1. Metatheoretische Grundlagen
Konjunktives und kommunikatives Wissen
Die oben bereits erwähnte Unterscheidung zwischen implizitem, handlungspraktischem und theoretischem Wissen geht auf die Wissenssoziologie Karl Mannheims (1964, 1980) zurück, die die wesentliche metatheoretische Grundlage der dokumentarischen Methode (Bohnsack 2003) darstellt. Mannheim unterscheidet zwischen kommunikativ-generalisierendem und konjunktivem Wissen. Bei dem kommunikativ-generalisierenden Wissen handelt es sich um das theoretische, reflexiv verfügbare Wissen der Erforschten. Es wird begrifflich expliziert und beinhaltet theoretische, bewertende, normative Aussagen über die Handlungspraxis oder das Selbstbild und ist mit Intentionalität und Zweckrationalität verbunden. Das konjunktive Wissen dagegen ist atheoretisches, implizites Wissen. Es handelt sich um implizite Orientierungen, die das Denken und das praktische Handlungswissen bestimmen. Dieses handlungsleitende Wissen wird in der Sozialisation auf der Grundlage geteilter Erfahrungen erworben und ist deshalb erfahrungsbasiertes, habitualisiertes Wissen (Mannheim 1980; Bohnsack 2003, S. 59ff). Nach Mannheim handelt es sich bei dem impliziten, habitualisierten Wissen um kollektiv geteilte Orientierungen, weil dieses Wissen in konjunktiven Erfahrungsräumen angeeignet wird und deshalb von all jenen geteilt wird, die über gemeinsame – Mannheim spricht von konjunktiven – Erfahrungen verfügen. Konjunktive Erfahrungen sind fundamentale, existentiell bedeutsame Zusammenhänge, die die Sozialisation von Individuen bestimmen und mit anderen geteilt werden. Dies können beispielsweise milieu-, generations-, geschlechts- oder organisationsspezifische Erfahrungen sein. Zum Beispiel ist die schulische Sozialisation ein konjunktiver Erfahrungsraum von Schülern und Schülerinnen. Konjunktive Erfahrungen können gemeinsame Erfahrungen einer Realgruppe sein, im Fall des anschließend dargestellten Beispiels etwa der Erfahrungsraum der konkreten Schule, die die Schülerinnen besuchen, und das gemeinsame Engagement in der Schülerfirma. Konjunktive Erfahrungen sind aber auch solche, die Individuen miteinander verbinden, ohne dass diese im Alltag tatsächlich zusammenleben oder sich kennen müssen. Bspw. solche Erfahrungen mit Schule, die Schüler und Schülerinnen generell miteinander teilen, unabhängig davon, welche konkrete Schule sie besuchen, oder der konjunktive Erfahrungsraum der Geschlechtszugehörigkeit der Schülerinnen, den sie mit anderen Mädchen und Frauen teilen.
Der Wechsel der Analyseeinstellung vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘
Kern der wissenssoziologischen Theorie, die der dokumentarischen Methode zugrundeliegt, ist die Annahme, dass das Alltagshandeln, das Denken und die Vorstellungen des Commonsense sozial konstruiert sind (vgl. Bohnsack 2003, S. 20ff). Gegenstand der dokumentarischen Interpretation ist die Rekonstruktion der Konstruktionen des Alltags. Dies bezeichnet Bohnsack im Anschluss an Mannheim als Wechsel der Analyseeinstellung (vgl. insgesamt Bohnsack 2003, S. 64ff., 173ff.; Mannheim 1980, S. 88ff). Unterschieden wird zwischen der wissenschaftlichen Analyseeinstellung und der des Commonsense. Während es sich bei letzterer um die Alltagstheorien der Erforschten und das in die alltägliche Handlungspraxis eingelassene atheoretische Wissen handelt, Wissen, das z.B. in Gesprächen unter Lehrern und Lehrerinnen über ihre Erfahrungen mit neuen Lernformen im Unterricht thematisiert wird, interessiert sich die wissenschaftliche Analyseeinstellung für theoretisches, wissenschaftliches Wissen, in einem Forschungsprojekt zu Fragen der Schul- und Unterrichtsentwicklung wären dies beispielsweise Aussagen über Zusammenhänge zwischen Lehrerprofessionalität und Unterrichtsentwicklung. Grundsätzlich handelt es sich sowohl bei der wissenschaftlichen Erkenntnis als auch im Fall des Alltagswissens um Konstruktionen, die an den Standort des Beobachters gebunden sind. Mannheim spricht von der „Seinsverbundenheit des Wissens“, da es immer auf konjunktiven Erfahrungen basiert und auch die Wissenschaft ihre je eigene Standortgebundenheit hat (Mannheim 1995). Hieraus ergibt sich die grundlegende Einsicht, dass es kein „Besserwissen“ der Wissenschaft geben kann. Vielmehr hat das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse einen anderen Gegenstand als die Alltagstheorien der Beforschten. Um dem Rechnung zu tragen postuliert Mannheim den Grundsatz der Einklammerung des Geltungscharakters (Mannheim 1980; Bohnsack 2007, S. 173ff.). Das bedeutet, dass sich die dokumentarische Interpretation einer Bewertung dessen enthält, was in der Gruppendiskussion gesagt wird. Stattdessen beschäftigt sich die Interpretation mit der Frage, wie die Gruppe die Themen im Diskurs bearbeitet. Mit diesem Wechsel der Analyseeinstellung vom Was zum Wie ist das Anliegen der dokumentarischen Methode bezeichnet, den modus operandi des Wissens der Erforschten zu beschreiben und nicht nach der Gültigkeit dieses Wissens zu fragen. Das Interesse der dokumentarischen Interpretation an den impliziten Orientierungsrahmen, am modus operandi der Konstitution des Alltagswissens, entspricht dem, was Luhmann Beobachtung zweiter Ordnung nennt (1998, S. 85ff; vgl. Bohnsack 2003, S. 64). Dies verdeutlicht, dass es um unterschiedliche Ebenen geht: Während die Commonsense-Annahmen atheoretisches Wissen der Alltagspraxis darstellen, fragt die wissenschaftliche Analyseeinstellung nach der Herstellung dieser Normen unter Suspendierung ihres Geltungscharakters. Es geht in der dokumentarischen Interpretation also nicht um die Bewertung von Alltagskommunikation sondern um das Verstehen von Orientierungen, Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen, die der Forscherin bzw. dem Forscher nicht vertraut sind; entweder weil die Wissenschaftler/innen nicht dem Milieu der Erforschten angehören – was beispielsweise in der Kindheits- und Jugendforschung bzw. bei der empirischen Analyse der Perspektive von Schülern und Schülerinnen auf Schule und Unterricht der Fall ist – oder weil eine explorative Fragestellung untersucht wird, über die bisher wenig wissenschaftliche Erkenntnis existiert. Bohnsack (2003) bezeichnet die Forschungspraxis der dokumentarischen Methode deshalb auch als ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen.