Ethnographie

4.2 Von Feldnotizen zu dichten Beschreibungen

Das Schreiben zwingt den/die Ethnograph:in zum einen zur Reflexion über das Feld, das Geschehen und die eigene Rolle im Feld. Zum anderen werden Beobachtungen, Erfahrungen und „stumme“ Abläufe oder Artefakte durch die Verschriftlichung für die Analyse verfügbar gemacht – sie werden zu Daten. Ethnograph:innen bedienen sich verschiedener Schreibstrategien und -arten, die sich hinsichtlich ihres Detaillierungsgrads sowie ihrer Funktion und Stadien unterscheiden lassen.

Feldnotizen

In Feldnotizen (siehe Abb 1 unten) halten Ethnograph:innen erste Eindrücke (nach Möglichkeit bereits während der Feldsituationen) in knapper Ausführung fest. So werden Schreibblock und Stift zu ständigen Begleitern im Feld – trotz ggf. möglichen Video- und Tonbandaufzeichnungen. Auch wenn Aufnahmegeräte eingesetzt werden, was zweifelsfrei nützlich sein kann, sollte auf das Verfassen von handschriftlichen Notizen nicht verzichtet werden. Diese können eine wertvolle Gedächtnisstütze für eine spätere Rekonstruktion des Erlebten sein, indem sie den Blick auf „Erinnerungswertes“ lenken. Zudem können viele Aspekte der Situation, die sich Ton- und Bildaufnahmen entziehen, problemlos Eingang in die Notizen finden. Das können neben ersten Beobachtungen Kontextinformationen, wie zeitliche Angaben und Anmerkungen zum Setting, den Teilnehmenden und der Atmosphäre im Raum sein. Kergel (2018, S. 93) empfiehlt für Feldnotizen (und anschließende Protokolle) die Angabe des Beobachtungsfelds (Wo wird beobachtet?), der Beobachtungseinheit (Was wird wann beobachtet?) und der Beobachtungsteilnehmer:innen (Wer beobachtet wen wie?). Weitere Erfahrungen und Hinweise zum Handwerk des notierenden Schreibens finden sich z. B. bei Lofland/Lofland (1999) sowie bei Emerson/Fretz/Shaw (1995).

Falls das Setting oder die Involvierung des Forschenden in das Geschehen keine passenden Gelegenheiten des Notierens zulässt, ist es ratsam, Pausen zu schaffen und diese für das Verfassen von Feldnotizen zu nutzen. Ist bspw. das Notieren im Sportunterricht oder in der Schulmensa nur schwer möglich, empfiehlt sich ggf. ein regelmäßiger Rückzug – z. B. auf die Toilette oder in den Flur vor der Tür.

Beobachtungsprotokolle und -beschreibungen

Im Anschluss an die Feldsituation werden die kryptischen Kritzeleien der Feldnotizen, die oft nur von den jeweiligen Verfasser:innen zu entschlüsseln sind, zu detailreichen Fließtextprotokollen ausgearbeitet. Dies sollte ebenfalls zeitnah geschehen, da Notizen schnell unverständlich werden und das Beobachtete in Vergessenheit geraten oder durch eigene Vorannahmen verfärbt werden kann. Eindrücke und Erfahrungen werden zu Beschreibungen ausformuliert, die die beobachteten Abläufe, Handlungen und Phänomene rekonstruieren und für nicht-anwesende Leser:innen aufbereiten.

Was in dem Protokoll (siehe Abb. 2 unten) wie zur Sprache kommt, ist im hohen Maße von dem Forschungsfokus aber auch der Beobachtungsphase abhängig. So ist es gerade in der explorativen Phase zu Beginn der Feldforschung förderlich für Entdeckungen, das Geschehen in möglichst sachlichen Beschreibungen festzuhalten und verschiedene Handlungen des Feldes detailliert in Worte zu fassen. Besonders interessant für gezielte und ausführliche Beschreibungen sind Situationen, die den/die Forschende:n entweder irritiert haben oder immer wiederkehren, also typisch für das Feld zu sein scheinen (vgl. Kergel 2018, S. 91).

Grundsätzlich sollten sich ethnographische Beschreibungen an der Maxime orientieren: „Details statt Zusammenfassungen, konkrete Eindrücke statt Generalisierungen“ (Breidenstein et al. 2020, S. 115). So werden Protokolle zur Grundlage von ersten Konzeptionalisierungen, Strukturierungen, und weiteren Fokussierungen, indem sie den Blick auf Analysewürdiges lenken. Sie sind gleichzeitig Reflexionsinstrument und Distanzierungsmethode, indem sie die Konfrontation mit Fragen ermöglichen. Forscher:innen werden in den Beobachtungsprotokollen keineswegs als Verfasser:innen oder Teilnehmer:innen unsichtbar. Vielmehr sollen Empfindungen und Praktiken der Forschenden reflektierend-schreibend aufgenommen werden (z. B. Wo zeigen sich in den Beschreibungen Interpretationen? Welche Werturteile des Beobachters/der Beobachterin stehen zwischen den Zeilen? Welche anderen Les- und Schreibarten sind denkbar?). „Das Qualitätskriterium für die Verschriftlichung von Beobachtungen liegt einerseits in der Ausführlichkeit und Detaillierung des Schreibens und andererseits in der Reflexion und zunehmenden Fokussierung und analytischen ‚Verdichtung‘ des Schreibens.“ (Breidenstein 2012, S. 33).

Im Verlauf des Forschungsprozesses werden Protokolle zunehmend durch analytische Anreicherungen zu dichten Beschreibungen (Ryle 1971; Geertz 1987 [1973]) weiterverarbeitet. „Dicht“ sind die Beschreibungen in zweifacher Weise: Zum einen sind die Beschreibungen „dicht“ am beobachteten Interaktionsgeschehen, indem sie detailliert beschreiben, was in welcher Weise vor sich geht. Sie lenken so den Blick auch auf scheinbar banale Situationen. Zum anderen zeigt sich ihre „Dichte“ durch die Verknüpfung von Beobachtungen mit Bedeutungsinterpretationen (vgl. Wiesemann 2011, S. 177). Beide Verdichtungen sind mit- und füreinander verflochten. Über das dicht beschriebene Wie der Verläufe und Praktiken können sich Bedeutungsinterpretationen zeigen und Sinnzuschreibungen plausibilisieren. Hilfreich für die Realisierung von Verdichtungen können folgende Überlegungen sein: Das beschreibende Heranzoomen an das Wie von Praktiken braucht als Mikroskopierung Raum auf dem Papier. Es verlangt nach Details, die sich z. B. durch wiederkehrendes Beobachten, das Hinzuziehen von Felddokumenten, Fotos von Artefakten, Audio- und Videoaufnahmen stützen und verschriftlichen lässt. Es lässt sich die Passung von Adjektiven sowie Verben überdenken und nach (Verständnis-)lücken im beschriebenen Situationsverlauf suchen, die den mit dem Feld vertrauten Forscher:innen auf den ersten Blick nicht mehr auffallen. Das Schreiben, die reflexive Auseinandersetzung mit dem Geschriebenen sowie dessen kontinuierliche Weiterentwicklung und Überschreibung ermöglichen eine Distanzvariation zum Erlebten.

4.3 Von scheinbar Vertrautem zur Entdeckung

Für das oben beschriebene Entdeckungsanliegen der Ethnographie über die verbundene Befremdung lassen sich verschiedene Strategien der analytischen Distanzierung nutzen. Für erfolgreiche Explorationen braucht es zunächst eine grundlegende Bereitschaft, Neues im vermeintlich Bekannten entdecken zu wollen. Bestehende Wissensbestände, Normen und Thesen müssen eingeklammert bzw. mit einem Fragezeichen versehen werden: „Wenn das Überraschende, Unerwartete einmal ausbleibt – also alles so ist, wie man es erwartet hat – so würde dies nur anzeigen, dass es der teilnehmenden Beobachterin misslungen ist, sich in ihren Vorannahmen verunsichern zu lassen.“ (Breidenstein et al. 2020, S. 44) Dies ist insbesondere für Lehramtsstudierende, die sich als Forscher:innen in das schulische Feld aufmachen, eine gewisse Herausforderung: Nicht nur sind sie ‚selbstverständlich‘ selbst lange zur Schule gegangen, auch haben sie schon viel über (guten) Unterricht, Sozialformen, Methoden und Medien gelernt – man glaubt zu wissen, wie Schule funktioniert bzw. laufen soll. Dies kann die ethnographische Analyse von schulischen Mikroprozessen erschweren (vgl. Heinzel 2010, S. 39 ff.). Weiß man z. B. schon, dass der konzeptionell verankerte Sitzkreis, der jeden Montagmorgen in einer Grundschulklasse durchgeführt wird, das Zusammengehörigkeitsgefühl der Kinder sowie ihre narrativen und rezeptiven Kompetenzen steigern soll, übersieht man schnell, dass er in der Praxis vielleicht (noch) ganz andere Rollen spielt. So kann ggf. bei genauer Betrachtung ersichtlich werden, wie die Erzählungen der Kinder von Lehrer:innen intuitiv genutzt werden, um normative Vermittlungen von guter und schlechter Freizeitgestaltung an Wochenenden anzustreben – Erzählungen von am Sonntag gelesenen Büchern werden ausführlich ausgebreitet und gewürdigt, Erzählungen von gespielten Computerspielen werden übergangen oder beendet (vgl. Leßmann 2016)[1]. Ist diese erste Entdeckung gemacht (und nicht als pädagogische Selbstverständlichkeit abgetan), lässt sich eine „analytische Distanz“ (Breidenstein 2012, S. 31) zum eigenen Alltagswissen weiter ausbauen bzw. das Herstellen einer „fremde[n] Nähe“ (Fuhs 2011, S. 62) weiter forcieren. Beobachtete Situationen können z. B. gedanklich aus ihrem (schulischen) Beobachtungskontext herausgelöst werden. Im Rahmen eines „So tun als ob“: Welche Reaktionen wären in anderen Settings und Institutionen erwartbar, wenn man eine (ggf. erwachsene) Person fragt, ob sie am Wochenende denn wirklich nichts anders gemacht hat, als das, wovon sie freimütig berichtet? Derartige Gedankenexperimente – die schnell an Garfinkels Krisenexperimente erinnern – sind in der Lage, die unausgesprochene Spezifik von bestimmten Feldern analytisch herauszustellen: Fragen in der Schule haben z. B. deutlich andere Funktionen als Fragen im außerschulischen Alltag. Für das Aufdecken sowie Verstehen dieser ‚Besonderheiten und Merkwürdigkeiten‘ kann es auch hilfreich sein, sich die Frage zu stellen, wie das Geschehen auf jemanden wirken könnte, der nie eine (deutsche, staatliche, reformpädagogische, gegenwärtige usw.) Schule von innen gesehen hat. Welche Fragen würde er/sie sich stellen? Worüber würde er/sie stolpern? Was würde ihn/sie wundern? Für derartige Perspektivierungen kann zudem die Beschäftigung mit Literatur und Theorie dienlich sein, die mit dem empirischen Material konfrontiert wird. In diesem Zuge kann auch mit historischen Dekontextualisierungen und sich wandelnden Diskursen bzw. Normvorstellungen gespielt werden: Was würde bspw. ein besorgter Autor, der die Diskussionen um die „Lesesucht“ im 18. Jahrhundert mitprägte und Romane als neue Medien verdammte, zu einem Morgenkreis sagen, in dem das Verschlingen von Büchern gelobt wird? Und was verrät uns das zu den bewertenden Einsortierungen der neuen Medien unserer Zeit?

Jenseits solcher hypothetischen Fragen kann es aufschlussreich sein, auch empirisch dem Fremden im Vertrauten nachzugehen. Man kann sich z. B. dem Schulanfang zuwenden, um zu sehen, wie die Sozialisation vom Kind zum Schüler abläuft. Welche Fallstricke und Anforderungen, auf die man selbst gedanklich nicht (mehr) gekommen wäre, finden sich beobachtbar auf dem Weg? Wie bewegt man sich als Neuling erfolgreich und fähig in der Institution Schule? Welche kleinen Probleme, Krisen oder Entgleisungen sozialer Situationen lassen sich ausmachen und was verraten uns diese über ungeschriebene Schulordnungen bzw. die situativen Anforderungen, die jenseits von formalisierten Schulfähigkeitstests liegen? Auch kontrastive Beobachtungen aus der Kindertagesstätte oder der weiterführenden Schule können diesbezüglich nützlich sein.

Nicht nur derartige biographische Übergänge der Feldteilnehmer:innen können produktiv sein, um die eigene Vertrautheit mit dem Feld zu brechen. Verschiedenste Anlässe und Situationen mit denen Neues in das Bekannte eingeführt wird können über die Präsenz der Forschenden erkenntnisreich werden . Schule ist ein Feld stetiger (wenn auch manchmal träger) Reformen, Entwicklungen und Erneuerungen. Diese werden teils „top-down“ verordnet oder „bottom up“ von engagierten Lehrpersonen in eine (ggf. widerständige) Praxis getragen. Wie reagiert das Feld z. B. auf das interaktive Whiteboard im Kontrast zur analogen Tafel? Wie etabliert sich dieses Neue und wie wird es integriert? Welche Störungen, Umgangsweisen, Umnutzungen und Workarounds zeigen sich? Und was verrät uns das mit Blick auf die sozio-technische Funktionsweise von Medien im Unterricht?

Eine weitere gängige Möglichkeit der analytischen Distanzierung bietet die Grounded Theory (Glaser/Strauss, 1967; Strauss/Corbin 1996), die im Rahmen von ethnographischer Feldforschung häufig genutzt wird. Neben der schon mehrfach angeführten Suche nach Kontrasten und Varianten, die auch für die Kodierschritte der Grounded Theory Relevanz besitzt, bietet sich insbesondere das Theoretical Sampling (vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 150) für die zirkuläre Phasierung des Forschungsprozesses an. Es baut darauf, dass sich Phasen der (Feld-)Forschung wiederkehrend mit Phasen der Auswertung am heimischen Schreibtisch abwechseln. Durch diese Rückzugsphasen wird der Frage Raum gegeben, was man eigentlich – mit Abstand betrachtet – beobachtet hat und wie dies die zukünftigen Beobachtungen im Feld refokussieren könnte. Auch wenn Ethnographie und Grounded Theory prinzipiell einen theoriegenerierenden und weniger einen theorieprüfenden Anspruch formulieren, lassen sich jenseits einer radikal induktivistischen Lesart der Grounded Theory die Schreibtischphasen auch nutzen, um in der Beschäftigung mit Literatur anschlussfähige Theorien als analytische Linsen auszumachen, mit denen sich auf die Beobachtungen blicken lässt. So lassen sich Anschlüsse des empirischen Materials an verschiedene Theorien diskutieren, die als mögliche und unterschiedlich fokussierte Optiken genutzt werden. Zentral ist dabei das „(kreative) Aufeinander-Beziehen theoretischer Konzepte und empirischer Daten“ (Kalthoff 2014, S. 870). Dies kann sowohl neue Lesarten der empirischen Beobachtungen generieren als auch die Beobachtungen für Irritationen und Weiterentwicklungen der Theorie nutzbar machen (siehe auch Hirschauer/Kalthoff/Lindemann 2008).

Letztlich geht es im Rahmen der Verwendung ethnographischer Beobachtungen um verschiedene Wege eines notwendigen „Wechsel zwischen Nähe und Fremdsein“ (Kergel 2018, S. 83). Gelingt dies, lassen sich vielfältige Entdeckungen machen. Etwa, dass es identifizierbare Spielarten und Strategien des Meldens gibt, die praktiziert werden, um ein „Drangenommenwerden“ zu vermeiden (vgl. Budde 2011, S. 137; siehe auch Kalthoff 1997, S. 90). Dass Schüler:innen beim Experimentieren weniger nach  Naturphänomenen forschen, als vielmehr nach der hinter dem Experiment liegenden schulischen Aufgabenlogik, die dem fachlichen Lernen ggf. im Wege steht (vgl. Wiesemann/Lange 2014, S. 56 ff.). Dass Schüler:innen ein stark geschultes Gespür für das haben, was beim Demonstrationsexperimentieren gesehen werden soll und was nicht (vgl. Röhl 2013, S. 79 ff.). Oder dass die interaktive Praxis des Klassenrats – jenseits eines partizipatorisches Geschehens – von Kindern zur Pflege von Peer-Beziehungen und Image (um)genutzt wird (vgl. de Boer 2006, S. 203 ff.).

Ein ausführliches Beispiel, das die bisherigen Ausführungen des Beitrags weiter konkretisieren soll, schließt sich im Folgenden an.