Die Dokumentarische Methode findet ihren Einsatz bei der Auswertung verschiedenster qualitativer Daten. Ihr Ziel ist dabei die Rekonstruktion kollektiver, milieuspezifischer Orientierungen. Der Lehrtext beschreibt den theoretischen Hintergrund der Methode und zeigt an einem Beispiel aus dem Fallarchiv die zentralen Arbeits- und Interpretationsschritte.
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Barbara Asbrand:
Dokumentarische Methode
Einführung
1. Metatheoretische Grundlagen
Konjunktives und kommunikatives Wissen
Der Wechsel der Analyseeinstellung vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘
2. Die Schritte der Interpretation in der Forschungspraxis
Formulierende Interpretation
Reflektierende Interpretation
Komparative Analyse und Typenbildung
3. Anwendungsbereiche in der Schul- und Unterrichtsforschung
Einführung
Begründer der dokumentarischen Methode ist Karl Mannheim, der den Begriff in den 1920er Jahren im Rahmen seiner Wissenssoziologie geprägt und als Methode der „Weltanschauungsinterpretation“ erkenntnistheoretisch begründet hat (Mannheim 1964). U.a. weil Karl Mannheim in den 1930er Jahren aus Deutschland emigrieren musste, wurden seine Überlegungen im deutschsprachigen Raum allerdings zunächst nicht rezipiert und fortgeführt. In den 1950er Jahren wurden die Wissenssoziologie Karl Mannheims und seine Überlegungen zur dokumentarischen Methode in den USA von Harold Garfinkel aufgegriffen und fanden Eingang in die Ethnomethodologie (vgl. Bohnsack 2003, S. 57ff). Erkenntnistheoretische Prämissen, die für die dokumentarische Methode im Anschluss an Mannheim bestimmend sind (s.u.), finden sich ebenfalls in der Ethnomethodologie Garfinkels: Äußerungen der Alltagskommunikation werden als Dokumente für dahinterliegende Muster angesehen, Intersubjektivität gilt als Basis für die Herstellung von Sozialität und Indexikalität der Alltagskommunikation – d.h. die selbstverständliche Übereinstimmung innerhalb einer sozialen Gruppe oder Milieu, die nicht expliziert werden muss – und auch die Ethnomethodologie geht nicht von einer besseren oder höheren Rationalität der Wissenschaft im Vergleich zur Alltagskommunikation aus (ebd.). Allerdings bezeichnet Bohnsack die Ethnomethodologie aus der Sicht der dokumentarischen Methode als eine „halbierte Wissenssoziologie“, da sie keinen methodischen Zugang zur Indexikalität milieuspezifischer Alltagskommunikation eröffne (Bohnsack 2003, S. 59). Als Forschungsmethode wurde die dokumentarische Methode in den 1980er Jahren unter Bezugnahme auf Karl Mannheim von Werner Mangold und Ralf Bohnsack entwickelt (Bohnsack 1989) und etablierte sich in der Folgezeit in der qualitativ-empirischen Bildungs- und Sozialforschung als ein rekonstruktiver Forschungszugang. (Das einführende Lehrbuch von Ralf Bohnsack mit dem Titel „Rekonstruktive Sozialforschung“ erschien 2007 in siebter Auflage.) Das Potenzial der dokumentarischen Methode liegt in der Möglichkeit, implizites Wissen und jene milieu-, generations-, geschlechts- oder entwicklungsspezifische Orientierungen empirisch rekonstruieren zu können, die der Alltagskommunikation zugrunde liegen und das Alltagshandeln bestimmen, in der Regel aber nicht expliziert werden und in der Handlungs- oder Interaktionssituation nicht reflexiv zugänglich sind.
Bei der dokumentarischen Methode handelt es sich um eine Methode zur Auswertung qualitativer Daten, die vielfältig einsetzbar ist und sich zur Analyse unterschiedlicher qualitativer Daten eignet. Erfahrungen liegen vor mit der dokumentarischen Interpretation von Gruppendiskussionen, Interviews, audioaufgezeichneter Alltagskommunikation (z.B. Tischgespräche in Familien, Peerinteraktion von Schülern und Schülerinnen, Unterricht), Videoaufzeichnungen, Dokumenten, Beobachtungsprotokollen und im Bereich der Bildinterpretation (vgl. Bohnsack 2003, S. 31f). Entwickelt wurde die dokumentarische Methode im Rahmen eines Forschungsprojekts, in dem Gruppendiskussionen mit Jugendlichen analysiert wurden (Bohnsack 1989). Die dokumentarische Methode eignet sich in ganz besonderer Weise zur Interpretation von Gruppendiskussionen (Loos/Schäffer 2001), da die Herstellung von Wissen – der Gegenstand der Rekonstruktion – im Anschluss an Mannheim als kollektiver, an die Sozialität von Milieus und Realgruppen gebundener Prozess verstanden wird. Die dokumentarische Methode ist stets an der Rekonstruktion kollektiver, milieuspezifischer Orientierungen interessiert. Das Gruppendiskussionsverfahren im Sinne der dokumentarischen Methode geht davon aus, dass sich kollektiv geteilte Orientierungen in Gesprächen dokumentierten. Hieraus resultiert die Bedeutung der Analyse formaler Strukturen des Diskurses in der dokumentarischen Interpretation (s.u.). Wegen der zentralen Stellung der Diskursanalyse und entsprechender elaborierter Verfahren (s.u.) ist die dokumentarische Methode ebenfalls sehr gut geeignet für die Interpretation aufgezeichneter Alltagskommunikation. Denn auch in Alltagsgesprächen und -interaktionen dokumentiert sich kollektiv geteiltes implizites Wissen ebenso wie in Gruppendiskussionen, die nur zum Zweck der Datenerhebung durchgeführt werden. Arnd-Michael Nohl hat die dokumentarische Methode als Auswertungsmethode für narrative Interviews weiterentwickelt. An die Stelle der Analyse der formalen Diskursorganisation tritt bei der dokumentarischen Interpretation von Interviews die Bestimmung von Textsorten (Nohl 2006). Zur Analyse visueller Daten (Bild, Film, Videoaufzeichnung) wurde die dokumentarische Methode in jüngster Zeit als Methode der Bildinterpretation weiterentwickelt (Bohnsack 2008). Dabei wird in methodologischer Hinsicht auf Panofskys Methode der Interpretation von Kunstwerken rekurriert, die ihrerseits auf Karl Mannheim Bezug nimmt und – vergleichbar der Unterscheidung von formaler Diskursorganisation und implizitem Wissen, das sich in Gesprächen dokumentiert – zwischen der formalen Bildgestaltung, der Ikonographie, und dahinterliegendem Sinngehalt eines Bildes, der Ikonologie, unterscheidet (Panofsky 1975; vgl. Bohnsack 2003, S. 158ff; Bohnsack 2008).
Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen metatheoretischen Grundlagen der dokumentarischen Methode erläutert, da diese ohne Berücksichtigung ihrer theoretischen Fundierung in der Wissenssoziologie Karl Mannheims (1964; 1980) kaum zu verstehen ist. Anschließend werden die Schritte der dokumentarischen Interpretation anhand eines Fallbeispiels (Asbrand 2008a) erläutert. Abschließend werden Anwendungsmöglichkeiten der dokumentarischen Methode im Bereich der Schul- und Unterrichtsforschung aufgezeigt.