2. Die Schritte der Interpretation in der Forschungspraxis
Die im vorherigen Abschnitt beschriebenen methodologischen Grundlagen der dokumentarischen Methode finden ihren Niederschlag in der konkreten Forschungspraxis:
(1) Der Wechsel vom ‚Was‘ zum ‚Wie‘ wird mit der Unterscheidung zwischen formulierender und reflektierender Interpretation vollzogen. Im Zuge der formulierenden Interpretation wird analysiert, was immanent in der Alltagskommunikation (z.B. videographierter Unterricht) bzw. in der Erhebungssituation (Interview, Gruppendiskussion o.ä.) von den Erforschten ausgedrückt wird, der immanente Sinn in den Worten Mannheims (1980). Die reflektierende Interpretation fragt im Gegensatz dazu danach, wie die Themen bearbeitet werden. Das bedeutet, dass sich die formulierende Interpretation mit dem kommunikativen Wissen der Erforschten beschäftigt, mit jenen Wissensbeständen, die den Befragten bzw. Beobachteten reflexiv zugänglich sind und die in der Kommunikation expliziert werden. Die reflektierende Interpretation nähert sich mit der Frage nach dem ‚Wie‘ dagegen dem impliziten, atheoretischen Wissen. Mit diesen beiden Interpretationsschritten wird im Forschungsprozess kommunikatives und konjunktives Wissen jeweils in seiner Spezifik sichtbar gemacht.
(2) Mannheim geht davon aus, dass konjunktives Wissen in sozialen Zusammenhängen konstruiert wird, die als konjunktive Erfahrungsräume bezeichnet werden, weil sie durch geteilte fundamentale, existentielle Erfahrung konstituiert sind. Daraus ergibt sich die grundlegende Annahme der dokumentarischen Methode, dass sich konjunktive Orientierungen in solchen Kommunikations- und Interaktionszusammenhängen bzw. Diskursen rekonstruieren lassen, die bestimmte konjunktive Erfahrungsräume repräsentieren. Die Annahme ist, dass die konjunktiven milieu-, generations-, geschlechts- oder entwicklungstypischen fundamentalen Erfahrungen in solchen Alltags- oder Erhebungssituationen aktualisiert werden, in denen Personen miteinander kommunizieren, die einen konjunktiven Erfahrungsraum teilen. In dieser Kommunikation dokumentieren sich die impliziten Orientierungen der jeweiligen Gruppen. Deshalb spielt die formale Diskursanalyse, die sich damit beschäftigt, wie ein Thema bearbeitet wird, im Rahmen der reflektierenden Interpretation eine zentrale Rolle. Bohnsack geht davon aus, dass sozialer Kommunikation bzw. Gespräche als autopoietische, sich selbst steuernde Systeme ein gemeinsamer Rhythmus, eine habituelle Übereinstimmung der Beteiligten zugrundeliegt, der sich auch performativ – in der Art und Weise, wie miteinander kommuniziert wird – dokumentiert (2003, S. 121ff). Mit einer gewissen Nähe zu soziolinguistischen Verfahren der Gesprächsanalyse (vgl. ebd.) spielt die Analyse der Diskursorganisation von audio- oder videoaufgezeichneter Kommunikation in der dokumentarischen Methode deshalb eine wichtige Rolle. Ziel ist die Rekonstruktion tieferliegender Sinngehalte von Äußerungen, rekonstruiert werden das implizite Wissen der Erforschten bzw. die impliziten Strukturen der erforschten Alltagsinteraktion. Implizites Wissen dokumentiert sich in der Art und Weise, wie kommuniziert wird. Mannheim spricht deshalb auch vom Dokumentsinn (ebd.).
(3) Um zu verhindern, im Interpretationsprozess dennoch die an den Standort der Forscherin bzw. des Forschers gebundene Normativität zum Maßstab der Analyse qualitativ-empirischer Daten (narrative Interviews, Gruppendiskussionen, Beobachtungsprotokolle, Bilder, Audio- und Videoaufzeichnungen von Alltagskommunikation wie z.B. Unterricht) zu machen, spielen zwei methodische Schritte in der dokumentarischen Interpretation eine wesentliche Rolle, die ihre Bezeichnung als methodisch kontrolliertes Fremdverstehen legitimieren: Dies ist zum einen die große Bedeutung der komparativen Analyse und zum anderen die Diskussion der Interpretationen in Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen. Letztere dient dazu, die Standortgebundenheit der einzelnen Forscherin bzw. des einzelnen Forschers zu kontrollieren, indem die Nachvollziehbarkeit der Interpretation in einer größeren Gruppe zur Diskussion gestellt wird. Bei der komparativen Analyse, die im Forschungsprozess gleichzeitig mit der reflektierenden Interpretation stattfindet, werden empirische Vergleichshorizonte an das Material herangetragen. Sie ersetzen im Forschungsprozess Zug um Zug die standortgebundenen Vergleichshorizonte der Wissenschaftler/innen. Vielmehr wird im Vergleich mit anderen empirischen Fällen das je Spezifische eines Falls rekonstruiert.
Im Folgenden werden die Schritte der Interpretation anhand eines Beispiels aus der Forschungspraxis erläutert. Dieses Beispiel ist der Schülerforschung zuzuordnen. Beispielhaft interpretiert wird ein Ausschnitt aus einer Gruppendiskussion mit Gymnasialschülerinnen aus einem 13. Jahrgang, die in einer Schülerfirma mitarbeiten und in der Gruppendiskussion von ihrer Mitarbeit in diesem Schulprojekt berichten. Dabei kommt das Charakteristikum der Schülerfirma zur Geltung, als pädagogisch intendiertes und von Lehrkräften begleitetes Lernarrangement formales schulisches Lernen mit informellen Lern- und Interaktionsprozessen in der Peergroup produktiv zu vereinen (vgl. Nentwig-Gesemann/Streblow/Bohnsack 2005; Asbrand 2008c). Rekonstruiert wird also die Perspektive der Schülerinnen auf eine spezifische schulische Lerngelegenheit.
Zur Illustration und zum besseren Verständnis der Erläuterungen bzw. um die Schritte der Interpretation konkret nachvollziehbar zu machen, werden die Interpretationen zu dem folgenden Ausschnitt aus dem Transkript der Gruppendiskussion in den Text eingefügt.
34 Y: Ja vielleicht erzählt ihr mir einfach mal was ihr dann 35 (.) als ihr im El Sol Laden gearbeitet habt, was ihr da 36 so gemacht habt; (.) Wie das war, 37 ?w: @()@ 38 Y: Ja und genau wart des ihr? Oder wer wie viele wart ihr 39 insgesamt? Wer war da noch dabei, in der Gruppe; 40 Cw: als mir richtig gearbeitet ham warn wir eigentlich zu 41 vie- also das war unserer Vierer-Gruppe; (1) also 42 Y ⌊ mhm 43 Cw hauptsächlich (.)zusamme gearbeitet-es gab noch andre 44 Leute (.) die ham andere Sache gemacht aber- (.) jetz 45 wir- wir warn für den Einkauf (.) vorrangig zuständig 46 und da warn das eigentlich wir vier oder? 47 Me: ⌊ Mhm. 48 Aw: Und dann Buchführung und das ham ja zum Teil auch d’ 49 Lehrer gemacht also der Herr Schmidt, der Schulleiter 50 (.)und Frau Müller? doch hat die au mitgmacht? Ich 51 ?w ⌊ mhm 52 weiß gar nich mehr- 53 ?w: ⌊ °(da war ja auch noch BS- )° 54 Aw: ⌊Also eigentlich isch alles über uns 55 (.) °oder über paar Lehrer° 56 ?w: ⌊°Herr Baier° 57 Y: Mmh mmh. 58 Aw: die halt von de Schülerfirma also- der Herr Baier (.) 59 °hat uns auch manchmal halt g’holfe° 60 Cw: Mir hand dann halt ja geguckt, was passt,also Sortiments- 61 auswahl gmacht; bei gepa bschtellt und Dritte-Welt 62 Partner, das sind unsere (.) eh Partner, mit dene mir- 63 Artikel obe ham so n Dritte-Welt-Partner (2) un da sind 64 wir ja hingfahre, hand halt guckt was brauch mer, haupt- 65 sächlich Kunschthandwerk, (.) dann was passt grad zur 66 Saison;Oschtern, Weihnachte; was nehm mer mit und ham des 67 halt dann (.) ja einkauft und dann in Lade gebracht. 68 Aw: ja (2) 69 Bw: °ja und dann (bezahlt auch halt)° 70 Aw ⌊°ja halt online genau° 71 ?w: ⌊ °ja ( )° 72 Aw: Ja und wenn halt irgendwas war mit Kunde oder mit so- es 73 gibt ja au so ehm Kommissionsverkauf an Gruppe die ( ) 74 das hand eigentlich au mir- 75 Cw: ⌊ Die Ware zusammegstellt und- 76 Aw: ⌊ die Ware (1) raus- ja. 77 Cw ⌊ ja. 78 Y: Mmh mmh. 79 Aw: Also wir waret halt nicht im Verkauf. Das ham mer ( )