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Andreas Wernet:
„Mein erstes Zeugnis“
Zur Methode der Objektiven Hermeneutik und ihrer
Bedeutung für die Rekonstruktion pädagogischer Handlungsprobleme
1. Sinnrekonstruktion als Textrekonstruktion
2. Manifeste und latente Sinnstrukturen
3. Zur Lokalisierung der Objektiven Hermeneutik im Feld qualitativer Methoden
4. Zum methodischen Vorgehen
Wörtlichkeit
Kontextfreiheit
Sequenzialität
5. „Mein erstes Zeugnis“ – Eine Beispielinterpretation
6. Abschließende Bemerkungen
Fußnoten
1. Sinnrekonstruktion als Textrekonstruktion
Bei der Objektiven Hermeneutik handelt es sich um ein Verfahren der Textinterpretation, das von dem Frankfurter Soziologen Ulrich Oevermann seit den 1970er Jahren entwickelt wurde. Sie gehört zu den so genannten qualitativen Methoden. Diese Methoden haben sich im 20. Jahrhundert in Opposition (und/oder Ergänzung) zu sozialwissenschaftlichen Forschungsprozeduren entwickelt, die sich an dem in den Naturwissenschaften formulierten gesetzeswissenschaftlichen Forschungsverständnis (basierend auf der Formulierung von gesetzeswissenschaftlichen Hypothesen und ihrer experimentellen Überprüfung; Bewährung oder Falsifikation der Hypothese an Erfahrungstatsachen) orientieren und versuchen, dieses Forschungsverständnis auf die Welt der sozialen Erscheinungen zu übertragen. Es geht ihnen um eine Methode des Verstehens sozialer Phänomene gegenüber Methoden der tatsachenwissenschaftlichen Erfassung ihres Vorkommens und Methoden der Erforschung von Zusammenhängen auf dem Wege der zahlenförmigen Angabe der Wahrscheinlichkeit des gemeinsamen Auftretens von Phänomenen, um so kausale Bedingtheiten zu erfassen. Die so genannten „quantitativen Methoden“ sind ihrerseits natürlich auf Verstehensprozesse angewiesen. Wer etwa auf statistischem Wege den Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Schulerfolg untersucht, nimmt nicht nur ein spezifisches Vorverständnis in Anspruch, sondern geht auch davon aus, dass dieser Zusammenhang ein „sinnvoller“ ist; ein Zusammenhang, der sinnhaft strukturiert ist und der sich nicht unabhängig von den Handlungsmotiven und Handlungsorientierungen der Subjekte herstellt. Die quantitative Forschungspraxis operiert gleichsam auf dem Hintergrund dieser Sinnbezüge, ohne sie methodisch explizit in Rechnung zu stellen.
Das qualitative Forschungsverständnis dagegen erhebt den Anspruch, methodische Verfahren zu entwickeln, die explizit auf die sinnhafte Verfasstheit der sozialen Welt bezogen sind. Es geht bei diesem Forschungsansatz also darum, ein methodisch kontrolliertes Vorgehen nicht nur auf dem Boden und vor dem Hintergrund eines sinnstrukturierten Gegenstands zu praktizieren, sondern die sinnverstehenden Erschließungen dieses Gegenstands selbst forschungsmethodisch ins Zentrum zu rücken.
Wie muss eine Methode verfasst sein, die diesem verstehenden Anspruch gerecht wird? Bei der Beantwortung dieser Frage schlägt die Objektive Hermeneutik einen besonderen Weg ein. Während phänomenologische, ethnographische und wissenssoziologische Ansätze Methoden der lebensweltlichen Erkundung („Eintauchen in die Lebenswelt“) und des Sich-vertraut-machens mit den zu erforschenden Phänomenen formulieren und eine verstehende Methode auf die „intime“ Beziehung zwischen Forschungsobjekt und –subjekt („going native“) zu gründen versuchen (s.u., Kap. III), gründet sich der methodische Anspruch der Objektiven Hermeneutik auf Texte als Gegenstand des Verstehens (deshalb: Hermeneutik). Der methodische Kerngedanke besteht in folgender Überlegung: Die Sinnstrukturiertheit der sozialen Wirklichkeit schlägt sich in Texten nieder („Textförmigkeit der sozialen Wirklichkeit“). Wenn wir diese Texte protokollieren (soweit wir es nicht schon mit einer sich selbst protokollierenden Praxis – Briefwechsel; Zeitungsartikel; Reden; Texten von Anrufbeantwortern usw. – zu tun haben), dann verfügen wir über „exakte“ Daten der sinnstrukturellen Verfasstheit der sozialen Praxis. Die Rekonstruktion dieser Verfasstheit besteht dann in nichts anderem als in der Rekonstruktion der protokollierten Texte. Um z.B. die Struktur einer Eltern-Kind-Interaktion oder einer Lehrer-Schüler-Interaktion auf methodisch kontrollierte Weise in den Blick zu nehmen ist es notwendig, die jeweiligen Interaktionen „ungefiltert“ (1) zu protokollieren (in der Regel durch die Erstellung eines Tonbandprotokolls und einer Transformation dieses Protokolls in eine schriftliche Form) und dieses Protokoll ausführlich und detailgetreu zu interpretieren.
Zum Verständnis dieses einerseits sehr einfachen und naheliegenden, andererseits im Kontext qualitativer Forschung eigentümlich „artifiziellen“ (wir haben es ja in der Objektiven Hermeneutik nie mit unmittelbaren Lebenseindrücken, sondern immer nur mit „kalten“ Protokollen zu tun) Forschungszugriffs, ist vielleicht ein Hinweis auf den Entstehungskontext dieser Methode hilfreich. Sie ist im Zusammenhang der Erforschung familialer Interaktion formuliert worden. Hier zeigte sich ein spezifisches Problem der Datenerhebung: Sobald sich der Forscher in einer Familie aufhält um Aufschluss über ihre innere Verfasstheit zu erlangen, steht er vor dem Problem, dass die Familie ihre Interaktionspraktiken in Anwesenheit des Forschers ändert. Sie errichtet eine Fassade und verwehrt den Forschern den Blick „hinter die Bühne“. In der detaillierten Analyse der familialen Interaktionsprotokolle zeigte sich dann, dass das Bühnenspiel „zwischen den Zeilen“ zu erkennen gab, was es verbergen und für sich behalten wollte. Durch die Protokolle hindurch war so auf dem Wege einer Textrekonstruktion gleichsam ein Blick hinter die Fassade möglich.