Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im folgenden Abschnitt möchte ich einige Interviewausschnitte aus dem zweiten, vierten und sechsten Schuljahr vorstellen, die als Reaktion auf die Impulsgeschichte zum Schlüsselproblem Arbeitslosigkeit zustande gekommen sind. Die Interpretationen können zeigen, wie die vorgestellten Auswertungsschritte am konkreten Material angewendet werden können.
Die ersten Reaktionen auf die Impulsgeschichte (1) vom arbeitslosen Bernd (vgl. Abschnitt Impulsgeschichten) fielen einheitlich so aus, dass niemand Bernd beneidete. Der Zusammenhang zwischen Arbeit, Geld-Verdienen und Konsummöglichkeit war allen sofort bewusst. Die Konsequenz aus der Arbeitslosigkeit, nämlich dass Bernd sich einschränken muss, wurde unmittelbar genannt.

Stefan: Jeder Mensch braucht Geld vom Arbeiten
Christian: Ja
Jürgen: Sonst hat er kein Geld und hat Hunger
(4.Schuljahr)

Dass Arbeit über das Geld-Verdienen auch eine wesentliche sinnstiftende Komponente der Lebensgestaltung ist, wurde nur zweimal genannt:

Gero: Und manchmal macht arbeiten auch Spaß
Andy: Manchmal
Mohammed: Nur manchmal
(4.Schuljahr)

Die Ursachen für Arbeitslosigkeit wurden von den Kindern auch nur in wenigen Ausnahmen bedacht. Die Arbeitslosigkeit von Bernd wurde als unhinterfragte Tatsache übernommen. Eine Ausnahme gab es im vierten Schuljahr, wo ein Junge die Ursache des Verlustes des Arbeitsplatzes in struktureller Arbeitslosigkeit sieht:

Jürgen: Ja oder es war früher früher hat früher war gabs auch noch net so viel Maschinen und da hat da hatten ham auch noch alle (Christian: Hmhm) Menschen gearbeitet also vielleicht n paar Maschinen wegtun
Stefan: Ja da hatten die meisten ham auch bei der Eisenbahn gearbeitet Jürgen: Ja hm n bisschen mehr Arbeit gehabt
(4. Schuljahr)

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Arbeitslosigkeit als negatives Ereignis gewertet wurde, da es ohne Arbeit schwer wird, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Dabei stellen sich die Kinder im zweiten und auch im vierten Schuljahr die Folgen sehr drastisch vor. Häufig wird Obdachlosigkeit und Hunger genannt.

Nicole: Für den ja auch schlecht dass er jetzt arbeitslos ist
Ingrid: Ja
Interviewerin: Mhm
Ingrid: Da können eh die sich ja eh ehh keine zum Beispiel Wohnung leisten dann müssen die auf der Straße leben das find ich auch nicht so schön
Marianne: Also ein bisschen hat er doch noch oder?
Interviewerin: Ja ein bisschen hat er schon noch Marianne. Dann reichts für ne Wirtschaft … aber ……….fürn Fahrrad reichts net
Sabine: Ne Marianne: Für ein Glas Bier reichts aber …
(2.Schuljahr)

Im sechsten Schuljahr können die Folgen der Arbeitslosigkeit realistischer gesehen werden. So wissen die Kinder, dass Bernd durchaus noch Geld (Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe) bekommt, auch wenn dies weniger ist als vorher. Durch die geschmälerten finanziellen Möglichkeiten ist er schnell z.B. von seiner Mutter abhängig, wenn er dort wieder wohnt. Auch die Gefahr, sich zu verschulden, wird gesehen.
Die Kinder erwähnen auch, dass sich viele Leute schämen, wenn sie Geld vom Sozialamt bekommen. Allerdings wird dann auch argumentiert, Ausländer bekämen mehr Geld, obwohl sie große Autos und Häuser hätten. Dass diese Argumentation nicht mit dem Wissen um die Höhe von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe zu verbinden ist, wird nicht registriert.

Helga: Der kriegt ja Arbeitslosen aber das reicht eim ja meistens nicht Tanja: Vom Sozialamt
Nadja: Kannst doch net vom Sozialamt …
Helga: Tanja du bist auch so n Sozialamt
Miriam: … kriegt man nur wenn man das ham will
(…)
Nadja: Oder?
Miriam: Kriegen außerdem kriegen das meistens nur die Ausländer
Tanja: Meistens
Helga: Ne das stimmt riet
Nadja: Stimmt überhaupt nicht
Tanja: Die n dicken BMW fahren
Miriam: Ja
(6.Schuljahr)

Die Kinder sehen bereits im zweiten Schuljahr die Verbindung zwischen sozialer Anerkennung und Arbeitsplatz. Wer Arbeit hat, wobei Erwerbsarbeit gemeint ist, hat es leichter, Anerkennung zu erfahren. Dabei wissen die Kinder auch: Je höher das Einkommen, desto höher das Ansehen.
Klar ist auch: ein Arbeitsloser muss Einschränkungen im Freizeitbereich hinnehmen.
Im vierten und sechsten Schuljahr wird dem Arbeitslosen immer weiter das Recht aberkannt, am sozialen Leben teilzunehmen. Wer Arbeitslosengeld bekommt, so die Ansicht, soll es für die Grundbedürfnisse ausgeben und nicht ins Kino oder in die Kneipe gehen und es sich gut gehen lassen.
Die Kinder wissen bereits im zweiten Schuljahr von ambivalenten Reaktionen der Freunde auf die Arbeitslosigkeit. Sowohl Unterstützung für Bernd als auch Spott sind erwartete Reaktionen.
Auch im vierten Schuljahr wird eine ambivalente Reaktion der Freunde erwartet. Die Jungen können sich vorstellen, dass die Freunde in Bernd auch
einen Faulenzer sehen. Neid kann leicht aufkommen, wenn die Freunde abends müde von der Arbeit kommen und Bernd sich den ganzen Tag ausgeruht hat.
Noch drastischer sind die Äußerungen im sechsten Schuljahr, wo nun auch Freundschaftsbeziehungen nach Maßstäben von Geben und Nehmen beurteilt werden: Wenn Bernd niemanden einladen kann und auch keine Feier veranstalten kann, soll er sich nicht einladen lassen und auch an keiner Feier teilnehmen.

Johannes: Macht dann auch n komischen Eindruck das macht dann auch mit Sicherheit manche stutzig die ihn kennen er sagt er sei arbeitslos und hätte kein Geld und dann geht er abends weg oder so
(6.Schuljahr)

Tanja: Außerdem man braucht ja auch keine schicken Klamotten ich mein …
Helga: Ja eben
Tanja: .., wenn er ja eh nicht weggehen kann ja mit seinem Geld ja dann kann er ja auch braucht er auch keine Klamotten wenn er eh nicht weggehen kann wenn er kein Geld hat
(6.Schuljahr)

Die Vorschläge für die Arbeitssuche sind im vierten Schuljahr umfassender als im zweiten Schuljahr, wo Bernd Aushilfstätigkeiten in der Nachbarschaft empfohlen wurden. So werden die Möglichkeiten genannt, eine Zeitungsannonce aufzugeben oder die Stellenangebote in der Zeitung und an Aushängen zu beachten. Die Kinder wissen von der Schwierigkeit, eine Arbeit zu finden.
Beachtenswert ist, wie mit zunehmendem Alter der Kinder die Arbeitslosigkeit sehr ambivalent bewertet wird, ohne dass die Kinder darin einen Widerspruch erkennen. Zum einen wird der Arbeitslose bemitleidet und seine Situation als schlimm bewertet. Andererseits klingen immer wieder Töne an, die die Arbeitslosigkeit als Eigenverschulden hinstellen. Vielleicht genießt es der Arbeitslose gar und macht sich mit dem Arbeitslosengeld ein angenehmes Leben? – Das ambivalente Bild, das unsere Gesellschaft von Arbeitslosen und in diesem Zusammenhang auch von Ausländern, die scheinbar von unserem Sozialsystem profitieren, hat, ist im sechsten Schuljahr bereits stabil vorhanden,
Im sechsten Schuljahr werden vermehrt Begriffe wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Wohngeld, Sozialamt und Arbeitsamt verwendet. Dabei können sie aber nur sehr ungenau genutzt werden und nicht mit richtigen Inhalten gefüllt werden.
Zunächst gilt Geld als Tausch-, nicht als Prestigemittel. Im sechsten Schuljahr ist Geld auch da, um Prestige im Freundeskreis zu erwerben.

Fußnote:

(1) Tanjas Bruder Bernd hat seine Lehre als Automechaniker beendet und arbeitet nun schon seit drei Jahren in einer Autowerkstatt. Nun muss der Betrieb schließen. Bernd ist jetzt arbeitslos und weiß noch nicht, ob er bald wieder Arbeit bekommt. Er hat jetzt viel Zeit.
Seine Schwester Tanja, die noch zur Schule geht, wünscht sich auch so viel Freizeit wie Bernd. „So ein Leben möchte ich auch einmal haben“, sagte sie eines Tages zu ihrer Mutter.
Die Mutter antwortete nachdenklich: „Glaubst du wirklich, dass Bernd so ein angenehmes Leben hat?“

Nutzungsbedingungen:
Das vorliegende Dokument ist ausschließlich für den persönlichen, bzw. nicht-kommerziellen Gebrauch bestimmt – es darf nicht für öffentliche und/oder kommerzielle Zwecke außerhalb der Lehre vervielfältigt, bzw. vertrieben oder aufgeführt werden. Kopien dieses Dokuments müssen immer mit allen Urheberrechtshinweisen und Quellenangaben versehen bleiben. Mit der Nutzung des Dokuments werden keine Eigentumsrechte übertragen. Mit der Verwendung dieses Dokuments erkennen Sie die Nutzungsbedingungen an.