Falldarstellung
Der folgende Vorfall wurde von der Studentin M.F. beschrieben:
In einer großen Pause, in der sich die Schüler und Schülerinnen der Grundschule auf dem Schulhof befinden, führt die Lehrerin Frau A. Aufsicht. Sie beobachtet, wie sich einige Mädchen und Jungen ihrer 4. Klasse in stiller Absprache zum Fangspiel „Mädchen fangen“ auf einem bestimmten Platz auf dem Pausenhof zusammenfinden.
Das Spiel beginnt und verläuft reibungslos bis Maikel, ein weiterer Junge der Klasse, auftaucht und sich auch am Spiel beteiligt. Nach kurzer Zeit beginnt ein Streit, denn den Mädchen ist es nicht recht, dass Maikel mitspielt und sie kommen auf die Lehrerin zu.
Anne: „Der Maikel nervt, der soll nicht mitmachen.“
Die Lehrerin fragt daraufhin: „Warum?“
Die Mädchen antworten einstimmig: „Weil wir den blöd finden und nicht mögen.“
Maikel kommt nun auch zu der Gruppe und fragt die Lehrerin vor den Mädchen: „Es gab keine Mannschaften und es kann doch jeder mitspielen, der will, aber die Mädchen sagen, ich darf nicht. Warum denn?“
Lehrerin: „Ich weiß auch nicht Maikel. Seid doch nicht so albern Mädels und lasst Maikel auch mitspielen.“
Die Mädchen kehren zurück zu ihrem Spiel, auch Maikel spielt mit. Dann kommt es erneut zu einem Streit zwischen einem Mädchen und Maikel, weil dieses sich von ihm nicht fangen lassen will, bis das Mädchen weint.
Die anderen Mädchen laufen zu Frau A.: „Sehen Sie, Maria weint. Wir haben doch gesagt, Maikel soll nicht mitspielen.“
Interpretation
Die Kinder der vierten Klasse spielen während der Pause „Mädchen fangen“. Dabei entsteht ein Streit, infolgedessen sich die Mädchen an ihre Klassenlehrerin wenden, die die Pausenaufsicht durchführt. Bei der Delegation des Problems an die Lehrerin geht es den Mädchen aber weniger um eine Klärung, sondern sie suchen nach Unterstützung bei der Durchsetzung ihrer Interessen: „Der Maikel nervt, der soll nicht mitmachen.“ Da es den Mädchen allein nicht gelingt, Maikel vom Spiel auszuschließen, wird die Lehrerin um Mithilfe gebeten.
Die Lehrerin hätte nun prinzipiell zwei Möglichkeiten, auf die Anfrage der Mädchen zu reagieren. Angesichts der Tatsache, dass es sich nicht um Unterricht, sondern um ein Pausenspiel handelt, könnte sie das Problem an die Kinder zurückgeben, mit der Aufforderung, es selbstständig zu bearbeiten. Für dieses Verfahren könnte ebenfalls sprechen, dass es der Lehrerin im Rahmen der Pausenaufsicht vielleicht nicht möglich ist, sich intensiv mit dem Problem der Kinder auseinander zu setzen oder sie prinzipiell der Auffassung ist, dass diese lernen müssen, ihre Probleme selbstständig zu klären.
Die zweite Möglichkeit besteht darin, die stellvertretende Problembearbeitung zu übernehmen. Voraussetzung hierfür wäre, dass die Lehrerin sich dafür zuständig fühlt, sei es in ihrer Funktion als Pausenaufsicht, sei es, weil sie die Klassenlehrerin der 4. Klasse ist und dementsprechend ein gesteigertes Interesse an den sozialen Interaktionen zwischen den SchülerInnen bzw. an der Klassenatmosphäre hat.
Dies ist auch der Weg, den die Lehrerin mit ihrer Nachfrage einzuschlagen scheint. Dabei lässt sie sich nicht so ohne weiteres für die Interessen der Mädchen vereinnahmen, sondern scheint zunächst genauer herausfinden zu wollen, worin das Problem besteht. Dementsprechend fragt sie nach, warum Maikel nicht mitspielen soll. Die Antwort der Mädchen erfolgt einstimmig: „Weil wir den blöd finden und nicht mögen.“
Durch das Hinzukommen von Maikel wird eine Fortsetzung des Dialogs zwischen den Mädchen und Frau A. zunächst verhindert. Die Lehrerin gerät in eine prekäre Situation, weil Maikel nun seine Sicht der Dinge darstellt und abschließend fragt, warum die Mädchen nicht wollen, dass er mitspielt. Da in der dritten Person über „die Mädchen“ gesprochen wird, scheint sich die Frage an die Lehrerin zu richten, die sich auch zu einer Antwort herausgefordert fühlt. Sie behauptet zunächst, nicht zu wissen, warum Maikel nicht mitspielen darf. Diese Antwort kann unterschiedlich interpretiert werden. Zum ersten könnte die Lehrerin damit zum Ausdruck bringen, dass sie die Begründung der Mädchen für Maikels Ausschluss als noch nicht hinreichend ansieht. Um Maikel guten Gewissens Auskunft geben zu können, müsste sie mehr darüber wissen, warum die Mädchen Maikel „blöd finden und nicht mögen“. Erst dann wäre auch die Voraussetzung gegeben, um das Problem nicht nur einseitig im Interesse der Mädchen zu „lösen“, sondern zu einer weitergehenden stellvertretenden Problembearbeitung zu gelangen.
Oder aber – und darauf scheint die nachfolgende Äußerung der Lehrerin hinzudeuten – sie hält die Begründung der Mädchen prinzipiell für unzureichend. Selbst wenn die Mädchen Maikel nicht mögen, wäre dies demnach kein Grund, ihn auszuschließen.
Zum zweiten könnte man die Äußerung der Lehrerin auch als Notlüge auffassen, da es kaum möglich wäre, Maikel die Begründung seiner Mitschülerinnen wiederzugeben, ohne ihn zu verletzen.
Der zunächst begonnene Versuch der stellvertretenden Problemdeutung wird von der Lehrerin im Folgenden nicht fortgesetzt. Stattdessen scheint sie nun einer eher pragmatisch orientierten Problembearbeitungsstrategie zu folgen: Sie fordert die Mädchen auf, Maikel mitspielen zu lassen. Für dieses Vorgehen könnten zwei Gründe sprechen: Entweder geht die Lehrerin davon aus, dass das Problem nicht oder zumindest nicht so ohne weiteres zu „lösen“ ist und hofft, dass das Spiel der Kinder trotzdem „irgendwie“ läuft. Vielleicht weiß sie ja oder ahnt zumindest, warum die Mädchen Maikel nicht leiden können, und sie sieht in dieser Situation keine Möglichkeit, daran etwas zu ändern und ihn besser in die Klasse zu integrieren. Im Gegensatz zum Vorfall unter 4.1 deuten die Äußerungen der Mädchen jedenfalls auf ein grundlegendes, überdauerndes Problem hin, und nicht auf einen punktuellen Konflikt, weil Maikel sich z.B. beim Fangspiel regelwidrig verhält.
Zum zweiten könnte das Vorgehen der Lehrerin auch darauf zurückzuführen sein, dass sie das Anliegen der Mädchen nicht ernst nimmt, dass das Problem für sie nicht mehr als eine Bagatelle darstellt. Für diese Interpretation spricht auch ihre Aufforderung an die Mädchen „nicht albern“ zu sein, die gerade angesichts der zunächst auf eine weitergehende Problemdeutung hinweisenden Frage nach dem „warum“ des Ausschlusswunsches erstaunt. Das anfangs scheinbar an stellvertretender Problemdeutung interessierte Handeln der Lehrerin scheint hier nur noch darauf gerichtet zu sein, das Gespräch zu beenden und das Spiel wieder aufzunehmen.
Dies scheint zunächst auch erfolgreich zu sein. Die SchülerInnen setzen ihr Spiel fort und auch Maikel beteiligt sich. Allerdings hält der „Frieden“ nicht lange, denn Maikel gerät mit Maria in Streit, weil diese sich von ihm nicht fangen lassen will. Das unbearbeitete Problem lässt sich offenbar nicht übergehen. Die Hoffnung der Lehrerin erweist sich damit als unberechtigt.
Was hätte die Lehrerin anders machen können? Welche Handlungsalternativen stehen ihr zur Verfügung?
Für die Beantwortung dieser Frage scheint hier eine tiefergehende Problemdeutung notwendig. Denn der Konflikt zwischen Maikel und den Mädchen der 4. Klasse scheint, wenn man der Begründung der Mädchen folgt, die aktuelle Manifestation eines überdauernden, latenten Problems darzustellen und kein punktuelles, einmaliges Ereignis. Die Mädchen verweisen nämlich nicht auf das konkrete Verhalten Maikels beim Fangen spielen, sondern darauf, dass sie ihn nicht mögen. Maikel scheint demnach ein prinzipielles Problem in seiner Klasse, zumindest mit „den“ Mädchen der Klasse zu haben.
Aber auch der konkrete Konflikt bedarf der genaueren Untersuchung. Offenbar treffen hier unterschiedliche Interessen und Bedürfnisse aufeinander, die es zunächst einmal offenzulegen gilt, um dann Möglichkeiten eines angemessenen Umgangs zu finden. Maikel hat zunächst das Bedürfnis, am Pausenspiel seiner 4. Klasse teilzunehmen. Diesem Anliegen kann nur schwer widersprochen werden, denn selbst wenn es sich um keine Unterrichtsveranstaltung handelt, lassen sich aus einer pädagogischen Perspektive kaum Gründe für den Ausschluss einzelner Kinder aus Klassenaktivitäten finden. Im Interesse der Klassenlehrerin liegt es jedenfalls, dass genau dies nicht geschieht. Ihr müsste auch daran gelegen sein, dass kein Kind in eine Außenseiterposition gerät.
Demgegenüber stellt sich die Frage, ob die Mädchen das Recht haben selbst zu entscheiden, mit wem sie spielen und mit wem nicht. Für ihre Freizeit gilt dies sicher. Hinsichtlich von Paar- und Gruppenaktivitäten in der Pause scheint es auch noch zuzutreffen. Wenn es sich aber um Aktivitäten handelt, in die die gesamte Klasse einbezogen ist, dann scheint das Recht der Mädchen auf Selbstbestimmung seine Grenze zu finden in dem Recht aller Kinder auf Teilnahme.
Zu berücksichtigen ist allerdings noch, dass es sich nicht um „irgendein“ Spiel handelt, das in der Pause gespielt wird, sondern um ein Fangspiel. Hierbei ist zu beachten, dass Fangspiele prinzipiell nicht nur ein miteinander Spielen beinhalten, sondern auch sich anzufassen bzw. aus der Sicht der Mädchen: angefasst zu werden. Haben die Mädchen nicht das Recht, selbst darüber zu entscheiden, wer sie anfassen darf? Und wehren sie sich nicht mit Recht dagegen, dass sie gegen ihren Willen angefasst werden?
Hinzu kommt, dass es sich um ein ganz besonderes Fangspiel handelt, nämlich um „Mädchen fangen“. Bei diesem Spiel geht es im Vergleich zu den meisten anderen Fangspielen nicht allein um Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Diese motorische Ebene wird überlagert von einer affektiven. Die „Jagd“ eines bestimmten Jungen auf ein bestimmtes Mädchen stellt gleichzeitig eine Sympathiebekundung dar oder wird als solche interpretiert. Damit ist zumindest für einige der beteiligten Kinder von entscheidender Relevanz, wer wen fängt.
Folgt man der Deutung, dass es sich bei dem Konflikt zwischen Maikel und den Mädchen um ein überdauerndes Problem handelt, dann ist dieses wahrscheinlich nicht angemessen im Rahmen der Pausenaufsicht zu bearbeiten. Insofern ist nachzuvollziehen, dass die Lehrerin keine weitergehenden Erörterungen anstellt. Allerdings scheint auch das Bagatellisieren des Problems weder angemessen noch zweckmäßig. Welche Möglichkeiten bleiben der Lehrerin aber dann in der vorliegenden Situation? Wenn sich die Mädchen von Maikel nicht fangen lassen wollen, Maikel andererseits nicht von den Klassenaktivitäten ausgeschlossen werden soll, dann kann dies nur bedeuten, dass die SchülerInnen sich auf ein anderes, weniger konfliktträchtiges Spiel verständigen müssten. Genau dies sollte m.E. auch von der Lehrerin an die Kinder weitergegeben werden: „Ihr könnt Maikel nicht aus eurem Spiel ausschließen, wenn sich sonst die ganze Klasse beteiligt. Wenn ihr nicht wollt, dass er euch fängt, dann müsst ihr etwas anderes spielen.“
Unabhängig davon, ob es den Kindern gelingt, zu einer für alle befriedigenden Lösung zu gelangen, wäre es für die Klassenlehrerin darüber hinaus notwendig, eine weitergehende Erörterung des Problems mit der Klasse vorzunehmen, allerdings unter anderen Rahmenbedingungen. Dass innerhalb einer Klasse nicht jedes Kind jedes andere mag, ist selbstverständlich und auch, dass manche Kinder größere Schwierigkeiten haben Anschluss zu finden als andere. Trotzdem müssen Möglichkeiten gefunden werden, miteinander zurechtzukommen und die Ausgrenzung einzelner Kinder zu verhindern. Diese Problematik kann aber nicht im Rahmen der Pausenaufsicht bearbeitet werden, insofern ist nachzuvollziehen, dass die Lehrerin sich nicht weiter darauf einlässt.
Stellvertretende Problembearbeitung im pädagogischen Arbeitsbündnis findet offenbar z.T. unter Bedingungen statt, die zunächst pragmatische Lösungen verlangen, während die weitergehende Problembearbeitung zeitlich verschoben werden muss. „Pragmatisch“ bedeutet jedoch nicht, dass das Problem bagatellisiert wird, es bedeutet auch nicht, dass in Konflikten nur eine Seite – in diesem Fall die von Maikel – Berücksichtigung findet. Auch wenn die Situation der Pausenaufsicht eine intensive Beschäftigung der Lehrerin mit dem Konflikt der Kinder verhindert, auch die vorläufige „Lösung“ des Problems scheint im vorliegenden Fall nicht ohne ein Ausbalancieren der unterschiedlichen Ansprüche auskommen zu können. Diese Balanceleistung erfordert nicht nur eine schnelle Problemdeutung, sondern bei der Reflexion der stellvertretenden Problembearbeitung im engeren Sinne vor allem auch ein schnelles Erfassen der durch die situativen Rahmenbedingungen gegebenen Möglichkeiten und Grenzen.
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