Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Aus Beobachtungen im 1. Schuljahr mit 24 SchülerInnen (acht Mädchen und 16 Jungen) gemacht wurden (vgl. Schultz 2007).
„Im Kopf kann ich das in Kurdisch rechnen.“ – Wo Mehrsprachigkeit zum Einsatz kommt
Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 8. Februar 2007: Sprachunterricht
„In dieser Stunde werden Wörter mit „ö“ bzw. „Ö“ gesammelt. Die Schülerinnen melden sich und nennen der Lehrerin entsprechende Wörter, die diese dann anschreibt. Es sind schon einige Wörter an der Tafel gesammelt worden: Öl, Ölsardine, Löffel, König, Höhle. Tarik ruft: „Ökmen!“ Frau Busch: „Genau, das ist dein Nachname“ (Sie schreibt es jedoch nicht an die Tafel.) Tarik und Burhan tauschen sich über türkische Namen und Wörter mit „Ö“ aus. Dabei mischen sie die Sprachen Türkisch und Deutsch. Da ich am anderen Ende des Raumes sitze, kann ich die Konversation zwischen den beiden nicht verstehen und höre nur, wie der Rest der Klasse auch, wie die beiden lauter werden und Burhan ruft: „Meine Nachbarin heißt Öslem.“ Tarik: „Döner! Döner! Is auch mit ein Ö!“ Die beiden Jungen werden von Frau Busch ermahnt, leise zu sein.
In dieser Situation zwischen Tarik, Burhan und Frau Busch wird deutlich, dass die Schüler Wörter aus ihrer Muttersprache in das Unterrichtsgeschehen mit einbeziehen wollen, ihre Lehrerin dies aber nicht zulässt. Obwohl die Jungen hier völlig korrekte Aussagen machen, schreibt die Lehrerin diese nicht an die Tafel. Sie bestätigt Tarik nicht einmal die Richtigkeit seiner Aussage, nämlich dass er ein Wort mit „O“ („Ökmen!“) gefunden hat, was die Aufgabe war. Stattdessen lässt sie ihm nur kurz Aufmerksamkeit zukommen („Genau, das ist dein Nachname.“). Im weiteren Verlauf der Situation unterbindet sie die ebenso richtigen Aussagen von Tarik und Burhan „Öslem“ und „Döner“ und ermahnt die beiden still zu sein.
Nicht nur erkennt die Lehrerin durch ihre Äußerungen hier die sprachlichen Leistungen der Schüler nicht an, sondern sie unterbindet die von den Schülern initiierte Einbringung der Familiensprachen. Sie verpasst damit die Chance Mehrsprachigkeit in einer spontanen Unterrichtssituation zu thematisieren und setzt das klare Zeichen: andere Sprachen sind im Sprachunterricht nicht erwünscht – mögen die Aussagen auch richtig sein. Die Schülerinnen ihrerseits werden sich sicher gefragt haben, warum bei der Suche nach Wörtern mit „Ö“ oder „ö“ „Löwe“ an die Tafel geschrieben wird, „Döner“ aber nicht. 2 Unter der Perspektive der Einbindung der Lebenswelt der Kinder ist festzuhalten, dass an dieser Stelle scheinbar grundschulgerecht, schöne Wörter an die Tafel geschrieben werden sollen, wie beispielsweise „Löwe“ oder „König“. „Döner“ scheint aus dieser Perspektive nicht adäquat zu sein und sollte daher wahrscheinlich nicht aufgeführt werden. Dabei spiegelt ein Döner vermutlich die Lebenswirklichkeit der Kinder besser wider, als dies bei einem Löwen anzunehmen ist.
Auszug aus dem Beobachtungsprotokoll vom 9. Februar 2007: Mathematikunterricht
Ich gehe durch die Klasse und helfe einigen Kindern. Sie können die Aufgaben fast alle gut rechnen. Tarik ist als Erster fertig. Er rechnet nicht laut, wie die meisten anderen Kinder, die zu einem Großteil ihre Finger oder den Rechenschieber zu Hilfe nehmen, sondern löst ruhig und konzentriert eine Aufgabe nach der anderen; den Lärm um sich herum scheint er ausgeblendet zu haben. Ich setze mich während er rechnet, neben ihn und als er fertig ist, lobe ich ihn und frage: „Toll, alles richtig! Wie hast du denn das so schnell gerechnet?“ Er sieht mich an, grinst und sagt leise: „Im Kopf kann ich das in Kurdisch rechnen.“ Dann wendet er sich einem Blatt zu, auf dem er etwas ausmalen kann und beginnt zu malen.
Tarik gibt mir in der Beobachtung zu verstehen, dass er seine Muttersprache in dieser Situation bevorzugt. Ebenso wird, unter Einbezug des Fragebogens deutlich, dass er nach eigener Einschätzung mit dieser auch besser klarkommt. Tarik macht bei der Beantwortung des Fragebogens [1] außerdem deutlich, dass er es bevorzugen würde, sich in seiner Familiensprache auszudrücken. Nach eigener Aussage beherrscht er fünf Sprachen [2], von denen er zwischen dreien, nämlich Türkisch, Kurdisch und Deutsch, spontan wechseln kann. Es ist anzunehmen, dass er hier seine Muttersprache aus dem Grund wählt, weil niemand kontrollieren kann, in welcher Sprache er „im Kopf‘ rechnet. Er verwendet seine Muttersprache in einem „privaten“ Moment. Zwar ist hier eine Unterrichtssituation gegeben, aber was und in welcher Sprache er denkt, geht nur ihn alleine etwas an. Diese Situation ist zudem ein Beispiel dafür, dass Schülerlnnen einer anderen Muttersprache als der Deutschen bei deren Unterbindung im Unterricht, benachteiligt werden. Ihnen stehen nicht die gleichen Möglichkeiten des Ausdrucks ihres Wissens, ihrer Intelligenz und Kreativität zu, wie den deutschsprachigen Schülerinnen. Dies kann dazu führen, dass die Schülerinnen in ihren sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten unterschätzt werden.
Die Schülerlnnen, denen zusätzlich zum Deutschen auch eine oder mehrere andere Sprachen zur Verfügung stehen, machen von diesen auch Gebrauch, sofern ihnen die Möglichkeit dazu angeboten wird. In der Regel bedeutet dies, die Muttersprache so einzusetzen, dass der Unterricht davon nicht beeinflusst wird. Mehrsprachigkeit kommt demnach größtenteils dort zum Einsatz, wo Schülerinnen sich entweder untereinander in kurzen Augenblicken der Kommunikation in ihrer Erstsprache austauschen oder sie leise „im Kopf“ benutzen (wie im oben genannten Beispiel). Daraus lässt sich schließen, dass die Nichtanwendung der Muttersprachen im Unterrichtsgeschehen auf den Regeln der Lehrkräfte und nicht auf den Entscheidungen der Schülerinnen basiert. Diesbezüglich ist im Rahmen der Beobachtungen zudem, dass auch auf dem Schulhof die Mehrheitssprache vorherrschend ist. Andere Sprachen hört man hier selten, obwohl es viele Kinder mit den Muttersprachen Türkisch, Kurdisch, Griechisch und Italienisch gibt, in denen sie sich z.B. in den Pausen, auf dem Hof unterhalten könnten. Vor dem Schuleingang allerdings, wenn die Schülerlnnen von ihren Eltern gebracht bzw. abgeholt werden, sind viele Sprachen zu vernehmen. Viele Schülerlnnen, so scheint es, schalten in dem Moment, in dem sie das Schulgebäude betreten bzw. verlassen augenblicklich in die andere Sprache um.
In diesem Zusammenhang sei auf das Konzept der Assimilation hingewiesen – ein Konzept von dem bis heute an vielen Schulen auszugehen ist. Assimilation ist ein Begriff aus der Soziologie und stammt von dem lateinischen Wort „assimilare“, das übersetzt „ähnlich machen“ bedeutet. Für den Umgang mit Mehrsprachigkeit in multinationalen Regelklassen bedeutet dies: Schülerinnen einer anderen Muttersprache als der deutschen sollen sich assimilieren, d.h. an die Mehrheitssprache Deutsch anpassen. Wenn muttersprachlicher Ergänzungsunterricht angeboten wird, findet dieser außerhalb der Unterrichts- oder der Schulzeit, unabhängig von bzw. unkoordiniert mit dem gemeinsamen Unterricht statt (vgl. Belke 2004, S. 14). Dies ist auch an der Beobachtungsschule der Fall.
Die Assimilierung der mehrsprachigen Kinder kann nicht nur Folgen auf sprachlicher Ebene haben, auch werden die Kinder in ihrer Individualität nicht wahrgenommen. Folglich können sich Kinder ausgegrenzt und nicht akzeptiert fühlen. Dies kann sich im Weiteren negativ auf ihre soziale Kompetenz und auf ihre Einstellung zur Schule auswirken. Basil Schader (2004, S. 23) führt zur Verdeutlichung ein Zitat einer Grundschülerin an: „Dass ich Italienerin bin, habe ich nicht gerne gezeigt. Man hat es auch kaum gemerkt. Nur wenn meine Mutter in die Schule kam – da habe ich mich immer ein bisschen geschämt.“ Er kommentiert diese Äußerung wie folgt: „Hinter Aussagen dieser Art wird ein enormer Anpassungsdruck spürbar. Das betreffende Kind […] hat die Botschaft klar verstanden. Sie lautet: Die ‚ausländische‘ Seite deiner Identität ist bei uns nicht gefragt; akzeptiert bist du bei uns, wenn du dich möglichst assimiliert zeigst“ (ebd.).
Fußnoten:
[1] Auszug aus Tariks Fragebogen: Frage 8: Fändest du es gut, wenn ihr in der Schule auch eine andere Sprache (deine Muttersprache) sprechen würdet? Warum?
Antwort: Ja, Kurdisch, weil das kann ich bestens.
[2] Hierbei sollte man bedenken, dass Kinder oft nicht einschätzen können, was es bedeutet eine Sprache „sprechen zu können“, sodass Kinder oft Sprachen angaben, in denen sie wenige Ausdrücke und Wörter sprechen können (z. B. Englisch). Einige Kinder gaben auch „Kölsch“ als Sprache an.
Literatur:
Belke, G. (2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren.
Eser Davolino, M. (2001): Viele Sprachen – eine Schule. Über Schulen mit Kindern aus mehreren Kulturen. Berne: Paul Haupt.
Gogolin, I. (1994): Der monolinguale Habitus der multilingualen Schule. Münster/ New York: Waxmann.
Schader, B. (2004): Sprachenvielfalt als Chance. Das Handbuch Hintergründe und
praktische Vorschläge für den Unterricht in mehrsprachigen Klassen. Troisdorf/ Zürich: Bildungsverlag EINS GmbH/ Orell Füssli Verlag.
Mit freundlicher Genehmigung des Schneider Verlages.
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