Grounded Theory

Grounded Theory ist ein Forschungsstil der ursprünglich von den US-amerikanischen Soziologen Anselm Strauss und Barney Glaser entwickelt wurde. Ziel ist die Theoriebildung in intensiver Auseinandersetzung mit einem konkreten Gegenstand. Grounded Theory ist dabei weniger als einzelne Methode anzusehen, sondern besteht aus ineinandergreifenden (Kodier-)Verfahren. Im vorliegenden Lehrtext werden der Entstehungshintergrund, die charakteristischen Merkmale sowie die Reichweite dieses Forschungsstils beschrieben. Dazu werden wesentliche Arbeitsschritte anhand einer Falldarstellung aus dem Fallarchiv erklärt.

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Stand: Mai 2025

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Dirk Hülst:

Grounded Theory

1 Vorbemerkung: Grounded Theory – ein Forschungsstil 2

2 Entstehung und Hintergrund des Verfahrens. 2

3 Darstellung und Erklärung der Merkmale und Prinzipien der GTM.. 3

3.1 Der Forschungsprozess. 5

3.2 Das Kodierverfahren. 5

3.2.1 Offenes Kodieren. 5

3.2.2 Axiales Kodieren. 10

3.2.3 Selektives Kodieren. 11

3.2.4 Dimensionen/Dimensionalisierung. 11

3.2.5 Theoretical Sampling. 12

3.2.6 Theoretisches Vorwissen, Sensibilität und Theoriebildung. 13

3.2.7 Das Gewinnen neuer Einsichten: Induktion und Abduktion. 15

3.2.8 Einsatz von Computerprogrammen. 16

4 Grenzen des Verfahrens/Eignung. 16

5 Literatur 18

6 Weiterführende Literatur – Hilfen zur praktischen Durchführung der GTM: 20

1. Vorbemerkung: Grounded Theory – ein Forschungsstil

 Dieser Beitrag unterscheidet zwischen dem Verfahren der Grounded Theory, seiner Methodologie (im Folgenden: GTM) und dem angestrebten Ergebnis, der „gegenstandsverankerten Theorie“. „Grounded Theory“ (abgekürzt: GT) bezeichnet also das Resultat der Anwendung der GTM. Der Reiz der GTM liegt darin, dass sie sowohl Richtlinien für die Organisation von Forschungsprozessen bietet als auch ein Auswertungsverfahren, das über die bloße Klassifikation von Informationen hinausgeht. Ziel ist es, auf Basis empirischer Daten in einem komplexen, iterativen[1] Prozess theoretische Konzepte zu entwickeln, die Erklärungswert für den Forschungsgegenstand und seine Bedingungen aufweisen. Dabei kombiniert die GTM bewährte Methoden der Sozialforschung zu einem strukturierten, leicht erlernbaren Ansatz („Stil“), der vor allem in der qualitativen Forschung Anwendung findet. Im Folgenden werden die zentralen Elemente dieses Ansatzes vorgestellt: die Logik des Verfahrens, seine Grundsätze und sein gestaltbarer Ablauf[2]. Zu beachten ist, dass viele Begriffe der GTM (z. B. Daten, Kodieren, Konzept, Sampling) eine von der üblichen Methodenlehre abweichende Bedeutung aufweisen

2. Entstehung und Hintergrund des Verfahrens

Die GTM entstand aus der Erkenntnis, dass soziale Probleme mit denen eine oder mehrere soziale Gruppen konfrontiert sind, von den Beteiligten oft nicht als solche wahrgenommen oder artikuliert werden können (vgl. Strauss/Corbin 1990/1996). Nur ein intensives Feldstudium und die systematische Analyse vielfältiger Daten führen in solchen Fällen zu tragfähigen Erklärungen in Form einfacher Theorien. Bereits in frühen Studien (Strauss et al. 1964; Glaser/Strauss 1965, 1968) erprobten die späteren Begründer der Methode zentrale Elemente. Sie lehnten „große“ Theorien ab, die mit strukturalistischen oder funktionalistischen Prämissen weit über die beobachtbaren Fakten hinausgingen. Ihr Ziel war es, die Kluft zwischen Theorie und empirischer Forschung zu schließen. Die erste Darstellung ihres Konzepts (Glaser/Strauss 1967) verfolgte drei Ziele: (1) qualitative Forschung methodologisch zu fundieren, um ihr wissenschaftliches Ansehen zu stärken, (2) einen systematischen Weg zur Theoriebildung aus Daten aufzuzeigen[3] und (3) die Verankerung der Forschung im Feld zu fördern. Die GTM beschreibt ein flexibles, exploratives Verfahren, das sich insbesondere für erst gering erforschte Themen eignet. Sie verbindet Datenerhebung und -auswertung in einem mehrstufigen, bei Bedarf rekursiven Prozess. Ziel ist es, zunächst einfach geschnittene Theorien zu entwickeln, die den sozialen Sachverhalt in seinem Kontext und mit seinen Konsequenzen erklären. Dazu muss der Forscher ins Feld gehen, um zu verstehen, „was geschieht“ (Strauss/Corbin 1996:9). Der Begriff „Verstehen“ betont sowohl die Perspektive der handelnden Subjekte als auch die Analyse sozialer Situationen und symbolisch vermittelter Handlungszusammenhänge[4]. Im Zentrum der GTM steht nicht das Testen vorab formulierter Theorien, wie in der quantitativen Sozialforschung, sondern die Untersuchung eines spezifischen Bereichs mit seinen Besonderheiten. Die Theorie entsteht schrittweise aus der Analyse des Feldes. Erst im Verlauf des Prozesses wird klar, welche Aspekte relevant sind, und die Theorie nimmt allmählich Gestalt an. Die so entwickelten Theorien können, wenn sie konkrete Zusammenhänge aufzeigen, nicht nur weitere Forschung anregen, sondern auch praktische Anwendungen ermöglichen – etwa in Form von Erklärungen, Prognosen oder Interpretationen. Heute genießt die GTM, wie andere theoriebildende Ansätze der Sozialforschung (z. B. Heuristische Sozialforschung,(s. Kleining 1982, 1995), Ethnographie (s. Geertz 1983; Berg/Fuchs 1993; Emerson/Fretz/Shaw 1995; Hammersley/Atkinson 1995; Amann/Hirschauer 1997), hohes Ansehen. Sie wird in der qualitativen Forschung bevorzugt eingesetzt. Seit der ersten Darstellung (Glaser/Strauss 1967) hat sich die GTM in verschiedene Richtungen weiterentwickelt. Die Diskussionen, die sie auslöste, haben die Stärken qualitativer Forschung und der GTM verdeutlicht. Zahlreiche Veröffentlichungen präzisierten die Methode, führten zu technischen Verfeinerungen und lösten erkenntnistheoretische sowie methodologische Debatten aus. Diese Kontroversen werden hier nicht behandelt[5]. Die folgende Darstellung orientiert sich an der bis heute aktuellen Fassung der GTM von Strauss und Corbin (1996, s. auch Charmaz 2014).

3. Darstellung und Erklärung der Merkmale und Prinzipien der GTM

Die praxisnahen Leitlinien und Techniken der Grounded Theory Methodology (GTM) ordnen und analysieren Daten methodisch. Sie bieten jedoch keine starren „Kochrezepte“[6]. Je nach Forschungsziel, Rahmenbedingungen und fachlichem Schwerpunkt erfordert und rechtfertigt sich eine Anpassung des Vorgehens. Die GTM lässt sich zudem problemlos mit anderen qualitativen und quantitativen Methoden kombinieren („Triangulation“).

EXKURS: Die herangezogenen Beispielsstudie.

Um die GTM zu veranschaulichen, werden Aspekte aus Sabine Rechs Untersuchung „Wie eine andere Welt – Eine Grounded Theory-Studie zur Frage der Teilhabe von Eltern an schulischer Kommunikation am Beispiel von Realschüler/-innen“[7] besprochen. Für ein besseres Verständnis der aus dem Kontext gelösten Beispiele werden zunächst Fragestellung und Ausschnitte der Forschungsarbeit näher beleuchtet. Frau Rech untersuchte mithilfe der GTM, wie Familien den Schulalltag verarbeiten. Sie wählte eine Gruppe von 16 Realschüler/-innen der achten Klasse und sechs ihrer Eltern aus. Die Auswahl der Eltern erfolgte schrittweise durch theoretical sampling (s.u.) während der Analyse. Ausgangspunkt war ein systemtheoretischer Ansatz. Im Zentrum stand die Frage, wie Familien das Thema „Schule“ in Gesprächen behandeln und welche Spannungen dabei entstehen. Rech vermutete, dass Schüler/-innen ein „Gesamtkonzept von Leistungsorientierung und sozialer Orientierung“ innerhalb und außerhalb der Familie entwickeln. Ziel der Studie war es, zwei Perspektiven zu erforschen:

  1. Die Haltung der Eltern zur Schule und ihre Teilhabe an schulbezogener
  2. Die Sicht der Schüler/-innen, die sowohl am Familien- als auch am Schulleben teilnehmen.

Rech nutzte vor allem Methoden der empirischen Sozialforschung. Kern der Untersuchung waren problemzentrierte Interviews[8] mit Eltern sowie die Analyse von Schüleraufsätzen, die auf eine vorgegebene Fragestellung hin verfasst wurden. In den Interviews schilderten Eltern ihre Wahrnehmung der Familienkommunikation. Die Schüleraufsätze beschrieben Gespräche mit Gleichaltrigen. Ziel war ein Vergleich der Daten von Eltern und Jugendlichen. Dazu wurden sechs Eltern-Kind-Paare (zwölf Fälle) analysiert. Zusätzlich wertete Rech das Material der nicht gepaarten Personen separat aus, um erste theoretische Überlegungen zu entwickeln. Die Ergebnisse weisen aus, dass Eltern die Schule als fremde, „andere Welt“ wahrnehmen, während Schüler/-innen sie meist als bereichernden Teil ihres Lebens sehen.

3.1 Der Forschungsprozess

Der Forschungsprozess beginnt mit einem vorläufigen Ziel, etwa: „Wie sprechen Eltern und Kinder im Familienalltag über Schule? “ Die Fragestellung bleibt bewusst offen[9], um erste Feldkontakte flexibel gestalten zu können. Neben Interviews können auch vorhandene Dokumente wie Tagebücher, Briefe oder andere Texte einbezogen werden[10]. Der Einstiegspunkt in den Forschungsbereich ist relativ frei wählbar. Forschende sollten jedoch ihr theoretisches Vorwissen zunächst ausblenden, um unvoreingenommen neue Aspekte zu entdecken und zu kombinieren.

Das Verfahren folgt einer analytischen Triade, die sich bei Bedarf mehrfach durchlaufen lässt:

 

  1. Analyse des vorhandenen Datenmaterials und Kodierung,
  2. Erhebung neuer Daten durch theoretical sampling, angestoßen von den bisherigen Ergebnissen,
  3. Entwicklung theoretisierender Einfälle, sukzessiver Theoriebildung und Reflexion des Prozesses, unterstützt durch Memos, die während der ersten beiden Schritte notiert werden.

Diese drei Schritte werden im Folgenden konkretisiert.

3.2 Das Kodierverfahren

Kodieren bedeutet in der GTM, Daten zu analysieren. Anders als bei klassischen inhaltsanalytischen Verfahren, die vorab entwickelte Kategorien auf Textstellen anwenden, entstehen die GTM-Kodes (Kategorien) erst während der Analyse. Sie werden im Verlauf der Auswertung entwickelt und schrittweise erweitert und verfeinert. Dabei unterscheidet man drei Arten des Kodierens: offenes, axiales und selektives Kodieren.

3.2.1 Offenes Kodieren

 Das offene Kodieren beginnt mit einer genauen Untersuchung der Daten, um Phänomene zu erkennen und zu kategorisieren[11]. Zunächst verschafft man sich einen Überblick über das vorhandene Material – etwa Dokumente, Beobachtungen oder Interviews.

Der Text wird grob durchgesehen, in Abschnitte gegliedert und mit einer vorläufigen Struktur versehen. Am Rand notierte Stichwörter erleichtern die Orientierung. Gedanken zur Textaufteilung oder Vermutungen über Inhalte und Aufbau hält man in Memos fest.  Anschließend analysiert man kleinste Einheiten wie Wörter, Sätze oder Textausschnitte, die für das Forschungsziel relevant erscheinen. Durch wiederholtes Vergleichen dieser Sinneinheiten – auch Indikatoren genannt – erfasst man die im Material enthaltenen Informationen möglichst vollständig und differenziert. W-Fragen helfen, die Sinneinheiten zu identifizieren (vgl. Böhm 2000):

– Was: Um welche Phänomene geht es?

– Wer: Welche Akteure sind beteiligt, welche Rollen spielen sie?

– Wie: Welche Aspekte des Phänomens werden behandelt, welche ausgelassen?

– Wann/Wo: Welche Bedeutung haben Zeit und Ort (biografisch oder situativ)?

– Warum: Welche Begründungen werden gegeben oder lassen sich erschließen?

– Womit: Welche Strategien kommen zum Einsatz?

– Wozu: Welche Konsequenzen werden erwartet oder wahrgenommen?

Abb. 1 verdeutlicht die Beziehung zwischen Indikatoren, Konzepten, Kategorien und Kernkategorien am Beispiel des Projektberichts „Wie eine andere Welt“. Der Kategorie „Hilflosigkeit“ wurden Konzepte wie „Rabenmutter“, „Frustration“ und „allein im Kampf“ zugeordnet (eigene Darstellung, D.H.).

Der Kodierprozess führt zunächst zur Entwicklung von Konzepten, die den erfassten Indikatoren zugeordnet werden. Diese Konzepte ermöglichen es, Sinneinheiten ähnlichen Inhalts zu benennen, ihre Beziehungen zu erkennen und später auszuarbeiten. Der Vergleich ähnlicher Konzepte – eine einfache komparative Analyse – führt zu ihrer Einordnung auf einer höheren Abstraktionsebene. Anschließend untersucht man die Eigenschaften und Dimensionen der Kategorien sowie ihre Beziehungen zueinander und ordnet sie in einem logischen Raum an. Dieser Schritt der Abstraktion und Verdichtung bildet die Grundlage der Theoriebildung: Ähnliche Phänomene werden in Konzepten zusammengefasst (Abstraktion), häufig wiederkehrende oder inhaltlich passende Konzepte zu Kategorien (Etiketten oder Labels) verdichtet. Kategorien repräsentieren die Beziehungen zwischen Sinneinheiten und beschreiben die Eigenschaften eines Phänomens. Als sprachliche Konstruktionen der Forschenden sind sie abstrakter als Konzepte, sollen aber anschaulich auf diese verweisen. Wenn das Material für einen Sachverhalt mehrere Facetten aufweist, lassen sich Kernkategorien in differenzierende und präzisierende Subkategorien unterteilen.

Das folgende Analysebeispiel zeigt, wie Konzepte – die Bausteine der späteren Theorie – aus dem Datenmaterial (z. B. Aussagen der Befragten) herausgearbeitet werden.

Abb. 2: Interviewtextauszug und Konzeptualisierung (aus: Rech, a.a.O.)

Die Elterninterviews wurden daraufhin untersucht, welche Aussagen (Indikatoren für Ereignisse) sich auf die subjektiv empfundene Schwierigkeit beziehen, Schul- und Familienalltag zu vereinen. Diese Aussagen (linke Seite: Unterstreichungen) wurden ausgewählt. Einige Ereignisse ließen sich den Kategorien Hilflosigkeit, Belastung und Verantwortung zuordnen. Die Kategorie „Hilflosigkeit“ umfasste etwa die Konzepte „Rabenmutter“, „Frustration“ und „allein mit Kampf“ (rechte Seite: Fettdruck). Eine übergeordnete Kernkategorie[12], die alle analysierenden Aktionen (repräsentiert durch Konzepte und Kategorien) zusammenfasst, könnte als „Systemdifferenz“ bezeichnet werden. Zugehörige Subkategorien wie „Abstimmungsprobleme“ oder „Informationsmangel“ hätten sich in anderen Kontexten, etwa bei Elternabenden oder Gesprächen mit Lehrkräften, finden lassen. Die Analyse nutzte vor allem „in-vivo-Kodes“, also Begriffe, die direkt aus dem Material stammen und die Lebenswelt der Befragten widerspiegeln. Diese Kodes, wie „Rabenmutter“ oder „Frustration“, sind besonders anschaulich und eignen sich gut, um Konzepte und Kategorien prägnant zu benennen. Sie verdeutlichen, wie die Befragten ihre Alltagswelt wahrnehmen und strukturieren. Daneben wurden auch fachwissenschaftliche Kodes verwendet, die entweder aus bestehenden Theorien entlehnt oder von den Forschenden selbst entwickelt wurden (Strauss 1994: 64). Solche Kodes, etwa „Systemdifferenz“, „Rolle“, „Sozialverhalten“ oder „Aggression“, fassen abstrakte Kategorien zusammen und verknüpfen die Analyse mit fachlichem Wissen. Sie verleihen der Untersuchung größere Reichweite und stärkere wissenschaftliche Akzente als lebensweltliche Kodes[13]. Entscheidend ist, beide Ebenen – die alltagsweltliche und die wissenschaftliche – sinnvoll zu verbinden. Kodes und Konzepte sind Ergebnisse geistiger Arbeit und keine Tatsachen. Sie entstehen als Zwischenschritte auf dem Weg zu empirisch fundierten Verallgemeinerungen. Als mentale Konstrukte bestehen sie aus Textstücken und sollten nicht mit objektiven Gegebenheiten verwechselt werden. Während des Kodierens wurden erste Assoziationen und Interpretationen in sogenannten Memos[14] festgehalten. Diese Notizen dienten zunächst der Erinnerung und später der gedanklichen Weiterarbeit. Sie enthalten Kommentare zur Analyse, grafische Darstellungen von Kategorien und deren Beziehungen, entdeckte Probleme und mehr[15]. Die Memos halfen, ein gedankliches Modell schrittweise zu entwickeln, indem sie Ideen sammelten, ordneten, präzisierten und auf gemeinsame Dimensionen hin überprüften. Im Folgenden werden einige Memos der Referenzstudie zitiert, um zu verdeutlichen, was Memos leisten:

  1. „Anstrengung und Belastungdurch die Schule werden in diesem Fall sehr offensichtlich als persönliches Erleben einer Mutter geschildert, während andere Interviewpartner die Belastung mehr indirekt zum Ausdruck bringen oder als „geteiltes Leid“ von Kind und Eltern ansehen“
  2. „Belastung durch die Schule wird auf zwei Ebenen begründet: einmal durch Veränderungen, die die weiterführende Schulemit sich bringt (deutlich wird dies durch Verwendung des Komparativs: anstrengender bzw. belastender), zum andern durch einen Konflikt, der in einer differenzierten Haltung zwischen notwendiger und hinreichender bzw. erforderlicher Unterstützungschulischer Aktivitäten der Tochter besteht“
  3. „Der erwähnte Gewissenskonfliktdeutet darauf hin, dass der eigene Erziehungsstil, der im familiären Geschehen seine Anwendung findet, mit dem Erziehungsstil in der Schule konfligiert. Dadurch tritt gleichzeitig eine erzieherische Unsicherheit auf, wie mit dieser Differenz von Stilen bzw. Zielen der Erziehung umgegangen wird. Auch der Vergleich mit anderen Müttern verursacht ein schlechtes Gewissen („…als Vergleich zu anderen Müttern…“). Dieser Vergleich wirft die Frage auf, wie viel Verantwortung notwendig ist und wie viel der Tochter in Sachen Schule zugemutet werden kann und führt zur Eigenbeurteilung einer Rabenmutter, die von ihren Kindern in schulischen Angelegenheiten die Selbstständigkeit abverlangt, die ihnen auch zu Hause zugestanden und auferlegt wird („…lässt deine Kinder total hilflos…“)“
  4. „Im Rahmen des erzieherischen Handelns entsteht dadurch das Gefühl der Hilflosigkeit. Erziehungwird persönlich als Frustrationund Kampf erlebt, besonders, weil das erzieherische Handeln nach ihrer Scheidung von der interviewten Mutter allein bewältigt werden muss“

Das letzte Memo legt nahe, „Hilflosigkeit im erzieherischen Handeln der Mutter“ als zentrales Konzept des Textes zu betrachten. Im weiteren Verlauf wurde dieses Konzept auf andere Interviews angewendet (axiales Kodieren) und durch prägnante Attribute präzisiert. Verschiedene Eigenschaften und Dimensionen des Konzepts ermöglichten eine genauere Analyse. Die vergleichende Untersuchung der übrigen Interviews bestätigte, dass weitere Indikatoren dem Begriff „Hilflosigkeit“ zugeordnet werden konnten. Dadurch wurde das Abstraktionsniveau angehoben: „Hilflosigkeit“ erhielt den Status einer übergeordneten Kategorie, die als Baustein für die Theoriebildung dient und Konzepte mit ähnlichem Inhalt (Verhaltensbezug, Phänomensinn) zusammenfasst (vgl. Abb. 1, oben). Neben „Hilflosigkeit“ wurden weitere Kategorien wie „Belastung“, „Verantwortung“ und „Unterstützung“ herausgearbeitet. Diese dienten als Ausgangspunkte für die Sammlung zusätzlicher Daten („theoretisches Sampling“, s.u.) und deren Analyse. Memos erweisen sich als wertvolles Werkzeug, um erste Eindrücke und Gedanken festzuhalten. Sie sollten jedoch als Hypothesen betrachtet werden, deren Brauchbarkeit sich erst im weiteren Kodierprozess zeigt. Als Einstiegshilfen fördern sie das abstrahierende Denken und dokumentieren es. Gleichzeitig geben sie Hinweise auf den Bedarf und die Auswahl weiterer Daten.

3.2.2 Axiales Kodieren

Beim offenen Kodieren zerlegen wir die Daten in ihre Bedeutungsabschnitte und Kontexte, um Konzepte und Kategorien zu entwickeln. Im axialen Kodieren[16] untersuchen wir die logischen und inhaltlichen Beziehungen zwischen diesen Kategorien genauer. Dabei ordnen wir sie, wenn möglich, hierarchisch. Der Fokus liegt auf den Eigenschaften des Untersuchungsgegenstands, nicht auf sprachlichen oder handlungspraktischen Indikatoren. Ein Kodierparadigma, entwickelt von Strauss (1994) und Strauss/Corbin (1996), hilft, die die Sinn- und Situationsstrukturen der betrachteten sozialen Welt zu erkennen und zu ordnen. Es regt an, folgende Fragen zu stellen:

  1. Was ist der genaue Gegenstand?
  2. Welche Ursachen hat das Phänomen in den Interaktionen der Akteure?
  3. Welche Kontextbedingungen und Einflüsse gibt es?
  4. Welche Handlungsstrategien und Taktiken nutzen die Akteure?
  5. Wie verändern sich die Bedingungen und Handlungen?

Es lassen sich je nach fachlicher Belesenheit und Vorlieben der Forscher/-innen auch inhaltlich anders gestaltete Paradigmata denken und verwenden[17]. Axiales Kodieren treibt die Erkenntnis voran, indem es die Daten wieder zusammenfügt. Wir überprüfen und überarbeiten Konzepte und Annahmen, bis ein klares Bild des Falls entsteht. In der Beispielstudie wurde die Kategorie „Hilflosigkeit im erzieherischen Handeln“ mit anderen Kategorien kombiniert, um Randbedingungen, Sinn-Kontexte und Variablen zu ermitteln. Ein Gedankenmodell der Zusammenhänge kann die Analyseergebnisse systematisch darstellen und bei Bedarf verändert werden.

3.2.3 Selektives Kodieren

 Beim offenen und axialen Kodieren entstehen in einem zyklischen Prozess Kategorien, die sowohl im Gegenstand verankert als auch abstrahiert sind. Diese werden analytisch verknüpft, bis Kernkategorien entstehen, die den Schlüssel zum Verständnis und zur Erklärung des Phänomens bieten. So konzentriert sich die Analyse auf Inhalte, die eine verallgemeinernde Theorie ermöglichen, etwa um ein Verhaltensmuster in seiner Vielfalt und seinen Variationen zu erklären. Eine Schlüsselkategorie sollte treffend benannt werden, idealerweise mit einem in-vivo Kode, und ihre semantischen Eigenschaften müssen plausibel sein. Ihre Beziehungen zu anderen Kategorien sollten detailliert aufgezeigt werden. Schlüsselkategorien integrieren mehrere Kategorien unter folgenden Aspekten:

– Zentralität: Bezug zu möglichst vielen forschungsbezogenen Themen,

– Repräsentanz: zahlreiche Indikatoren im Material,

– Vernetztheit: Bezüge zu anderen Schlüsselkategorien,

– Produktivität: Entwicklung neuer theoretischer Annahmen und Hypothesen,

– Allgemeinheit: Erfassung der maximalen Breite eines Themas mit möglichen
Variationen.

Die Analyse verläuft nicht nach einem festen Schema, sondern kreisförmig, sprunghaft und rekursiv, je nach Stand des Erkenntnisprozesses. Induktion, Deduktion und Verifikation folgen einer inneren Abfolge, in der sie sich gegenseitig herausfordern und bereichern (Strauss 1991: 37). Induktion umfasst die Vielfalt der Aspekte aus dem Material, die zu Vermutungen oder Thesen führen, die ggf. später in Erklärungen integriert werden. Deduktive Schritte prüfen die Erkenntnisse, indem sie Hypothesen mit den Kategorien und Inhalten des Materials in Beziehung setzen.

3.2.4 Dimensionen/Dimensionalisierung

 Jede Kategorie vereint mehrere allgemeine Eigenschaften, die über einen dimensionalen Raum variieren (siehe Tabelle unten). Für eine tiefere Analyse ist die Skalierung dieser Dimensionen vorteilhaft, da sie das Phänomen umso dichter darstellt, je genauer seine Position in einer Matrix der dimensionalen Eigenschaften bestimmbar ist. Die in einer Fallanalyse identifizierte Kategorie zeigt zunächst ein einzigartiges dimensionales Profil, das nur für diesen Fall gilt. Später kann es durch gezielte Auswahl ähnlicher oder kontrastierender Fälle (theoretical sampling) in einen allgemeineren Zusammenhang gestellt werden.

Abbildung 3: Kategorie ‚Hilflosigkeit‘ mit Eigenschaften und Dimensionen

Abbildung 3 zeigt Eigenschaften der Kategorie Hilflosigkeit und deren Dimensionen. Diese Eigenschaften, die nicht nur als Konzepte kodiert, sondern auch theoretisch entwickelt werden könnten, sind: Differenz der Erziehungsstile, Ambivalenz im Erziehungshandeln und Vergleich. Die Dimensionen lassen sich ihrem Gewicht nach skalieren, etwa die Eigenschaft „Ambivalenz-Konflikt“: sehr stark – mäßig stark – gering – ohne.

3.2.5 Theoretical Sampling

Im quantitativen Bereich bedeutet Sampling, Stichproben nach theoretischen Überlegungen zur Grundgesamtheit, Repräsentativität und Fragestellung zu ziehen, idealerweise nach einem Zufallsmodell. In der GTM wählt man hingegen bewusst charakteristische Fälle oder Elemente aus, die während der Analyse theoretische Bedeutung erlangt haben. Forscher gewinnen durch Kodieren zunehmend Anhaltspunkte für noch offene Fragen und neue analytische Gesichtspunkte, die weitere Forschungsschritte erfordern. Nach sorgfältiger Abwägung der theoretischen Absichten entscheidet man, welche Gruppen, Ereignisse oder Handlungen weiter untersucht werden müssen. Die Datenbasis wächst somit während des gesamten Forschungsprozesses (vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 148 ff).

In der Beispielstudie wurde die Auswahl einer (einzigen) Schulklasse entnommen. Die Verfasserin begründet dies (nicht unbedingt überzeugend) damit, möglichst viele objektive Bedingungen (Alter, Schulart, Klassenstufe, Lerninhalte, Lehrer/-innen, keine Klassen-Wiederholer, nur Familien ohne Migrationshintergrund) gleich halten zu können. Ihre Auswahl der dann analysierten Daten bevorzugte jedoch (unter dem Gesichtspunkt der Kontrastierung) solche Fälle, die Differenzen in Bereichen wie der Bildungsvorgeschichte (Wechsel von einer höheren oder niedrigeren Schulart in die Realschule), den familiären Bedingungen (Erziehungsberechtigte sind beide Elternteile oder nur Vater bzw. Mutter), dem beruflichen Status ihrer Erziehungsberechtigten (von der Hausfrau bis zum Selbstständigen) oder der Anzahl der schulpflichtigen Geschwister aufwiesen.

Die Erhebung beschränkte sich damit nicht nur auf Daten, die für eine bestimmte Forschungssituation von vornherein als bedeutsam erschienen, sondern es wurden auch Fälle, nach Maßgabe weiterer Kriterien – im Wechselspiel zwischen Datenerhebung und Analyse – in einem parallel zur Auswertung stehenden Prozess einbezogen. Vorausgehende Probeinterviews mit Eltern, deren Kinder dem Alter und der Klassenstufe der später in die Untersuchung einbezogenen Schüler/-innen entsprachen, sollten die Erprobung der Interviewmethode gewährleisten. Auch mit, der Verfasserin zumeist bekannten, Schüler/-innen entsprechenden Alters wurden Probeinterviews durchgeführt[18].

Die (vom jeweiligen Stand des Wissens und der Theoriebildung abhängige) Erschließung weiterer Datenquellen erfolgt, um Information über die interessierenden Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven zu gewinnen. In diesem zirkulären Prozess (von der Datenerhebung über Kodieren und Analyse zu erneuter Datenerhebung, Kodieren und Analyse usw.), wird allmählich eine Sättigung des Interesses und der entwickelten Theorie-Bausteine (Konzepte, Kategorien etc.) erreicht, wenn bzw. weil alle bedeutsamen Aspekte einer Fragestellung nach und nach erfasst werden. 

3.2.6 Theoretisches Vorwissen, Sensibilität und Theoriebildung

Eine wichtige Prämisse der GTM ist, dass ganz grundsätzlich in die deutende Verarbeitung des Datenmaterials eine gehörige Portion von Vorwissen (in der Form von Alltagswissen, Kontextwissen, Erfahrung, Theorie des jeweiligen Fachs und des besonderen Gegenstands sowie wissenschaftliche Forschungsstände) eingeht, – daher sollten diese Theoriebausteine so weit wie möglich offengelegt und damit in kontrollierter Form zur Anwendung gebracht werden. Das Vorgehen der ausgewählten Studie verdeutlicht, dass die Durchführung eines Forschungsprozesses ohne jegliche Vorkenntnisse – ohne „Wissen“ über den Untersuchungsgegenstand – zur Entwicklung von Konzepten und Ansatzpunkten weiterer Datensammlung nur schwer vorstellbar ist. Die Verfasserin war mit den Abläufen des Schulalltags vertraut, für sie war selbstverständlich, dass Personen (und deren ‚Rollen‘) wie Eltern, Schüler/-innen und Lehrpersonal an den Kommunikationsprozessen zwischen Familie und Schule beteiligt sind. Ihr waren, wegen ihrer vorausgehenden Tätigkeit als Lehrerin, typische und übliche Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule bekannt und darüber hinaus hatten auch Gespräche mit Eltern, Kollegen und Schüler/-innen vor Beginn des eigentlichen Forschungsprozesses stattgefunden. Hier werden vorausgehende Wissensbestände als Prä-Konzepte für weitere Forschung durchaus nützlich, auch wenn die Bedeutung dieses Wissens für die Entwicklung der späteren Theorie nicht unbedingt abzuschätzen war. Weiter wurden Themenwahl und Themenformulierung ganz wesentlich durch die entwicklungspsychologische Hintergrund-Annahme geprägt, dass im Laufe der Schulzeit der Umgang mit den schulischen Anforderungen ‚Leistung‘ und ‚Lernen‘ zunehmend stärker von der jeweils ausgeprägten Beziehungsform zwischen Eltern und Kindern abhängt.

Deutung (das begreifende Verständlich machen der Beziehungen zwischen empirischen Fakten und das indikatorbezogene Entwickeln von Konzepten und deren Zusammenfassung in Kategorien) und Theoriebildung (den expliziten Aufweis der zwischen den Kategorien bestehenden inhaltlichen Verknüpfungen) hängen sehr stark von der theoretischen Sensibilität der Forscher/-innen ab, von ihrer Fähigkeit zu erkennen, was in den Daten wichtig ist bzw. noch wichtig werden könnte.Anstöße zur Erweiterung der theoretischen Sensibilität finden sich in wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Literatur, in der gesammelten beruflichen und persönlichen Erfahrung, und natürlich vor allem auch im aktuellen Forschungsprozess (vgl. Strauss/Corbin 1996: S. 25ff.). Mehrere Eigenschaften begünstigen das Theoretisieren (Strauss 1994: 348ff): ein möglichst umfangreiches Kontextwissen; die verstehende Sensibilität für den Sinn, den die untersuchten Akteure mit ihrem Verhalten verknüpfen; die Fähigkeit die als Daten geltenden Beobachtungen aus verschiedenen theoretischen Perspektiven zu betrachten; die Beherrschung der GTM und Geduld bei ihrer Anwendung sowie eine gut entwickelte analytische Kompetenz.
Das Verfahren der GTM wird i.d.R. nicht eingesetzt, um nur einen einzigen Fall zu untersuchen. Mit seiner Hilfe soll über den Einzelfall hinausweisende Erkenntnis erzeugt werden, wie z.B. theoretisch formulierte Beziehungen zwischen Phänomenen/Aspekten des Falls, ein plausibles Beziehungsgeflecht der am Fall gewonnenen Zusammenhänge und Faktoren und schließlich vielleicht sogar ein fallorientierter und zugleich fallübergreifender „theoretischer Rahmen“ (Strauss/Corbin 1996: 32) erarbeitet werden.

So führt die Prozesslogik der GTM die Analyse schnell an die Grenze des Offensichtlichen bzw. Sichtbaren. In den Aussagen, Kommunikationen, beobachtbaren Verhaltensweisen und Interaktionen sowie den dazu abrufbaren Bewusstseinsinhalten[19], kommen die für jede Fachwissenschaft bedeutsamen Bedingungsfaktoren des wahrnehmbaren verbalen oder praktischen Verhaltens (sog. ‚Kontextvariable‘ wie die Situationsdefinitionen der Akteure, situationsübergreifende institutionelle Regelungen und Strukturen, Organisationsformen sozialer Interaktion, historische Dimension von Habitualisierungen/Riten, Normen, Werte usw.) nur sehr indirekt (durch verschiedene Einflussfaktoren vermittelt) vor. Daher erscheint es zwingend, soll die Theoriebildung nicht an der Oberfläche des Offenkundigen stagnieren, mittels fachspezifischer (soziologischer, erziehungswissenschaftlicher, psychologischer usw.) theoretischer Konzepte Tiefendimensionen des Untersuchungsbereichs zu eröffnen und die Entdeckungen des aktuellen Untersuchungsverfahrens in sie zu integrieren. So hat die Verfasserin der Referenzstudie, ausgehend von einem allgemeinen systemtheoretischen Ansatz (Systeme ‚Familie‘ und ‚Schule‘), die familieninterne „Verarbeitung“ des Schulalltags daraufhin untersucht, wie das Thema ‚Schule‘ in Gesprächen der Familie behandelt wird. Ergebnisse der Analyse belegen, wie oben schon erwähnt, dass den Familien Schule als eine fremde „andere Welt“ erscheint, während sie für die Schüler/-innen eine (zumeist willkommene) Bereicherung ihrer Lebenswirklichkeit darstellt.

3.2.7 Das Gewinnen neuer Einsichten: Induktion und Abduktion

Die GTM fördert die Fähigkeit, aus vorhandenen Informationen neue Zusammenhänge zu erkennen – oft plötzlich und unerwartet. Einige Autoren, inspiriert von Charles S. Peirce (Peirce 1967), sehen in der Abduktion eine dritte Form des logischen Schließens neben Induktion und Deduktion. Doch die Vorstellung, Abduktion sei ein logisch kontrollierbares, kreatives Verfahren – eine Art „Erfindungsmaschine“ des Geistes –, gilt heute als Irrtum[20] (Reichertz 2003, 2007; Kelle 1994). Befreit von dieser mystischen Überhöhung beschreibt Abduktion vielmehr eine intuitive, produktive Denkleistung. Sie strukturiert scheinbar chaotische Eigenschaften eines Falls neu und formt daraus ein erklärendes Modell – eine geistige „Gestalt“ (vgl. Gestaltpsychologie, z.B. Metzger 1999). Durch bewusste und intuitive Abwägung zahlreicher hypothetischer Beziehungen entsteht ein plötzlicher Gedankensprung: ein Erkennen, das überzeugender wirkt als bisherige Ansätze. Doch dieser Einfall setzt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Material voraus – oft begleitet von Phasen der Unsicherheit und Frustration.

Im Beispiel gewinnt die Verfasserin ein ungewöhnliches Bild der Beziehung zwischen Schule und Elternhaus, indem sie den allen Beteiligten (Eltern, SchülerInnen, Lehrern) wohlbekannten und vertrauten Gegenstand als „fremde andere Welt“ konzipiert und die in den Daten auffindbare (teilweise dem Alltagsverstand widersprechende) Information begrifflich und bildhaft neu fasst. Trotz der subjektiv empfundenen Klarheit bleibt dieses „lebendige“ Erkennen nur ein mögliches Modell zur Anordnung von Informationen – neben anderen, vielleicht noch unentdeckten. Ein abduktiver Schluss verbindet lose Assoziationen zu einer „Einsicht“ in einer zunächst schlüssigen Gestalt. Doch ihre Gültigkeit und Tragfähigkeit[21] müssen sich in der Überprüfung an den Daten – sowohl den vorliegenden als auch weiteren – bewähren.

3.2.8 Einsatz von Computerprogrammen

Sammelt ein Forschungsprojekt umfangreiches Material – etwa Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle, Codenotizen oder Memos –, können Computerprogramme wie atlas.ti[22] oder MaxQDA[23] helfen, den Überblick zu behalten. Sie ermöglichen schnellen und präzisen Zugriff auf Daten und Codes. Mit Funktionen wie Kodieren, Memorieren und Zitieren vernetzen sie schriftlich vorliegende Informationen und unterstützen so die Entwicklung theoretischer Modelle. Die eigentliche Analyse der Daten bleibt jedoch geistige Arbeit (Kelle 2005; Lewins/Silver 2007; Kuckartz 2007; Muhr 1994, sehr empfehlenswert: Pehl/Dresing 2023). Für kleinere Forschungsprojekte sollte man den Einsatz solcher Programme sorgfältig abwägen. Der Aufwand, ihre Bedienung zu erlernen, lohnt nicht immer.

4 Grenzen des Verfahrens/Eignung

Die Grounded Theory Methodology (GTM) eignet sich insbesondere für Bereiche, in denen noch wenig Wissen existiert oder die sich stark wandeln. Schon mit begrenztem Datenmaterial lassen sich Ausschnitte sozialer Lebenswelten untersuchen, was viele qualitative Studien anstreben. Die Methode bindet direkt an die Realität an und vergleicht ständig das Datenmaterial. Diese komparativen Elemente führen bei sorgfältiger Analyse zu einer präzisen Theorie und können Datenmängel ausgleichen (vgl. Glaser/Strauss 1998, 228). Der Kodierprozess sollte in Gruppen erfolgen und gründlich diskutiert werden. Es sollte ausreichend Zeit für die Nachbereitung geben, um die theoretischen Entdeckungen mit anderen Theorien zu vergleichen und ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen. Auch andere Methoden der Sozialforschung können zur Überprüfung herangezogen werden.

Für kleine Projekte mit kurzer Laufzeit ist die GTM weniger geeignet, da das theoretische Sampling mehrere Verfahrensschritte und eine oft langwierige Suche nach geeignetem Material erfordert. Die Entwicklung allgemeiner Theorien über gesamtgesellschaftliche Strukturen oder deren Wandel ist mit GTM nicht zu erreichen[24]. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Untersuchung von Mikroprozessen wie Interaktionen und subjektiven Handlungsmodellen[25], um Theorien mittlerer Reichweite zu entwickeln, die ggf. Mikro- und Makrobereiche der Gesellschaft verbinden können. Obwohl der Forschungsprozess nicht ohne bereits vorhandenes Wissen beginnt, verzichtet die GTM bewusst auf die vorausgehende Formulierung von forschungsleitenden Hypothesen. Dies erhöht die Chance für ForscherInnen, sich möglichst unvoreingenommen[26] auf das untersuchte Feld einzulassen.

5. Literatur

Amann, Klaus/ Hirschauer, Stefan 1997: Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm, in: Hirschauer, Stefan/Amann, Klaus (Hrsg.),: Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnographischen Herausforderung soziologischer Empirie. Frankfurt/M, S. 7-41.

Böhm, Andreas 2000: Theoretisches Codieren. In: Flick/Kardorff 2000, S.475-485.

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6. Weiterführende Literatur – Hilfen zur praktischen Durchführung der GTM:

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