet sozialpsychologische Entwicklungsmöglichkeiten einer Gruppe von Jungen vorweg, die in einer Ausnahmesituation gezwungen sind, ihre Existenz zu sichern, aber sie enthalte keine Analyse von der Umwandlung eines konkreten demokratischen Gemeinwesens hin zu einer Diktatur. „Eine infolge scheinbarer Analogien die Komplexität politischer Entwicklungen verkennende Auffassung könnte zum Gegenteil dessen geraten, was politische Bildung bewirken sollte, nämlich zur Simplifikation und zu vermeintlichen Einsichten“ (ebenda). Dennoch weisen die Autoren auf einen möglichen pädagogischen und politischen Wert der unterrichtlichen Beschäftigung mit dem Roman hin: „Diese spezifische Art der Selbstdisziplin, die erst durch ihr Telos – d. h. durch ihren humanen Zweck – zur Tugend wird, kommt bei Golding nicht zustande ohne Übernahme von Arbeit und den zumindest teilweisen Verzicht auf Tun, ‘das Spaß macht’, also durch Respektierung gemeinsamer Güter und Werte. Auch in der sozialen und politischen Wirklichkeit werden bestimmte Ziele vielfach ohne eine entsprechende Bereitschaft der Handelnden kaum erreichbar sein“ (ebenda, 217).
Man kann also sagen, dass zum einen mit der Inselsituation die besonderen Erfordernisse gemeinsamen Handelns vor Augen geführt werden können. In Zusammenhang damit ließen sich zum anderen Fragen und Aspekte institutionalisierter Politik entzünden und erörtern. So jedenfalls kann von Hentig verstanden werden, wenn er thesenartig formuliert: „Die Geschichte fordert drittens, daß das Zutrauen zur Institution der Politik gründlich und fest angelegt werde – das Zutrauen zur Berechtigung und Austragbarkeit des Mißtrauens, die Eintracht in der Ermöglichung des Streites, der Verlaß auf die Möglichkeit der Revision“ (Hentig 1969,128).
Die zuletzt entfalteten Sichtweisen und Perspektiven stützen die oben dargelegte Interpretation insofern, als auch darin Grundfragen des Sozialen (Entwicklungsmöglichkeiten, soziale Strukturen) bis hin zu Aspekten des Politischen (Institutionalisierung, Güter und Werte) aufgezeigt werden. Im Verhältnis zu den bisher zu der vorliegenden Unterrichtsstunde erörterten Ansätzen und Interpretationen zeigt sich auch hier die Problematik einer analogisierenden Zugriffsweise, bei der Dissens, Komplexität und Mehrdeutigkeit sowie Spezifik und Differenz nicht ausgelotet werden.
Doch gehen wir zunächst zurück zur Analyse des Unterrichtsgeschehens und schauen wir, wie dort mit dem Symbolgehalt und dem Aspektenreichtum, der in der literarisch abgefassten Inselsituation aufscheint, umgegangen wird.
Es stellen sich also die Fragen: Welche Sinnperspektiven klingen in der folgenden Besprechung des Textes an? Welche Möglichkeiten, auf den Text zu reagieren, werden den Schülerinnen und Schülern eingeräumt bzw. welche Möglichkeiten ergreifen sie von sich aus?
Fußnoten:
[1] Zum Begriff der Selbstregulierung vgl. Negt 1997, 191 ff.; siehe auch Combe/Leue-Schack/Pingel 2000. Dort heißt es: „Allerdings beschränkt sich der Versuch, eine Balance zwischen Vorgabe der Lehrerinnen und Selbstregulierung der Schüler zu finden, nicht nur auf den Planungsvorlauf zu einem Projekt, sondern er stellt ein beständiges Spannungsfeld dar und wird offenbar in vielen kleinen Situationen des Unterrichtsalltags erfahren“ (59).
[2] Eine Recherche ergibt: Merridew und Jack sind vermutlich ein und dieselbe Person. Aus der vorliegenden Übersetzung, der der Textauszug entnommen ist, geht dies aber nicht eindeutig hervor.
[3] Diese Interpretation kann keinesfalls als ausschöpfend betrachtet werden, vielmehr ist sie als ein möglicher Zugang zu der Bedeutung und zu dem Stellenwert des Textauszuges für politisches Lernen zu verstehen. In diesem Einschub werden sozusagen mögliche Interpretationen rekapituliert.
Literaturangaben:
Combe, Arno/Leue-Schack, Kerstin/Pingel, Katrin: Unterrichtsentwicklung. In: Arnold, Eva/ Bastian, Johannes/Combe, Arno/Schelle, Carla/Reh, Sabine a. a. O. 2000, S. 35-78
Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation (Zweiter Band). Frankfurt am Main 1976
Freiwald, Helmut/Oehlschläger, Herwig: William Goldings „Herr der Fliegen“ im Sozialkundeunterricht der Sekundarstufe, ln: Hoof, Dieter: Unterrichtsstudien. Ergebnisse didaktischer Untersuchungen mit Videoaufzeichnungen. Hannover 1972, S. 208-256
Hentig, Hartmut von: Spielraum und Ernstfall. Gesammelte Aufsätze zu einer Pädagogik der Selbstbestimmung. Stuttgart 1969
Hilligen, Wolfgang: Sehen-Beurteilen-Handeln. Lese- und Arbeitsbuch zur Politischen Bildung und Sozialkunde. Teil 2 (Ausgabe A für das 7.-10. Schuljahr). Frankfurt/Main 19658
Lorenzer, Alfred: Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik. Frankfurt/Main 1992 (Original 1981)
Mead, George H.: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1973
Negt, Oskar: Kindheit und Schule in einer Welt der Umbrüche. Göttingen 1997
Wagner, Hans-Josef: Rekonstruktive Methodologie. Georg Herbert Mead und die qualitative Sozial-forschung. Opladen 1999
Wochenschau Heft 6/1994 Sek. I: Jugend macht Politik (Carla Schelle in Zusammenarbeit mit der Redaktion Wochenschau).
Mit freundlicher Genehmigung des Klinkhardt Verlages. http://www.klinkhardt.de/verlagsprogramm/1278.htmlNutzungsbedingungen:
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