Grounded Theory

4. Grenzen des Verfahrens/Eignung

GTM ist geeignet zur Erschließung von Gegenstandsbereichen, über die erst gering entfaltetes Wissen vorliegt oder die durch starke Veränderungen (Wandel, neue Faktoren, Unbekannte) geprägt sind.
Bereits mit wenig umfänglichem Datenmaterial kann die Wirklichkeit zumindest begrenzter Ausschnitte sozialer Lebenswelten untersucht werden, was das erklärte Ziel vieler qualitativ gerichteter Untersuchungen ist. Die methodologisch angelegte direkte Realitätsanbindung und vor allem der beständige Vergleich des Datenmaterials, die komparativen Züge des Verfahrens, führen bei sorgfältiger Analyse zu gegenstandsgetreuer Theorie und vermögen manche Unzulänglichkeit der Daten zu korrigieren (Vgl. Glaser/ Strauss 1998, 228).
Der Kodierprozess sollte in einer Gruppe durchgeführt und ausführlich diskutiert werden und es sollte ausreichend Gelegenheit zur Nachbereitung gegeben sein, in der die theoretischen Entdeckungen mit anderen Theorien und Forschungsergebnissen verglichen, in andere Kontexte gestellt werden um ihre Verallgemeinerbarkeit zu überprüfen oder mit weiteren (quantitativ oder hypothetisch-deduktiven) Verfahren (Methodenkanon der Sozialforschung) überprüft werden.
Weniger geeignet dürfte die GTM für kleine Projekte mit kurzen Laufzeiten sein, da theoretisches sampling die Wiederholung mehrerer Verfahrensschritte verlangt und eine oft langwierige Suchbewegung für geeignetes Material erfordert.
Auch die Entwicklung allgemeiner Theorien gesamtgesellschaftlich-struktureller Ordnung oder strukturellen Wandels dürfte im Rahmen der GTM nur schwer möglich sein. Ihr bevorzugter Anwendungsbereich ist die Untersuchung von Mikroprozessen(26) (Rahmungen, Interaktionen, Interdependenzen und subjektiven Handlungsmodellen), mit dem Ziel der Entwicklung von Theorien mittlerer Reichweite (auch der Novellierung bestehender Theorien), die eine Verbindung zwischen gesellschaftlichen Mikro- und Makrobereichen herzustellen vermögen.
Wenn auch der Forschungsprozess niemals ohne vorhandenes Wissen (theoretisches Vorwissen, Reflexivität, Sensibilität, Routine und Kriterien zur Auswahl des Themenbereichs und Forschungsfelds) begonnen werden kann, so bewirkt der explizite Verzicht auf die vorgängige Formulierung von forschungsleitenden Hypothesen – ein grundlegendes Charakteristikum aller interpretativen Sozialforschung – eine produktive Befremdung (Amman/Hirschauer 1992) des Forschers, und die Chance, sich möglichst voraussetzungslos auf die Eigenart des untersuchten Feldes einzulassen.

Fußnoten:

(1) Wiederholungen eines Prozesses, zumeist unter Rückbindung an vorherige Ergebnisse, die dann jeweils als Ausgangswerte des neuen Schrittes genommen werden

(2) Für eine ausführlichere Darstellung: Hülst in Friebertshäuser/Prengel 2009

(3) Das Buch, das manchen wie “a cleansing river rushing through the stalls of sociology” (Gerson 1991: 300) erschien, kompromittierte die damalige sozialwissenschaftliche mainstream-Forschung, die Wissenschaftlichkeit ausschließlich im Testen theoretisch abgeleiteter Hypothesen und nicht in deren Endeckung gegeben sah: „It was simply wrong, to discover instead of verify“ (Gerson ebd.)

(4) Verstehen ist eine Zentralkategorie der Sozialwissenschaften. Der Begriff wird nicht im Sinne von „nachfühlen/nachvollziehen können“ oder „verstehen, wie sich jemand fühlt“ o.Ä. verwendet. Die Soziologie betont, dass das Handeln von Menschen immer durch den von ihnen unterlegten subjektiv gemeinten Sinn geprägt wird und dass bei einer Analyse der Handlung dieser Sinn herausgefunden werden muss (vgl. z. B. Weber 1972) um diese erklären zu können. Etwas eingehender hat Blumer die Kategorie „subjektiv gemeinter Sinn“ bestimmt: Er betont, dass Menschen aufgrund der Bedeutungen, die Dinge für sie haben, handeln; von Bedeutungen, die als Produkt vorausgehender Interaktionsprozesse zu begreifen sind und die in Auseinandersetzung mit den Objekten und den anderen Menschen verwendet und ggf. auch verändert werden (können). Vgl. zur verstehenden Soziologie etwa Richter 1995

(5) Einen guten Überblick gibt Kelle, 2007a

(6) Das empfehlen bereits Strauss/Corbin 1996: S. X

(7) Dissertation, veröffentlicht unter http://ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2006/1157 bzw. unter http://nbn-resolving.de/urn/resolver.pl?urn=urn:nbn:de:hebis:77-11570

(8) Näheres zu dieser Forschungs- und Auswertungstechnik (PZI): Witzel 1982, und 2002

(9) Ein erstes Vertrautmachen mit der Fragestellung wird vor allem durch die intensive Auseinandersetzung mit zwei Fragen erreicht: 1. was soll über den Untersuchungsgegenstand herausgefunden werden? 2. sind Themen oder Kategorien durch die Fragestellung, einen bereits entwickelten Leitfaden o. ä. vorgegeben? Falls ja, wie stark ist ihr Einfluss auf das Vorgehen gewollt oder ungewollt?

(10) Die wichtigsten Erhebungstechniken qualitativer Daten bilden nicht-standardisierte oder teil-standardisierte Befragungen, Beobachtungen und non-reaktive Verfahren, s. Flick u.a. 2000, Bortz/ Döring 1995

(11) Zum Verfahren des offenen Kodierens vgl. detaillierter: Strauss/ Corbin 1996, 44 ff.

(12) Die Referenzstudie ist hier nicht so weit vorangeschritten – die Erweiterung des Beispiels wurde vom Autor des vorliegenden Textes vorgenommen, um den gesamten logischen Aufbau der Beziehungen zwischen Kernkategorien-Subkategorien-Kategorien-Konzepten-Indikatoren darstellen zu können

(13) Nachteile des ‚Ausborgens‘- vgl. Strauss/Corbin 1996: 49f

(14) Memos sind schriftliche Analyseprotokolle, die als erste Ergebnisse der Analyse angesehen werden können. Sie „stellen die schriftlichen Formen unseres abstrakten Denkens über die Daten dar…“ (Strauss/ Corbin 1996,170).

(15) Strauss/Corbin (1996) unterscheiden drei Arten von Memos: Code-Notizen (die Einfälle während des Codierens festhalten), Theorie-Memos und Planungsnotizen. Vor allem Theorie-Memos sind analytisch bedeutsam, weil in ihnen Hinweise auf später zu formulierende theoretische Konzepte, Hypothesen oder weitergehende Fragen notiert werden. Eine Beschreibung verschiedener Memorierungsanlässe findet sich bei Strauss 1994:153ff

(16) diese Form des Kodierens dreht sich „um die ‚Achse‘ einer Kategorie“, Strauss 1994, S. 63

(17) Glaser hat sich von diesem Versuch der »Kodifizierung der Kodierung« heftig distanziert (Glaser 1992)

(18) Die Stärke qualitativer Forschung liegt generell darin ein komplexes Handlungsfeld auf Veränderungen durch die Akteure/-innen hin untersuchen zu können; vgl. die sog. INUS-Bedingungen sozialen Handelns (‚insufficient but necessary part of a condition which is itself unnecessary but sufficient for the result’) bei Goertz 2003, Kelle 2007c

(19) Vgl. Kelle 2007 b, S. 47ff

(20) Hier leisten die qualitativen Interviewverfahren der empirischen Sozialforschung gute Dienste; vgl. etwa Lamnek 2005, S. 356 ff

(21) Ganz generell, mit den Worten von Peirce: „die Abduktion vermutet bloß, dass etwas der Fall sein mag“ (Peirce 1967: 362).

(22) Eine logische Unmöglichkeit, deren Wirkung Carnap bereits 1930 als ‚Zauberei‘ desavouiert hat. Vgl. Reichenbach 1983: 257

(23) http://www.atlasti.com/de/

(24) s. Kuckartz 2007 und Kuckartz / Grunenberg/ Dresing 2007

(25) atlas/ti bietet auch die Möglichkeit Bilder, Bildelemente und Audiodateien zu bearbeiten; s. Gerhold/ Bornemann 2004, Muhr 1994

(26) Die neuere Sozialwissenschaft geht davon aus, dass sich Gesellschaft in beständigem Fluss befindet, dass daher die Ziele und Pläne, Wert- und Norm-Orientierungen, Handlungen und Unterlassungen der Menschen und ihre – auf einer oberhalb der einzelnen Handlungen liegenden Ebene entstehenden – strukturbildenden Verflechtungen (Figurationen im Sinne von Norbert Elias) Gegenstand der Untersuchung sein sollten.

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