Ethnographie

5. Beispiel: Drannehmen 2.0 – Bedeutungsverschiebungen einer schulischen Technik?

Das hier vorgestellte Datenmaterial stammt aus einem Forschungsprojekt, das sich dem Einsatz von Avataren im Grundschulunterricht zuwendet. Avatare sind Telepräsenzroboter, die Schüler:innen die Partizipation am Unterrichtsgeschehen aus der Ferne ermöglichen. Ist die körperliche Anwesenheit in der Schule bspw. aufgrund einer (Langzeit-)erkrankung oder Quarantäne nicht bzw. nur eingeschränkt möglich, kann das Kind im Klassenzimmer durch den Avatar teilnehmen. Der in dem Forschungsprojekt eingesetzte Roboter ist ausgestattet mit Kamera, Mikrofon und Lautsprecher. Er befindet sich im Klassenzimmer, während sich das Kind zuhause über ein mobiles Endgerät mit dem Avatar verbinden, den Unterricht per Live-Stream verfolgen und u.a. die Ausrichtung der Kamera steuern, das Gesagte hören und eigene Wortbeiträge leisten kann. Darüber hinaus kann sich der Avatar u.a. „melden“: Durch ein weiß leuchtendes Licht zeigt der Avatar bei Bedarf den Redewunsch des Kindes an.

Techniken des Meldens und Drannehmens geraten mit der folgenden Beobachtung in den Blick. Die Situation ist alltäglich und erscheint auf den ersten Blick bekannt: Schüler:innen können sich durch Aufzeigen für das Erlangen des (temporären) Rederechts bewerben. Allerdings stellen Schüler:innen durch Meldungen lediglich ein „Selektionsangebot an den Lehrer“ (Kalthoff 2000, S. 437). So kann es vorkommen, dass man nicht drangenommen wird, obwohl man sich gemeldet hat. Ebenso kann die Auswahl eines Schülers/einer Schülerin durch die Lehrperson auch dann erfolgen, wenn diese/r sich nicht gemeldet hat. Die Vergabe des Rederechts wird dann zum Auferlegen einer Redepflicht. Ein Beispiel hierfür zeigt die folgende Beobachtungssequenz. Sie ist im Rahmen einer Fragerunde entstanden, indem bereits behandelter Stoff zu Beginn der Unterrichtsstunde wiederholt bzw. abgefragt wird: Es geht um „Leonardo da Vinci“. Neben den zehn anwesenden Kindern ist Simon über den Avatar zugeschaltet.

Die Lehrerin fragt: „Wisst ihr denn auch, was sein berühmtestes Gemälde war? Das weiß der Simon, da bin ich mir sicher. Simon, was sagst du?“. Ein Großteil der anwesenden Schüler und Schülerinnen meldet sich. Die Lehrerin wählt jedoch keines der Kinder vor Ort aus, sondern fordert von Simon eine Antwort, obwohl dieser durch den Avatar keinen Redewunsch signalisiert: Das Meldelämpchen blinkt nicht und der Avatar ist stumm und starr, den Kopf in Richtung Fenster und nicht zur Lehrerin ausgerichtet. „Ist er schon wieder weg?“, fragt sie, nachdem nicht sofort eine Antwort kommt. Sie versichert sich, dass der Avatar noch verbunden ist, was die leuchtenden Lampen bestätigen. Sie muss dafür ein paar Schritte zurück gehen, da der Avatar neben dem Pult positioniert ist. Sie winkt vor der Kamera mit ihrer Hand: „Halloooo […]. Bist du da?“. Die Aufmerksamkeit der gesamten Klasse ist auf den Avatar gerichtet.

Nach ein paar Augenblicken, einem kurzen (Ab-)Warten auf eine Reaktion, stößt die Lehrerin ein ratloses, abschließendes „Hm.“ aus und richtet sich wieder in Richtung der anwesenden Schüler und Schülerinnen. Daraufhin schnellen die Arme von einigen Schülerinnen und Schülern, die zuvor mit der Auswahl von Simon gesenkt wurden, wieder in die Höhe. Auch Marie meldet sich, die von der Lehrerin nun mit einem „Okay Marie, dann du.“ drangenommen wird. Marie setzt zur Antwort an, wird aber von Simon unterbrochen und übertönt, der sich nun doch zu Wort meldet: „Die Mona Lisa!“ schallt es laut aus dem Lautsprecher des Avatars. Marie nimmt die Unterbrechung durch Simon wortlos hin und scheint hiervon nicht verärgert zu sein. Die Lehrerin bestätigt die Richtigkeit der Antwort: „Ah, da bist du ja wieder. Richtig, die Mona Lisa. Und was ist das Besondere an ihr?“. Sofort wird mit Leon der nächste, sich meldende Schüler drangenommen. Die Fragerunde zu Leonardo Da Vinci wird noch ein paar Frage-Antwort-Sequenzen fortgeführt, bevor die Lehrerin die Besprechung und Kontrolle der Hausaufgaben einleitet.

Das Drannehmen eines Schülers, der sich nicht gemeldet hat, ist auf den ersten Blick nicht ungewöhnlich, sondern gängige Unterrichtspraxis, die mit verschiedenen Absichten verbunden sein kann. So soll die Auswahl bspw. die Beteiligung von zurückhaltenden Schüler:innen provozieren (vgl. Budde 2011, S. 140; Kalthoff 2000, S. 437) oder den Fortgang des Unterrichtsgesprächs sichern, z. B. wenn sich niemand eigeninitiativ meldet (vgl. Kalthoff/Falkenberg 2008). Zudem wird das Drannehmen als Disziplinierungsmaßnahme genutzt, um Unaufmerksamkeiten abzustrafen und zu unterbinden (Budde 2011, S. 140 f.).

Die in der protokollierten Szene beobachtete Praktik des Drannehmens scheint allerdings auf keine der genannten Strategien zurückzuführen. Jenseits einer Prüfung von Simons Wissens („Das weiß der Simon, da bin ich mir sicher“), scheint sich vielmehr eine für den Unterricht mit Avataren spezifische Funktion der Auswahl ohne Meldung zu zeigen, die durch die fehlende körperliche Kopräsenz des Kindes und die technischen Gegebenheiten des Avatars geprägt ist. Durch die einseitige Videoübertragung des Mediums, nämlich vom Klassenzimmer ins Kinderzimmer, entzieht sich das Kind dem prüfenden Blick der Lehrperson. Der Körper des Schülers als „Zeichenträger“ und Informationsvermittler fehlt (vgl. Kellermann/Wulf 2011, S. 28), was mit ungewohnten Ungewissheiten einhergeht. Diese betreffen das „Dabei-Sein“ des Schülers. Möglicherweise beobachten wir, wie die Praxis des Drannehmens die Funktion einer Kontrolle von An- und Abwesenheit übernimmt. Denn während das Schweigen der körperlich anwesenden Schüler:innen z.B. als Nicht-Wissen interpretiert werden kann, verweist das Schweigen von Simon bzw. dem Avatar auf die Möglichkeit einer technischen Störung, durch die Simon aus der Situation im Klassenraum geworfen wurde. Indem die Lehrperson Simon zum Sprechen auffordert, kann nicht nur kontrolliert werden, ob Simon kognitiv dabei ist. Es wird auch unausgesprochen gefragt, ob er technisch überhaupt noch da ist – und somit eventuell Handlungsbedarf auf Seiten der Lehrerin besteht. Zugleich beobachten wir, wie das Ausbleiben einer Antwort die Akteure auf eine Probe stellt. Das Schweigen des Avatars kann noch nicht eindeutig interpretiert werden: Wie lange soll man warten? Was verraten die LEDs? Ist das Kind oder das Gerät verantwortlich für die Sprechpause? Kann der Schüler die Frage nicht beantworten oder findet er den Sprechknopf nicht? Ist er abgelenkt oder sitzt gar nicht mehr vor dem Gerät? Der Bruch bzw. die Krise wird von der Lehrerin zunächst dadurch gelöst, dass sie das Rederecht (in bekannter Weise) an das nächste Kind übergibt und die Situation somit wieder in gewohnte Bahnen bringt. Vielleicht – das könnten weitere Beobachtungen zeigen – hätte sie sich später dem ausgemachten Problem zwischen Simon und dem Avatar intensiviert zugewendet.

Jenseits der Frage, ob die Anwesenheitsprüfung die Intention der Lehrerin war (von der sie in einem Interview berichten würde) wird erkennbar, wie neue Medien und tradierte schulische Techniken im Wechselspiel neue Bedeutungskonnotationen, Möglichkeitsräume und Handlungsprobleme entstehen lassen können. Es zeichnet sich ab, wie sich Praktiken vermischen, verlagern, neu akzentuieren, aktualisieren und überschreiben können. Als Spur kann diesen Praktiken (hier dem Drannehmen) weiter im Feld mit zukünftigen Beobachtungen gefolgt werden. Eine Möglichkeit der Re-Fokussierung zeichnet sich ab: War die Forschung zunächst offen von der Frage „Wie wird Unterricht mit Avataren gemacht?“ geleitet, fordert die oben beschriebene Beobachtung dazu auf, einer spezifizierten Frage zu folgen: „Wie wird Melden und Drannehmen im Rahmen des interaktiven Klassengesprächs mit anwesenden und abwesenden Teilnehmern praktiziert?“. Mit den weiteren Unterrichtsbesuchen kann dieser Frage nachgegangen und das bereits angedeutete Verhältnis von neuen und gewohnten Praktiken weiter forciert und in Konfrontation mit weiteren Unterrichtsroutinen auf die Probe gestellt werden. Derartige Re-Fokussierungen, Spuren und Entdeckungen offenbaren sich vielfach am heimischen Schreibtisch im Zuge analytisch-distanzierter Auseinandersetzungen mit dem Beschriebenen. Voraussetzung und Bedingung ist die hinreichend dichte Beschreibung. Das Datenmaterial wird so auf Basis erster analytischer Dimensionierungen zum Ausgangspunkt für neue Fokussierungen und gibt ggf. Hinweise auf noch „dünne“ Flecken im Text, die die Weiterarbeit an der vorliegenden oder an den zukünftigen Beschreibungen bzw. Beobachtungen orientieren. Mögliche weitere Verdichtungen des Beispiels betreffen z. B. Maries Meldesequenz. Ist hier das Datenmaterial bereits durch Bedeutungszuschreibungen verdichtet – nämlich, dass Marie durch die Unterbrechung von Simon nicht verärgert ist – es bleibt offen, wie die Ethnographin zu diesem Schluss kommt. Ergänzende Beschreibungen bspw. zu ihrer Mimik können die Sequenz dahingehend plausibilisieren – oder ggf. neue Entdeckungen offen legen.

In diesem Sinne möchte das hier dargelegte empirische Beispiel den Lesenden erstens einen Eindruck vermitteln, wie sich in Beobachtungsprotokollen neue Perspektiven, Fährten und Erkenntnisse aufspüren lassen und zweitens die Zirkularität ethnografischer Erkenntnisprozesse verdeutlichen.