3. Prinzipien und Prämissen der Ethnographie des Alltäglichen
Je nach Forschungsinteresse rekurrieren zeitgenössische Studien auf verschiedene Traditionslinien der Ethnographie, mit ihren je spezifischen Perspektiven (auf das Fremde und Eigene) und theoretischen Annahmen. Diese disziplinären und theoretischen Unterschiede zeigen: „Ethnographie ist nicht gleich Ethnographie“ (Thole 2010, S. 29). Ethnographie ist dementsprechend auch keine Methode, sie lässt sich eher als „Denk- und Darstellungsstil“ (Kalthoff 2011, S. 149) oder als ein „Way of Seeing“ (Wolcott 1999) verstehen. Als unterschiedlich akzentuierte Forschungsstrategie kann sie einerseits verschiedene Methoden integrieren (neben Beobachtungen z. B. Foto-, Video-, Dokumenten- und Gesprächsanalysen), beruht jedoch andererseits auf spezifischen Erkenntnishaltungen bzw. spezifischen Forschungsverständnissen. Wie bereits deutlich wurde, zeichnen sich ethnographische Arbeiten zunächst durch die Zielsetzung aus, soziale Lebenswelten zu erkunden, zu beschreiben und zu verstehen (vgl. Hitzler/Gothe 2015, S. 10). Es plausibilisiert sich vor diesem Hintergrund die Nähe von ethnographischer Forschung zu „Wie-Fragen“, die in einem ersten Schritt interessieren: Wie (und nicht ‚wie gut‘, ‚wie oft‘ oder ‚wieso‘) wird etwas gemacht bzw. interaktiv hervorgebracht (z. B. der Klassenrat, das Experimentieren, die Mediennutzung)? Diese grundlegende ethnographische Zielsetzung und Erkenntnishaltung wird von methodologischen Prinzipien und Prämissen bedingt, von denen wir die aus unserer Sicht zentralen im Folgenden charakterisieren.
3.1 Präsenz im Alltag des Feldes – Beobachten
Das explorative Anliegen einer Erkundung setzt in genuin ethnographischer Tradition auf die Anwesenheit vor Ort – auf die Kopräsenz, d.h. die zeitliche und örtliche Synchronizität mit dem Geschehen. Die Orientierung der Forscher:innen im und am Feld ist für Ethnographien entsprechend relevant. Es lässt sich von einem „feldspezifischen Opportunismus“ (Breidenstein et al. 2020, S. 44) sprechen. Auch wenn ethnographische Arbeiten eine Vielzahl facettenreicher Verfahren der Datenerhebung und -analyse integrieren können (vgl. z. B. Hirschauer 2001, S. 431), zeichnen sich diese in ihrer Auswahl und Modifikation doch stets durch eine Feldorientierung aus. Statt einer standardisiert- festgelegten Schrittabfolge, folgen Forscher:innen den Spuren des Feldes und stellen sich auf die spezifischen Anforderungen ein, die das Feld an seine methodische Erschließung und die Forschenden stellt. „Für ein solches Vorgehen, das seine Methoden den Gegebenheiten des Feldes unterordnet, hat sich der Begriff der Ethnographie durchgesetzt.“ (Krüger 2006, S. 96)
Trotz der potenziellen Vielfalt an methodischen Zugangsweisen verwundert es nicht, dass durch das Postulat der Feldpräsenz eine Forschungsmethode besondere Zentralität für ethnographische Arbeiten besitzt: die Teilnehmende Beobachtung. Sie ist vielfach das methodische Kernstück einer Ethnographie, mit ihr werden Ethnograph:innen selbst zu Forschungsinstrumenten (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 25; Thomas 2019, S. 3). „Teilnehmende Beobachtung bedeutet die Produktion von Wissen aus eigener und erster Hand. Es geht um den zeitgleichen, aufmerksamen und mit Aufzeichnungen unterstützten Mitvollzug einer […] lokalen Praxis und ihre distanzierte Rekonstruktion […]“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 21, Herv. i. Orig.). Erst durch diese Teilnahme am Alltag der Akteur:innen werden die Praktiken des Feldes empirisch zugänglich und wird Praxisforschung möglich. Ethnographische Fragen (Wie funktioniert der Klassenrat? Wie gehen Schüler:innen mit Experimentiermaterial um? Wie interagieren sie mit Tabletcomputern?) lassen sich nur beantworten, indem sich Forscher:innen wiederkehrend in die sozialen Situationen begeben, in denen der zu erkundende Alltag praktiziert wird. Hier wird eine Grenzlinie zu anderer qualitativer Forschung sichtbar – etwa zu Interviewforschung, die z. B. mit Lehrer:innen in Cafés oder Videokonferenzräumen betrieben wird. Während ethnographische Forschungsarbeiten das Wie der situierten Praktiken selbst fokussieren, erbringen Interviews (auch wenn sie dezidiert nach Praktiken fragen) Erkenntnisse zu den erzählenden Personen und ihrer retrospektiven Narration, die hinsichtlich ihrer verbal-sprachlichen Struktur oder inhaltlichen Akzentuierung analysiert werden können (Erzählweisen, Perspektiven, Einschätzungen, Relevanzsetzungen, Dramaturgie usw.). Berichte über Praktiken sind als Informationsquelle und Datenmaterial selbstverständlich hoch relevant, dürfen aber nicht mit den Praktiken selbst verwechselt werden. Letztere konstituieren sich im interaktiven Wechselspiel der Feldteilnehmenden auch durch implizites bzw. verkörpertes Wissen, unaussprechliche Motive, vage Gefühle, unbewusste Routinen und Rituale, nonverbale Anteile usw. Es ist die Stärke der Teilnehmenden Beobachtung, diese Erfahrungen in situ und in actu erlebbar zu machen, mitzumachen und für die weitere ethnographische Forschung analytisch nutzbar zu machen. Ein erster analytischer Schritt, der zeitlich und methodologisch dicht mit der Teilnehmenden Beobachtung verwoben ist, ist die Verschriftlichung des Erlebten.
3.2 Erlebte Praktiken erlesbar machen – Beschreiben
Die Arbeit des Beschreibens ist das Kerngeschäft ethnographischer Forschung (vgl. Geertz 1987 [1973], S. 28), es gilt: „Ethno-Graphie treiben ist eine vielschichtige Schreibpraxis“ (Amann/Hirschauer 1997, S. 29). Ethnograph:innen müssen sich dabei der literarischen Aufgabe stellen, einen Text zu entwickeln, der letztlich die „Mobilisierung von Erfahrungen“ ermöglicht (ebd., S. 30). Die beobachtete, erlebte und ggf. mitgemachte Situation muss eine entsprechend angebrachte textliche Repräsentanz finden – samt ihrer konstitutiven Handlungen, Gespräche, materiellen und immateriellen Bedingungen, Stimmungen usw. Auch subjektive Wahrnehmungen dürfen hier nicht ausgeklammert werden, da soziale Interaktionen nicht ohne stetige Sinnstiftungen der beteiligten (und ebenfalls einander beobachtenden) Subjekte funktionieren können. So lässt sich mit einem prominenten Beispiel verdeutlichen, wie sich das Anliegen einer „dichten Beschreibung“ (Ryle 1971; zitiert nach Geertz 1987 [1973]) verstehen lässt: Aus der dünnen Beschreibung eines schnellen Lidschlags einer Person wird noch nicht ersichtlich, ob es sich um ein ungewolltes biologisches Zucken oder um ein beabsichtigtes kulturelles Zeichen handelt. Für sich betrachtet sind die Bewegungsvorgänge gleich – ohne dass in der Situation für die beteiligten Akteur:innen ein Zweifel an der Bedeutung des Lidschlag entsteht. Die dichte Beschreibung trägt diesem Umstand Rechnung und verknüpft als analytische Leistung beobachtetes Tun mit situativer Bedeutung (vgl. ebd, S. 10 ff.). Durch die dichte Beschreibung muss die beschriebene Situation für Leser:innen erlebbar werden (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 30). Es ist daher nicht „sinnvoll“, subjektive Bedeutungszuschreibungen (der eigenen Person und der Beobachteten) zu vermeiden, sie müssen vielmehr als solche verschriftlicht, analysierbar und ggf. revidierbar gehalten werden.[1] Der/Die Ethnograph:in bringt schreibend etwas (Wahrgenommenes) zur Sprache, das vorher nicht sprachlich war, fokussiert und formuliert wird die „Schweigsamkeit des Sozialen“ (Hirschauer 2001), geleistet wird dabei mehr als ein schlicht technisch verstandenes Aufzeichnen von flüchtigen Daten (vgl. Hirschauer 2001, S. 429 f.). Die in anderen Forschungsstilen übliche Trennung von Datenerhebung und Datenanalyse ist für ethnographische Forschung endsprechend weniger strikt. Spätestens mit der Vertextung beginnt die analytische Arbeit von Ethnograph:innen (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S. 30), mit der es um ein vertiefendes Verständlich-machen geht.
3.3 Verstandenes um-verstehen – Befremden
Wie aufgezeigt wurde, rückt die sozialwissenschaftliche Feldforschung heute statt „fremder“ Kulturen die „eigenen“ Alltagskulturen in den Fokus, u.a. Schul-, Berufs- und Kindheitskulturen. Einher gehen anders gelagerte Anforderungen an die Analyse. Es gilt, „nicht eine Fremdheit des Gegenstands zu überwinden, sondern eine Fremdheit des Beobachters herzustellen.“ (Breidenstein et al. 2020, S. 35) Ziel ist es, über explorative Befremdung (vgl. Amann/Hirschauer 1997; Zinnecker 1995) Neues im vermeintlich Bekannten zu entdecken: „Es ist ein befremdender Blick, der auf die praxeologischen Selbstverständlichkeiten des Handelns und Wissens von Pädagogik und Kindern trifft und diese reflexiv verfügbar macht.“ (Zinnecker 1995, S. 21). Verbunden mit dieser Herstellung einer methodisch-reflektierte Fremdheit gegenüber dem Vertrauten ist z. B. die Bereitschaft, Beobachtetes neu zu durchdringen und als „frag-würdig“ aufzufassen (vgl. Beck/Scholz 1995, S. 13; Amann/Hirschauer 1997, S. 12). Diese empirisch-analytische Frag-würdigkeit ist im eigentlichen Wortsinn zu verstehen und von einer normativen Fragwürdigkeit zu unterscheiden, mit der die beobachteten Praktiken bewertet werden. Bewertungen stehen der Entdeckungsabsicht und der Befremdung im Weg, da sie auf bereits vorhandene Wissensbestände rekurrieren und diese als evaluierende Schablone an empirische Praxis anlegen. Die Frage, wie sehr sich ein (wie auch immer definiertes) Ideal als bekannter Soll-Zustand im Alltag wiederfindet, ist prüfend und nicht explorativ: Man weiß schon, was einen in der Praxis eigentlich zu erwarten hat, man sieht nichts anderes oder versucht, das Fehlende zu attestieren. Die Bereitschaft, sich vom Feld überraschen zu lassen, wurzelt hingegen in einer wiederkehrenden Herstellung von Offenheit, die eine distanzierende Neu-Perspektivierung von Praktiken ermöglicht. Mit dieser kann z. B. aufgezeigt werden, dass es sich mit den Praktiken in ihren komplexen Wechselwirkungen und unausgesprochenen Handlungslogiken doch ganz anders verhält, als man es bisher zu wissen glaubte. Konkretisierende Beispiel für verbundene Entdeckungen werden mitsamt den Stationen und Hürden auf dem Weg zu ihnen im folgenden Kapitel angeboten.