Falldarstellung
Siglen: L Lehrer Ge Gerald
B Bitta Sa Sandra
Sw Schülerin Sm Schüler
[In einem vorangehenden Aufgabe-Lösungs-Muster wurde der Zusammenhang der Todeserfahrungen des Protagonisten mit seinen Veränderungen erarbeitet.]
L: Es ist auf jeden Fall richtig, • die Toten in den verschiedenen Phasen |
1 |
L: haben etwas mit der Veränderung zu tun. Ob es jetzt die Anzahl der |
2 |
L: Toten ist oder andere Gründe gibt, • das müssen wir hinterfragen. • |
3 |
: Wie gehen wir also am besten vor? • • Ist es sinnvoll, dass Ihr • |
4 |
L: jetzt das ganze Buch noch mal neu lest und jeweils das Ganze |
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> /L: hinterfragt oder was sollen wir machen? • • Hm? Gerald. |
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L: („Ich) denke“ ist auch nicht besser.Ge: (Ich würd sagen/)ähm ich denke, • |
7 |
Ge: ((Lacht)) Ja gut. Man sollte am besten die Stellen lesen, wo Leute |
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Ge: sterben. Also (nochmal die/die/die/) von da, wo die gestorben sind, |
9 |
> vL: Hm. • • • Und wenn man sie gelesen hat,Ge: lesen, wie Ben sich da verhält. |
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L: dann legt man das Buch weg? • • •Ge: Ja, man müsste die auch die auch |
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> vL: Hmhm. Auf welche Frage?Ge: untersuchen die Stellen noch, auf die Frage. |
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Ge: Ja, wie er das verarbeitet,das was der/ • wie der trauert, was der |
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> v /L: Hm. Richtig. Ja.Ge: empfindet.Sw: Ja, wir können Notizen zu den einzelnen |
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Sw: Stellen machen und dann miteinander vergleichen wir es dann |
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> v /L: Hm. Ja.Sa: Nachdem ( ) vielleicht mal sehen, wie sich |
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L: • Das können wir durch den VergleichSa: das auf die nächste Welt auswirkt. |
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> /L: machen, ja, das wäre ein zweiter Schritt. Ähm, jetzt sind das ja mehrere |
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L: Ebenen, was bietet sich also an? • • (Ja.)Sm. Wenn das in Gruppen (gemacht |
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L: Ja. • • Genau das ist unsere Vorgehensweise. Ihr habt • logisch dasSm: wird.) |
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L: selber • • erkannt. Wir werden jetzt in Gruppen arbeiten. • • |
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Interpretation
Das Transkript setzt ein, nachdem die Todeserfahrungen des Protagonisten besprochen wurden und in einer neuen Aufgabe die Hintergründe erarbeitet werden sollen. In den Flächen (F1-2) fasst der Lehrer die zuvor erarbeiteten Inhalte zusammen und formuliert anschließend in (F2/3) eine textanalytische Fragestellung (die Gründe für die festgestellten Veränderungen sollen hinterfragt werden). Daran schließt sich eine Aufgabenstellung an: Wie gehen wir also am besten vor? . . Ist es sinnvoll, dass Ihr . jetzt das ganze Buch noch mal neu lest und jeweils das Ganze hinterfragt oder was sollen wir machen? (F74-6). Die Aufgabenstellung lenkt den Fokus der Schüler weg von den Inhalten und hin auf die Methode der Textanalyse, insbesondere durch die Fragewörter Wie und Was. Der Hinweis Ist es sinnvoll, das ganze Buch noch mal neu zu lesen impliziert eine handlungslogische Alternative: vollständige vs. partielle Lektüre. Zudem bringt die folgende mit oder angeschlossene Äußerung oder was sollen wir machen zum Ausdruck, dass der Vorschlag a) (vollständige Lektüre) vom Lehrer nicht als sinnvoll eingeschätzt wird, denn sonst würde sich die Frage nach einer Alternative erübrigen. Das bedeutet, der Lehrer schränkt den Antwortbereich auf eine sinnvolle und mögliche Antwort ein.
Die Antwort des Schülers Gerald in Fläche (F7-10) nimmt den Hinweis auf und liefert genau die implizierte Assertion, und zwar ohne neue thematische Aspekte. Diese fordert der Lehrer denn auch unmittelbar in seiner ironischen Bemerkung (F10/11) ein. Die folgende Antwort man müsste die Stellen noch auf die Frage hin untersuchen ist eine Paraphrase des ersten Teils der Aufgabenstellung des Lehrers das müssen wir hinterfragen. Insofern verwundert es nicht, wenn nun eine erneute Bitte des Lehrers um Präzisierung folgt. Die folgende Schülerantwort ist gekennzeichnet durch Vagheit und Allgemeinheit, erkennbar etwa an dem zweifachen unspezifischen Gebrauch der Deixis das in (F13/14). Das zeigt, der Schüler Gerald hat die Antwort nicht durch eine gezielte Suche in seinem textanalytischen Wissen gefunden, sondern durch Verarbeitung der propositionalen Gehalte der Aufgabenstellung des Lehrers. In den ersten beiden Äußerungen finden sich keine neuen inhaltlichen Elemente und in der dritten Äußerung bleibt das thematisch Neue ausgesprochen vage. Das legt den Schluss nahe, dass hier kein Lernen stattgefunden hat.
Die Antwort der Schülerin Sw in (F14/15) bringt einen neuen thematischen Aspekt ein; sie schlägt vor, Notizen zu machen und es zu vergleichen. Allerdings greift sie damit zwei Verfahrensweisen der vorangegangenen Stunden auf, nämlich das tabellarische Festhalten von Stichworten an der Tafel mit anschließendem Vergleich der verschiedenen Textstellen. Zudem verweist der deiktische Ausdruck es nur sehr vage auf einen Sachverhalt oder eine Äußerung. Die Tatsache, dass die Antwort genau auf die bekannten Verfahrensaspekte beschränkt ist und keine weiteren inhaltlichen Ergänzungen macht, legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei um eine eher mechanische Anwendung des bekannten Vorgehens auf einen neuen Fall handelt. Die folgende Antwort der Schülerin Sandra in (F17/18) ist analog gelagert; zudem wird der tentative Charakter in der Modalpartikel vielleicht explizit zum Ausdruck gebracht.
In (F18/19) bestätigt der Lehrer erneut die prinzipielle Richtigkeit der Vorschläge, weist sie aber dennoch implizit zurück, indem er eine Vorankündigung formuliert: Das können wir durch den Vergleich machen, ja, das wäre ein zweiter Schritt. Die erneute Formulierung der Aufgabenstellung in (F19/20) lenkt die Aufmerksamkeit der Schüler auf den für ihn relevanten Aspekt, indem er explizit mehrere Ebenen thematisiert, das gesuchte rhematische Element wird in der anschließenden Frage durch das Fragewort was vertreten. Das Stichwort mehrere Ebenen rekurriert auf ein spezifisches Schülerwissen, dass nämlich hier ein Fall für die arbeitsteilige Gruppenarbeit vorliegt. Genau dieses rhematische Element liefert der Schüler Sm in (F20/21). Die schnelle Bestätigung des Lösungsversuchs durch den Lehrer und das betonte Genau in (F21) bestätigen die Richtigkeit.
Zusammenfassend kann man zu den Schülerantworten festhalten, dass diese nicht auf der Bearbeitung des eigenen (methodischen) Wissens beruhen, sondern auf Paraphrasen von Lehreräußerungen, der unreflektierten Übertragung von bereits erprobten Verfahren sowie der Aktivierung spezifischen Schülerwissens; ein problemlösendes Handeln, d.h. die Suche nach angemessenen Methoden zur Beantwortung einer interpretatorischen Fragestellungen, ist an keiner Stelle erkennbar. Damit liegt genau einer der weiter oben angesprochenen Widersprüche und Paradoxien vor: Die Schüler finden die gesuchte Lösung nur scheinbar selbstständig, d.h. auf der sprachlichen Oberfläche; in Wirklichkeit entnehmen sie sie den Äußerungen des Lehrers.
Die Äußerung des Lehrers in (F21/22) Ihr habt . logisch das selber . . erkannt kann als Bearbeitung genau dieses rekonstruierten Widerspruchs verstanden werden. Der mehrfache Durchlauf durch die Musterpositionen Aufgaben-Stellung mit Wink – Lösungsversuch macht für alle Beteiligten offensichtlich, dass die Lösung weder selber gefunden noch selbst entwickelt wurde, sondern durch geschickte Lehrerfragen hervorgelockt wurde. Genau diesen Sachverhalt verschleiert die Lehreräußerung. Dahinter kann folgende Strategie vermutet werden: Indem der Lehrer das gewählte Verfahren „Gruppenarbeit“ den Schülern zuschreibt, d.h. als ihre Entscheidung definiert, verpflichtet er sie zugleich darauf. Die Entscheidung, im weiteren Verlauf in Gruppen zu arbeiten, erscheint so weniger als eine Aufgabenstellung des Lehrers als vielmehr als ein Vorschlag der Schüler. So wird der Eindruck erweckt, sie hätten sich auf die Gruppenarbeit selber verpflichtet. Dieses Verfahren ist für die Schüler nur schwer zu durchschauen, weil die Zuschreibung der Selbstverpflichtung in Form eines Lobs daherkommt. Damit wird ein Lösungsversuch im Rahmen eines Aufgabe-Lösungs-Musters unter der Hand vom Lehrer umdefiniert zu einer Selbstverpflichtung der Schüler. Wir haben es hier also mit einer in mehrfacher Hinsicht problematischen Realisierung des Aufgabe-Lösungs-Musters zu tun.
Der fragend-entwickelnde Unterricht kann nun genauer differenziert werden; es handelt sich nicht um ein einheitliches Verfahren, wie es der Terminus vorgibt, sondern ihm liegen unterschiedliche Diskursmuster zugrunde. Lehrerfragen spielen in mindestens den folgenden drei Mustern eine zentrale Rolle:
-> Im Aufgabe-Lösungs-Muster (Ehlich/Rehbein 1986, S. 14 ff.) geht es darum, eine klar umgrenzte Aufgabe zu lösen, so wie dies in Beispiel 1 der Fall ist. Für die Schüler besteht hier das zentrale Problem darin, dass sie den Gesamtplan nicht kennen und dass ihnen daher der Steuerungsmechanismus fehlt. Kompensatorisch suchen sie die Lösung dort, wo sie zu finden ist: in den Lehrerfragen und in ihrem Schülerwissen.
-> Im Lehrervortrag mit verteilten Rollen (ebd., S. 59 ff.) präsentiert der Lehrer sukzessive seinen propositionalen Gesamtplan und erfragt dabei immer wieder bestimmte rhematische, d.h. inhaltlich neue Elemente. Durch den thematischen Gehalt der Frage sowie die Fragewörter zeigt er den Schülern relativ genau an, welches Wissenselement gesucht wird. Im Idealfall liefern die Schüler genau dieses eine Element.
-> Das Muster des gemeinsamen Ventilierens (Rehbein 1985) funktionalisiert das alltägliche Erörtern für didaktische Zwecke. Das Erörtern hat den Zweck, sich über einen strittigen Sachverhalt argumentativ und ergebnisoffen auszutauschen, d.h. unterschiedliche Positionen vorzutragen, über die dann in einer gemeinsamen Entscheidung befunden wird. Beim schulischen Ventilieren fordert der Lehrer die Schüler auf, sich einen bestimmten Sachverhalt vorzustellen und in diesem Vorstellungsraum durch Schlussfolgerungen und ähnliche mentale Prozesse zu einer Entscheidung zu kommen. Im Unterschied zum Erörtern entscheidet jedoch der Lehrer aufgrund seines Fachwissens über die Richtigkeit der Entscheidung. Ähnlich wie bei den beiden anderen Mustern fehlt den Schülern jedoch auch hier das Gesamtziel, so dass sie sich weitgehend blind von einem zum anderen Vorstellungsraum bewegen.
Beispiel 2
Katrin: Ja gut, warte eben. Ja gut, ja nee? Da warte eben. Ich frage. |
1 |
Katrin: Passt doch irgendwie auch gar nicht.Komm.: (Es wird nun „Ja gut“ getilgt.) |
2 |
Frieda: Soll ich erst versuchen: Die Rote Hand. Der …Komm.: (Liest den Text lautbis zur bearbeiteten Stelle vor, während alle anderen still mitlesen.)[1] |
3 |
In Fläche (F1) unterbricht die lesende Schülerin ihr lautes Vorlesen und wiederholt zunächst die letzte, fragliche Textstelle und schiebt dann eine negative Einschätzung (nee) ein, die mit einer Frageintonation versehen ist, bevor sie die Stelle zu Ende liest. Erst dann folgt eine Begründung für die Einschätzung: Passt doch irgendwie auch gar nicht
(F2). Die adversative Modalpartikel doch (vgl. Weinrich 1993, S. 812 ff & S. 842 ff.) verweist auf die Differenz zwischen Formulierung und Formulierungsabsicht, ohne diese jedoch konkret zu benennen (irgendwie). Da die Einschätzung in der Gruppe offensichtlich unstrittig ist, wird die unpassende Formulierung getilgt. Daraufhin kündigt Frieda in (F3) ein erneutes lautes Vorlesen an; das Adverb erst bringt den vorläufigen Status der Revision zum Ausdruck, wie die folgende Paraphrase verdeutlicht: Soll ich die revidierte Formulierung erst einmal vorlesen, bevor wir sie endgültig übernehmen? Auf diese Weise schiebt sie das laute Vorlesen als Prüfinstanz in den laufenden Revisionsprozess ein. Der gesamte Verlauf macht deutlich, dass hier eine routinierte Handlung vorliegt.
Beispiel 3
Frieda: Er hörte aus der Truhe das Grummeln • von / • • • hörte aus/ ErKatrin:(Er hörte aus) der Truhe das/NVK Ka: Schreibt ——————————- |
1 |
Frieda:hörte aus der Kiste ein Grummeln, • würd ich schreiben, weil erKatrin: (Ein ?)NVK Ka:———————-/ Schaut zu Frieda. Schaut in seinen Text ——- |
2 |
Frieda:weiß ja gar nicht von was.NVK Ka:————————–/ |
3 |
Hier haben wir den seltenen Fall, dass eine linguistisch fundierte Begründung für eine Revision gegeben wird. Der bestimmte Artikel in das Grummeln wird durch den unbestimmten mit der Begründung ersetzt, dass der Aktant er nicht wisse, was er höre, m.a.W. es wird etwas Neues in den Textraum eingeführt und das geschieht üblicherweise mit dem unbestimmten Artikel.
Beispiel 4
Nick: Nein.Jochen:Es sah so aus • wie ein Skelett, das auf dem Boden lag? Es sah |
1 |
Nick: Ja, la/äh,Jochen:so aus, als ob ein Skelett auf dem Boden liegen würde?NVK Jo: Schaut zu Nick ———————/ |
2 |
Nick: sa/sah so aus, als ob ein Skelett auf dem Boden/Boden läge.Jochen: Lag. |
3 |
Nick: ((Überlegt 4 sec.)).Jochen: Okay. • • Moment, wo is das jetzt? • • Es sah soNVK Jo: schreibt – |
4 |
Nick: aus Komma als ob • • • • einNVK N: Schreibt ———————————————————-Jochen:aus, • also ob ein Skelett als obNVK Jo:——————————————————————— |
5 |
Nick: Skelett auf dem Boden läge. • • Es sah so aus, als obNVK N: Schreibt ——————————-/Jochen: Ach nee, Scheiße.NVK Jo: schreibt ———————————————————— |
6 |
Nick: ein Skelett auf dem Boden läge lagJochen: ( ) auf dem Boden lag auf demNVK Jo: schreibt ———————————————————– |
7 |
Nick: (paarNVK N: Lehnt sich zurück und liest seinen Text —————-Jochen: Boden lag. So.NVK Jo:————————————————————/ Liest in Nicks Text |
8 |
Nick: Stufen gegangen). Es war dunkel/ Lag.NVK N: Schreibt —–Jochen: Läg doch nicht. Ja, du hast haltNVK Jo:———————— —————————————–/ |
9 |
Nick: Ja Moment: dunkel im Keller, aber man konnte wasNVK N: ———————-/Jochen: läg geschrieben. |
10 |
Nick: sehen. Es sah so äus/aus, als ob ein Skelett a/auf dem Boden |
11 |
Nick: läge. Doch ist richtig. • Nee, lä/läge, das passt sonst nicht.Jochen: Lag! Als ob ein |
12 |
Nick: • • Ja okay. Punkt.Jochen Skelett auf dem Boden lag. Ja stimmt, läge. |
13 |
Das letzte Beispiel verdeutlicht noch einmal die verschiedenen diskursiven und kognitiven Funktionen des lauten Vorlesens bzw. Formulierens. In (F1) und (F2) liest der Schüler Jochen die fragliche Textstelle zweimal in unterschiedlichen Varianten vor; in beiden Fällen mit steigender Intonation zum Äußerungsende hin, d.h. mit Frageillokution. Das stellt eine Einladung an den Hörer dar, die Formulierung entweder zu ratifizieren, sie abzulehnen wie in (F1) oder eine eigene Alternative vorzuschlagen wie in (F2). In (F6) unterbricht Jochen seinen Prozess des Niederschreibens (Moment), um die fragliche Textstelle noch einmal laut und im Zusammenhang vorzulesen; dabei wird das fragliche Wort läge besonders betont. Die unmittelbar anschließende Äußerung Doch ist richtig bestätigt die eigene Formulierung und weist zugleich – mittels der Modalpartikel doch – die des Mitschülers explizit zurück. Das Fehlen linguistischer, in diesem Fall grammatischer Kategorien zur Entscheidung über die angemessene Modalität (Indikativ vs. Konjunktiv) verdeutlicht die Bedeutung, die dem lauten Formulieren bei der Entscheidung über schriftliche Formulierungen zukommt. Es wird von den Schülern in den Schreibkonferenzen systematisch genutzt.
Wie lässt sich nun die Funktion des lauten, formulierungsbegleitenden Verbalisierens erklären? Keseling (1988) beschreibt für die Schreibprozesse Erwachsener ganz ähnliche Phänomene. In sog. Lautes-Denken-Protokollen3 finden sich immer wieder Äußerungen der Schreiber wie Das klingt gestelzt oder Das hört sich zu salopp an. Diese Äußerungen beziehen sich in der Regel auf leise oder laut gelesene Formulierungen, die auf diese Weise negativ bewertet werden. Auch bei der Suche nach alternativen Formulierungen werden sog. Vorformulierungen sehr häufig laut verbalisiert. In Nachfrageinterviews bestätigen die Versuchspersonen, dass der Klang und der Rhythmus eines Textes beim Formulieren eine wichtige Hilfe darstellen. Keseling erklärt dieses Phänomen damit, dass Textmuster offensichtlich über eigene Klangstrukturen verfügen, auch wenn diese noch nicht im Detail rekonstruiert sind. Das laute Formulieren dient dazu, die Klangstruktur akustisch wahrnehmbar zu machen, um sie so besser beurteilen zu können. Wie Keseling weiter ausführt, „werden Textmuster beim Schreiben nicht einfach aus dem Musterwissen abgerufen, sondern es bedarf Anstrengungen besonderer Art, dieses Wissen zunächst zu vergegenwärtigen…“, was sich in der Schwierigkeit des ersten Satzes niederschlägt (ebd., S. 233).
Ist das Textmuster jedoch einmal gefunden, dann kommt den Klangstrukturen beim Schreiben die Funktion zu, Formulierungen quasi reflexhaft zu beurteilen, indem neue Formulierungen auf ihre Verträglichkeit mit der Klangstruktur vorausliegender verglichen werden. Nach Keseling erlauben erst die Klangstrukturen schnelle Entscheidungen über die Angemessenheit von Formulierungen.
Konkret können hieraus zwei didaktische Konsequenzen gezogen werden: Zum einen sollte das laute Lesen im Unterricht gezielt eingesetzt werden, um den Aufbau von textartspezifischen Klangstrukturen zu fördern. Und zum anderen ist das mehrfache laute Vorlesen bzw. Vorsprechen einzelner Formulierungen systematisch in die Textrevision selbst einzubeziehen. Dafür bietet die Konferenz zudem einen guten Rahmen, weil das Vorlesen und Äußern von Formulierungsvorschlägen in der Gruppe seinen funktionalen Ort hat, anders als bei der individuellen Arbeit, wo es ein Sprechen mit sich selbst ist.
Fußnoten
2 Die kursiv gesetzten Textstellen zeigen an, dass hier etwas vorgelesen oder eine alternative Formulierung laut vorgetragen wird.
Literatur
Ehlich, Konrad (Hg.): Erzählen in der Schule. Tübingen: Narr 1984
Ehlich, Konrad/Rehbein, Jochen: Muster und Institution. Untersuchungen zur schulischen Kommunikation. Tübingen: Narr 1986
Keseling, Gisbert: Textmuster und Klangstrukturen als Grundlage von Bewertungen beim Schreiben. In: Brandt, Wolfgang (Hg.): Sprache in Vergangenheit und Gegenwart. Marburg: Hitzroth 1988, S. 219-236
Weinrich, Harald: Textgrammatik der deutschen Sprache. Mannheim usw.: Dudenverlag 1993
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