Ethnographie

6. Methodische Reflexion

Die Ethnographie hat sich mit ihrer explorativen Forschungshaltung, ihrer starken Feldorientierung und den damit einhergehenden vielseitigen Erkenntnispotenzialen über die Grenzen der Disziplinen hinweg als methodische Forschungsstrategie etabliert. Dennoch haben ihre Einsatzgebiete Grenzen. Zunächst ist die Ethnographie aufgrund ihres explorativen, offenen Vorgehens weniger für die kanalisierte Überprüfung von kausalen Zusammenhängen und Hypothesen geeignet. Hiermit geht jedoch keine streng induktive Verortung einher. Vielmehr ist die Ethnographie prädestiniert für eine „Theoretische Empirie“ (Hirschauer/Kalthoff/Lindemann 2008), mit der es um das wechselseitig-irritierende Aufeinander-Beziehen von Theorie und Empirie geht. Ermöglicht wird „Erklärung ohne Kausalität und Generalisierung ohne Vorhersage.“ (Kalthoff 2014, S. 870; Herv. i. Orig.). Mit einem so akzentuierten Anspruch geht es um das Verstehen von Praxis in situ, einschließlich zugrundeliegender Feldordnungen und Sozialität. Auch wenn Narrative und sprachliche Handlungen der Akteur:innen relevanter Teil der Feldbeobachtungen sind, entfernt sich eine exklusive Bezugnahme auf diese vom Anliegen der Ethnographie. Die Sequenzialität von Sprachhandlungen, der Verlauf von Kommunikationsströmen bzw. Diskursen oder die Fokussierungen des einzelnen Subjektes (mit seiner Biographie, seinen Einschätzungen und Selbstaussagen) lassen sich trefflich mit anderen einschlägigen Ansätzen der qualitativen Sozialforschung ergründen. Evaluativ-normative Fragen (bspw. nach Lernerfolgen der Schüler:innen) legen selbstredend eher den Einsatz messender, quantitativer Verfahren nah.

Abseits methodologischer Limitierungen werden der Teilnehmenden Beobachtung auch Grenzen durch das Feld gesetzt. Stark eingeschränkte Zugänge, aber auch zeitliche und finanzielle Ressourcen des/der Forschenden sind dabei hervorzuheben. Bestrebt das Feld vollständig zu durchdringen, ist der/die Ethnograph:in sich doch bewusst, dass er/sie trotz intensiver Feldteilnahme und detaillierter Beschreibungen das Feldgeschehen immer nur selektiv erfassen kann.

Die starke Abhängigkeit zum Feld fordert darüber hinaus Flexibilität, breite Methodenkenntnisse und Kreativität von den Forschenden. Dies macht die Ethnographie zu einem „abenteuerlichen und anspruchsvollen Forschungsverfahren“ (Friebertshäuser & Panagiotopoulou 2013, S. 302), welches jedoch vielfältige Erkenntnisse und lohnenswerte Impulse verspricht – auch für die Schulentwicklung und Lehrer:innenbildung. Denn der befremdende Blick der Ethnographie vermag tradierte und starre Sichtweisen auf Schule und Unterricht zu kontrastieren. Es können so neu gefundene Perspektiven auf Bildungskontexte eröffnet werden und letztlich auch neue Diskurse bezüglich der Frage angestoßen werden, was Schule ist und soll.

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[1] Die Be- und Zuschreibungen vermögen so auch etwas über den Ethnographen/ die Ethnographin zu verraten und können für zukünftige Feldaufenthalte Hinweise zur refokussierten oder vertieften Beobachtung geben.

[2] Das Datenmaterial ist im Rahmen einer studentischen Forschungsarbeit erhoben, analysiert und auf der Homepage der „Ethnografischen Forschungswerkstatt Kindheit und Schule“ der Universität Siegen (https://efo.uni-siegen.de/) veröffentlicht worden. Hier finden sich weitere ethnografische Studienprojekte, die Lesarten und Analysemöglichkeiten von Beobachtungsprotokollen aufzeigen.

(Abb. 1 – Feldnotizen, Bsp.)

(Abb. 2 – Beobachtungsprotokoll, Bsp.)