Dokumentarische Methode

Formulierende Interpretation:
Die formulierende Interpretation paraphrasiert die Themen, die in der Kommunikation der Beforschten artikuliert werden, in der Sprache der Wissenschaft. In dem hier angeführten Beispiel äußert eine Schülerin in der Gruppendiskussion beispielsweise den Satz: „Und dann Buchführung und das ham ja zum Teil auch d’ Lehrer gemacht also der Herr Schmidt, der Schulleiter und Frau Müller? doch hat die au mitgmacht?“. Diese Aussage der Probandin wird durch die Wissenschaftlerin im Rahmen der formulierenden Interpretation paraphrasiert als „Die Buchführung haben zum Teil Lehrer gemacht.“ (s.u.) Diese Paraphrase drückt zwar inhaltlich das aus, was in der Gruppendiskussion immanent geäußert wird, verwendet aber eine abstraktere, wissenschaftliche Sprache, um den Sachverhalt auszudrücken. Die formulierende Interpretation bleibt inhaltlich so nah wie möglich bei dem, was die Beforschten ausdrücken. So werden prägnante Ausdrücke oder Wortschöpfungen der Probanden ggf. auch wörtlich zitiert, wenn eine Paraphrasierung den Inhalt nicht angemessen wiedergeben würde ( in dem Beispiel etwa der Begriff „Vierergruppe“ oder der Ausdruck „Also eigentlich isch alles über uns“, s.u.). Ziel der formulierenden Interpretation ist es, den immanenten Gehalt der Kommunikation einer Gruppendiskussion, einer beobachteten Unterrichtsinteraktion oder eines Interviews herauszuarbeiten. Formulierend und paraphrasierend werden der Inhalt der Erzählungen, Argumentationen und Beschreibungen sowie das theoretische Wissen der Probanden und Probandinnen wiedergegeben. Zusammenfassend wird die thematische Struktur der Gruppendiskussion vergegenwärtigt, indem für Passagen und Sequenzen Überschriften für Ober- und Unterthemen formuliert werden, die den immanenten Gehalt der transkribierten Kommunikation wiedergeben, die inhaltlichen Abschnitte darunter werden paraphrasiert (s.u.). Auf diese Weise erhält man einen guten Überblick über den Diskurs auf der Ebene dessen, was gesagt wird (Bohnsack 2003, S. 134f). Im Folgenden wird zur Verdeutlichung die formulierende Interpretation des oben dokumentierten Ausschnitts aus dem Transkript wiedergegeben:

1-120 Oberthema: Zusammenarbeit in der Schülerfirma (…)  
34-92 Unterthema: Aktivitäten der Vierergruppe 
34-37 	Was hat die Gruppe während ihrer Tätigkeit im
        Laden gemacht?
38-39	Wer gehörte zu dem Laden-Team?
40-43 	Richtig gearbeitet, zusammengearbeitet hat
        „unsere Vierergruppe“,
43-44 	es gab noch andere Leute. die andere Sachen
        gemacht haben,
45-47 	für den Einkauf vorrangig zuständig war
        die Vierergruppe.
48-52 	Die Buchführung haben zum Teil Lehrer gemacht.
53	Da waren auch noch BS- (Schüler).
54 	„Also eigentlich isch alles über uns“ gelaufen.
55-59 	Ein paar Lehrer haben manchmal geholfen.
60-68 	Die Gruppe hat die Sortimentsauswahl gemacht,
        die Ware bei den Lieferanten (Partnern)
	bestellt bzw. geholt und in den Laden gebracht,
69-71	und bezahlt.
72-78 	Die Gruppe war auch für Kunden und Kommissionen
        zuständig.
79	Die Gruppe war nicht im Verkauf.
(…)

Reflektierende Interpretation:
Während die formulierende Interpretation paraphrasierend wiederholt, was von den Beforschten gesagt wird, geht es in der reflektierenden Interpretation jetzt darum, wie über ein Thema kommuniziert wird. Gegenstand der reflektierenden Interpretation ist der Dokumentsinn (Mannheim), die impliziten Orientierungen der Probanden und Probandinnen bzw. die impliziten Strukturen der beobachteten Kommunikation. Dahinter steht die Annahme, dass sich in der Art und Weise, wie die Themen diskutiert werden, die habitualisierten, impliziten Orientierungen dokumentieren, die in konjunktiven Erfahrungen der Erforschten begründet sind (vgl. insgesamt Bohnsack 2003, S. 135ff). Hierzu wird das empirische Material einer detaillierten Diskursanalyse unterzogen. Im Fall von Gruppendiskussionen und Gesprächssituationen gibt die interaktive Dichte des Diskurses Aufschluss über die Relevanz des Themas für die Erforschten, dies gilt generell auch für metaphorische und narrative Passagen.

Bei Gruppendiskussionen ist das Ziel der Diskursanalyse die Entscheidung, ob ein Thema innerhalb einer geteilten Orientierung der Gruppe diskutiert wird. Hierzu werden Diskurseinheiten (Sequenzen bzw. Passagen des aufgezeichneten und transkribierten Gesprächs) analysiert, die drei Diskursbewegungen umfassen: Eine Diskurseinheit beginnt zunächst mit einer Proposition. Bei einer Proposition handelt es sich um eine argumentative, beschreibende oder narrative Äußerung, mit der ein neues Thema oder ein thematischer Aspekt in die Diskussion eingeführt wird und die den Orientierungsrahmen einer Gruppe zum Ausdruck bringt. Im zweiten Schritt folgt eine Bearbeitung der Proposition, die sehr unterschiedlich ausfallen kann (s.u.), beendet wird eine Diskurseinheit durch die Diskursbewegung der Synthese oder Konklusion. (Bohnsack 2003, S. 124ff; vgl. insgesamt Loos/Schäffer 2001, S. 66ff; Przyborski 2004). Je mehr Gruppenmitglieder sich an der Elaboration eines Themas beteiligen, desto relevanter wird das Thema für die Gruppe eingeschätzt. Äußerungen von Gruppenmitgliedern werden in der dokumentarischen Interpretation nicht als Einzeläußerungen aufgefasst, sondern immer als Teil des Diskurses der Gruppe, die die Themen gemeinsam und arbeitsteilig bearbeitet. Insofern ist es nicht von Belang, ob bzw. wie oft sich einzelne Gruppenmitglieder am Diskurs beteiligen. Die Gruppe wird immer als Ganzes betrachtet, die Diskursorganisation als ein kollektiver Prozess der Gruppe interpretiert (Loos/Schäffer 2001, S. 64f; Bohnsack 2003, S. 138f). Gegenstand der reflektierenden Interpretation ist die Suche nach einer homologen Orientierung, nach einer Rahmenorientierung, die sich in der Bearbeitung unterschiedlicher Themen durch die Gruppe gleichermaßen dokumentiert (ebd.).

Die Bearbeitung eines Themas zwischen Proposition und Konklusion erfolgt unterschiedlich (vgl. ausführlich Przyborski 2004). Häufig folgen Beispiele und Erzählungen oder auch abstrakte Beschreibungen, die die propositionale Äußerung unterstützen oder ergänzen (Elaborationen); als Anschlussproposition wird eine Äußerung bezeichnet, die kein völlig neues Thema initiiert, aber dem in der Proposition bereits angesprochenen Thema einen neuen Aspekt mit propositionalem Gehalt hinzufügt. Unterschieden werden inkludierende und exkludierende Modi der Diskursorganisation (ebd.). Zu den inkludierenden Modi der Diskursorganisation zählen jene, die offensichtlich von einer geteilten Rahmenorientierung der Gruppe getragen sind und zu einer Konklusion des Themas führen, die die gemeinsame Orientierung der Gruppe zum Ausdruck bringt und den Diskurs im Konsens abschließt. Deshalb werden sie von Przyborski (2004) als inkludierend bezeichnet: In diese Diskurse sind alle Teilnehmer/innen einer Gruppe oder einer Kommunikationssituation eingeschlossen, die Rahmenorientierungen, die sich im Diskurs dokumentieren werden von allen Beteiligten geteilt (im Fall von Diskursen, die dem exkludierenden Modus folgen, ist dies nicht der Fall, s.u.). Der einfachste Fall des inkludierenden Modus ist die parallele oder konsensuale Diskursorganisation: Die Gruppe ist sich offensichtlich einig. Aber auch wenn die Gruppe sich auf den ersten Blick uneinig ist, kann eine kollektiv geteilte Orientierung zugrunde liegen. In einem antithetischen Diskurs werden zwar unterschiedliche Meinungen vorgetragen und es kommt u. U. auch zu Streit, aber es verbirgt sich hinter dem Disput dennoch eine gemeinsame Rahmenorientierung der Gruppe. Diese kann in der Analyse der Diskursorganisation herausgearbeitet werden. Häufig wird auch ein ambivalentes Thema bzw. eine ambivalente Orientierung oder ein Problem, für das die Gruppe keine Lösung findet, in einem antithetischen Diskurs bearbeitet. Verschiedene Argumente werden dann arbeitsteilig von unterschiedlichen Gruppenmitgliedern vorgetragen. Antithetische Diskurse können auch dann auftreten, wenn in der Diskussion gruppendynamische Prozesse bearbeitet werden, die mit der Sache nicht in Verbindung stehen. Da aber bezüglich der Sache, um die es geht, eine gemeinsame Rahmenorientierung vorhanden ist, ist dennoch von einem inkludierenden Modus der Diskursorganisation die Rede.

Zu den exkludierenden Modi der Diskursorganisation zählen die divergente und die oppositionelle Diskursorganisation (ebd.). Dort werden Themen nicht durch inhaltliche Konklusionen abgeschlossen, die Gruppe teilt in diesem Fall keine gemeinsame Rahmenorientierung. In oppositionellen Diskursen vertreten die Gruppenmitglieder offen unterschiedliche Positionen, Themen werden in diesen Diskursen durch Themenwechsel oder durch den Abbruch der Diskussion beendet. In divergenten Diskursen kommt es nur scheinbar zur Einigung der Gruppe, die in der Diskursanalyse aber als rituelle Konklusionen oder Falschrahmungen entlarvt werden können. Die Gruppen stellen also oberflächlich eine Einigkeit her und lassen es nicht zu einem offenen Streit kommen, dahinter verbirgt sich aber eine Rahmeninkongruenz bezüglich der impliziten Orientierungen (ebd.). Diese Form der Diskursorganisation findet sich häufig bei solchen Gruppen, die ihre Kommunikation wegen fehlender Übereinstimmung bei den grundlegenden Orientierungen nicht beenden können sondern in ihrem jeweiligen sozialen Zusammenhang aufeinander verwiesen sind und dauerhaft miteinander auskommen müssen. Dies ist beispielsweise in Familien, aber auch bei Schülern und Schülerinnen einer Lerngruppe, die ihre Mitschüler/innen ja nicht selbst aussuchen können, oder in Lehrerkollegien der Fall.

In dem Beispiel, das hier zur Illustration herangezogen wird, handelt es sich um eine inkludierende Diskursorganisation. Die Gruppe teilt eine gemeinsame Rahmenorientierung, die in der konjunktiven Erfahrung der gemeinsamen Handlungspraxis in der Schülerfirma begründet ist. Der Diskurs ist in weiten Teilen univok, d.h. die Mitglieder der Gruppe entfalten das Thema interaktiv durch gemeinsames Sprechen (vgl. Przyborski 2004, S. 196ff), und enthält nur punktuell einen antithetischen Einschub. Im Folgenden kann die reflektierende Interpretation des Transkriptausschnitts nachgelesen werden, der oben bereits beispielhaft formulierend interpretiert wurde:

34-39 Themeninitiierung durch Y
Die immanente Nachfrage der Forscherin impliziert eine Erzählaufforderung und initiiert eine selbstläufige Diskussion, in der die Jugendlichen in der folgenden Sequenz erfahrungsbasiert und anschaulich von ihrer Handlungspraxis in der Schülerfirma berichten.

40-47 Proposition durch Cw in Interaktion mit der Gruppe (Me):
Die vier Jugendlichen, die an der GD teilnehmen, werden als „Vierergruppe“ benannt, es dokumentiert sich ein „Wir-Gefühl“, eine hohe Identifikation mit der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe. Hierfür holt sich die Sprecherin Cw mit Hilfe einer rhetorischen Frage explizit die Bestätigung der anderen Gruppenmitglieder ein. Diese Gruppe war zuständig für eine verantwortungsvolle Aufgabe aus dem Kerngeschäft des Weltladens, den Einkauf. Daneben gab es zwar auch noch andere Leute, die andere Sachen gemacht haben, aber weder die anderen Personen noch die Sachen, die sie gemacht haben, sind wichtig. Sie werden nicht benannt und bilden als „Peripherie“ den Gegenhorizont zu den wichtigen Kernaufgaben, für die die Vierergruppe zuständig war. Dadurch wird der Vierergruppe Exklusivität zugeschrieben. Insgesamt dokumentiert sich hier Bedeutung der Zugehörigkeit zu der Gruppe für die Jugendlichen, mit der eine habitualisierte Handlungspraxis im Weltladen geteilt wird.

48-59 Anschlussproposition und Konklusion (Z. 54) durch Aw in Interaktion mit ?w, eingelagerte antithetische Differenzierung durch ?w (Z.53):
Aw bringt die Lehrer ins Spiel, die die Aufgabe der Buchführung, ebenfalls eine wichtige Kernaufgabe des Weltladenbetriebs, übernommen haben. Allerdings haben ein „paar Lehrer“ dies nur „zum Teil“ oder eben „manchmal“ gemacht, im Zentrum steht die Aussage, des unvollständigen Satzes in Z. 55: „eigentlich isch alles über uns [gelaufen]“. Z. 55 als Konklusion bestätigt den Orientierungsrahmen, dass die verantwortungsvolle Tätigkeit von Schülern im Allgemeinen und die exklusive Zuständigkeit und Verantwortung der Vierergruppe für alle wichtigen Aufgaben im Besonderen das zentrale Merkmal der Mitarbeit im Weltladen für die Gruppe darstellt. Hinzu kommt in dieser Sequenz ein weiterer Aspekt mit propositionalem Charakter: Eine Sprecherin versucht in Z. 53 neben der Vierergruppe und den Lehrern offensichtlich andere Schüler/innen als am Weltladenbetrieb beteiligte Personen ins Gespräch zu bringen. Damit kann sie sich aber nicht durchsetzen, es folgt unmittelbar in Z. 54 die Betonung der Zuständigkeit der Vierergruppe für „alles“. Andere Schüler/innen spielen neben der Vierergruppe keine Rolle im Weltladen. Lediglich die Lehrer werden als akzeptierte Mitarbeiter für bestimmte Aufgaben beschrieben. Erwachsene stehen dem konjunktiven Erfahrungsraum der Gruppe näher als andere Schüler/innen bzw. Jugendliche.

60-67 Elaboration im Modus einer Exemplifizierung durch Cw:
Cw setzt mit der narrativen, erfahrungsbasierten Beschreibung eines weiteren Beispiels das Thema fort: Sie berichtet, wie die Gruppe ihren Arbeitsbereich, den Einkauf, erledigt hat. Die Importeure, von denen der Weltladen die Ware bezieht, professionelle Großhandelsunternehmen, werden als Partner beschrieben, mit ihnen befindet sich die Gruppe auf gleicher Augenhöhe. Hier wie in Aws Erwähnung der Lehrer wird der Weltladen als ein Ort konstruiert, in dem die Gruppe mit Erwachsenen als gleichberechtigte Partner agieren; durch die Übernahme von verantwortungsvollen Aufgaben haben die Schülerinnen teil an der Welt der Erwachsenen – bzw. sie definieren für sich selbst denselben Status wie Erwachsene, die ein Geschäft betreiben.

68-77 interaktive Validierungen durch Aw, Bw, ?w und Cw, Konklusion:
Mit zwei weiteren, ebenfalls erfahrungsbasiert geschilderten Beispielen wird dieser Status der Gruppe untermauert: Sie sind auch für das Bezahlen der Ware zuständig, haben also Verfügungsgewalt über das Geld bzw. die Konten des Ladens – ein eindeutiges Bild für die eigene Machtfülle und Verantwortung. Ebenso die Feststellung, dass die Gruppe auch für den möglicherweise sensiblen Kontakt („wenn mal was war“) mit den (erwachsenen) Kunden zuständig ist. Das Thema wird mit expliziter Zustimmung innerhalb der Gruppe abgeschlossen.

Komparative Analyse und Typenbildung
Die komparative Analyse ist von zentraler Bedeutung für die dokumentarische Methode. Wesentlich ist, dass das Besondere eines Falls im Vergleich mit anderen empirischen Fällen herausgearbeitet wird und nicht auf der Grundlage der Vergleichshorizonte der Wissenschaftler/innen (Bohnsack 2003, S. 137). „Die dokumentarische Interpretation (…) wird umso mehr methodisch kontrollierbar je mehr die Vergleichshorizonte des Interpreten empirisch fundiert und somit intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar sind. Hier liegt einer der Gründe dafür, dass die komparative Analyse für rekonstruktive Verfahren von zentraler Bedeutung ist. Die Erhöhung der Validität einer Fallanalyse ist also nicht nur an die zunehmende empirische Fundierung des jeweiligen Falls selbst, sondern auch an die zunehmende empirische Fundierung der Vergleichshorizonte gebunden, indem an die Stelle gedankenexperimenteller Vergleichshorizonte empirische, also andere empirische Fallanalysen treten.“ (ebd.)

Forschungspraktisch verläuft die komparative Analyse parallel zur reflektierenden Interpretation. Welche implizite Orientierung sich innerhalb eines Falls dokumentiert, kann rekonstruiert werden, indem gefragt wird, wie dasselbe Thema in unterschiedlichen Fällen bearbeitet wird (fallvergleichend), oder indem homologe Orientierungsmuster innerhalb eines Falles gesucht werden. Loos und Schäffer charakterisieren die reflektierende Interpretation zusammenfassend: „Wir verstehen unter Reflektierender Interpretation also eine Interpretationsweise, die den immanenten Sinngehalt einer Äußerung transzendiert – und um genau diesen Schritt explizit zu machen, wird zwischen Formulierender und Reflektierender Interpretation getrennt – und jede Äußerung als Dokument für ein ihr zugrunde liegendes Muster angesehen. Die Vergleichshorizonte der Interpreten werden dabei in komparativer Analyse sukzessive durch in der Interpretation anderer Gruppen generierte ersetzt. Der Bezugspunkt der Interpretation sind dabei nicht etwa die Intentionen der Gruppe oder einzelner ihrer Mitglieder, sondern ihre kollektive Handlungspraxis und ihre milieuspezifische Eingebundenheit.“ (2001, S. 64)

Die komparative Analyse dient ferner der Entwicklung einer Typologie (vgl. Bohnsack 2003, S. 141ff; Bohnsack 2001). Die soziogenetische Typenbildung beschreibt Prozesse der Genese von Orientierungen oder Wissen bzw. Strukturen und Bedingungen, unter denen sich Orientierungen oder Wissen herausbilden. Dabei werden Zusammenhänge hergestellt zwischen einer Orientierung und den zugrunde liegenden konjunktiven Erfahrungen. Typiken – im Sinne der Weber’schen Idealtypen – beschreiben somit Dimensionen des konjunktiven Erfahrungshintergrundes, der einen Orientierungsrahmen konstituiert. Die Validität der Typologie hängt davon ab, ob möglichst viele bzw. alle Typiken in jedem Fall herausgearbeitet werden können, ob die Fälle innerhalb einer mehrdimensionalen Typologie verortet werden können (Nentwig-Gesemann 2001). Der Fokus der komparativen Analyse, die in die Entwicklung einer Typologie mündet, ist der Kontrast in der Gemeinsamkeit. Die verschiedenen Ausprägungen einer Typik in unterschiedlichen Fällen zeigen sich vor dem Hintergrund der Gemeinsamkeit der Fälle in anderen Typiken. Die Vergleichsgruppe macht das Besondere eines Falles sichtbar, Kontrast in der Gemeinsamkeit ist das Prinzip der Typenbildung (Bohnsack 2003, S. 143).

In dem Beispiel, das hier zur Illustration herangezogen wird, führte die komparative Analyse zu folgenden Ergebnissen:
(1) fallinterner Vergleich: Die konstruktive Orientierung der jungen Frauen zieht sich als homologes Muster durch die Gruppendiskussionen. Bei der Bearbeitung unterschiedlichster Themen sind die Mitarbeiterinnen der Schülerfirma optimistisch und konstruktiv, d.h. sie beschreiben sich selbst als handlungsfähig und sehen im Hinblick auf globale Problemlagen oder unsichere Zukunftsaussichten konstruktive Problemlösungen.
(2) kontrastierender Fallvergleich: Die komparative Analyse mit Gruppen von männlichen Gymnasiasten – insbesondere eine Gruppe von jungen Männern, die die gleiche Schule und die gleiche Jahrgangsstufe besuchen, in vielerlei Hinsicht also ansonsten vergleichbar sind mit der Gruppe Mango I – führte dazu, diese konstruktive Orientierung im Umgang mit Komplexität als geschlechtstypisch zu interpretieren, da sich hier – im Übrigen vergleichbare – Gruppen von weiblichen und männlichen Jugendlichen deutlich unterscheiden. Als bildungsmilieutypisch, d.h. spezifisch für das Bildungsmilieu des Gymnasiums, wird die Reflexionsfähigkeit und die Perspektivität der jungen Frauen interpretiert, da diese Besonderheit der Gruppe im Unterschied zu Jugendlichen mit nicht-akademischem Bildungshintergrund deutlich wird. Als organisationstypisch werden diejenigen Merkmale der Orientierung der Gruppe beschrieben, die auf den konjunktiven Erfahrungsraum des spezifischen Lernarrangements der Schülerfirma zurückgeführt werden können. Sie ergeben sich aus dem kontrastierenden Fallvergleich mit Schülern und Schülerinnen, die sich mit der Thematik Globalisierung/Entwicklung im (Fach-)Unterricht beschäftigt haben, und mit Jugendlichen, die sich in der außerschulischen Jugendarbeit mit globalen bzw. entwicklungspolitischen Fragen auseinandersetzen.
(3) Suche nach Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Gruppen: Die beschriebenen Typiken basieren neben dem kontrastierenden Fallvergleich auf dem Vergleich mit ähnlichen Gruppen. Die konstruktive Orientierung wird nicht nur im Kontrast zu den männlichen Jugendlichen deutlich sondern sie findet sich vergleichbar bei anderen weiblichen Gruppen.
Die Bildungsmilieutypik ergibt sich einerseits aus dem Vergleich der Gruppe Mango I mit anderen Gymnasiasten, die über eine vergleichbare Orientierung im Umgang mit Wissen und Perspektivität verfügen, und im kontrastierenden Fallvergleich mit Berufsschülern und -schülerinnen, deren Orientierungsrahmen im Umgang mit Wissen sich von dem der Gymnasiasten unterscheidet. Dass es sich hierbei um einen bildungsmilieutypisch zu erklärenden Unterschied handelt, wird deutlich, wenn mehrere Gruppen von Schülern männlichen Geschlechts, die sich mit der Thematik Entwicklung/Globalisierung auf gleiche Art und Weise im Unterricht befasst haben, Gruppen also, die sich hinsichtlich Geschlecht und Organisationsform (Unterricht) nicht unterscheiden, miteinander verglichen werden und sich der Vergleichshorizont des unterschiedlichen Bildungsmilieus (Gymnasium bzw. Berufsschule) als entscheidend für unterschiedliche Umgangsweisen mit der Perspektivität und Begrenztheit von Wissen herausstellt.

Im Ergebnis zeigt sich, dass bei der Typenbildung – im Gegensatz zu den beiden vorherigen Schritten der Interpretation –vom Einzelfall abstrahiert und nach allgemeinen Beschreibungen über den Gegenstand gesucht wird. Bohnsack sieht hier die Chance, auch im Rahmen qualitativ-empirischer Forschung zu verallgemeinerbaren Befunden zu kommen. Das Kriterium für die Generalisierbarkeit von Ergebnissen auf der Ebene gegenstandsbezogener Theorie ist dabei die komparative Analyse unter Berücksichtigung empirischer Vergleichshorizonte (Bohnsack 2005).