3.2.5 Theoretical Sampling
Während Sampling (Fallauswahl) im quantitativ ausgerichteten Methodenbereich bedeutet, Stichproben nach vorheriger theoretischer Überlegung zu Untersuchungsbereich (Grundgesamtheit) und Fragestellung, im Idealfall nach einem wahrscheinlichkeitstheoretischen Modell als sog. ‚kontrollierte Zufallsauswahl’ unter dem Gesichtspunkt ihrer Repräsentativität zu ziehen, so wird in der GTM ein anderer Weg eingeschlagen. Hier bezeichnet Sampling eine Art Konzentrationsprinzip: die bewusste Auswahl charakteristischer Fälle oder Elemente, die während der Analyseaktivität in dem aktuellen Projekt eine besondere theoretische Bedeutung erhalten haben. Forscher/-innen gewinnen, während sie sich durch die verschiedenen Formen des Kodierens mit dem Material vertraut machen, zunehmend mehr Anhaltspunkte für noch offen bleibende Fragen und neue analytische Gesichtspunkte, für die weitere Forschungsschritte in einem zweiten (wenn notwendig: dritten, vierten ….) Erhebungsverfahren erforderlich werden (z.B. Kontrastierung der interessierenden Phänomene mit neuen Perspektiven). Dann lässt sich – nach sorgfältiger Abwägung der theoretischen Absichten – festlegen, über welche Gruppen oder Untergruppen von Populationen, welche Ereignisse oder Handlungen (etc.) weitere Information beschafft werden muss. Die Datenbasis wird also nicht nur einmal zu Beginn des Projekts, sondern während des gesamten Forschungsprozesses nach und nach aufgebaut (vgl. Strauss/Corbin 1996, S. 148 ff).
In der Beispielstudie wurde die Auswahl einer (einzigen) Schulklasse entnommen. Die Verfasserin begründet dies (nicht unbedingt überzeugend) damit, möglichst viele objektive Bedingungen (Alter, Schulart, Klassenstufe, Lerninhalte, Lehrer/-innen, keine Klassen-Wiederholer, nur Familien ohne Migrationshintergrund) gleich halten zu können. Ihre Auswahl der dann analysierten Daten bevorzugte jedoch (unter dem Gesichtspunkt der Kontrastierung) solche Fälle, die Differenzen in Bereichen wie der Bildungsvorgeschichte (Wechsel von einer höheren oder niedrigeren Schulart in die Realschule), den familiären Bedingungen (Erziehungsberechtigte sind beide Elternteile oder nur Vater bzw. Mutter), dem beruflichen Status ihrer Erziehungsberechtigten (von der Hausfrau bis zum Selbstständigen) oder der Anzahl der schulpflichtigen Geschwister aufwiesen.
Die Erhebung beschränkte sich damit nicht nur auf Daten, die für eine bestimmte Forschungssituation von vornherein als bedeutsam erschienen, sondern es wurden auch Fälle, nach Maßgabe weiterer Kriterien – im Wechselspiel zwischen Datenerhebung und Analyse – in einem parallel zur Auswertung stehenden Prozess einbezogen. Vorausgehende Probeinterviews mit Eltern, deren Kinder dem Alter und der Klassenstufe der später in die Untersuchung einbezogenen Schüler/-innen entsprachen, sollten die Erprobung der Interviewmethode gewährleisten. Auch mit, der Verfasserin zumeist bekannten, Schüler/-innen entsprechenden Alters wurden Probeinterviews durchgeführt. Die auf diese Weise gesammelten Daten hätten – was die Verfasserin jedoch nicht realisiert hat – durchaus auch in die Datenbasis und Analyse einbezogen werden können.
Die (vom jeweiligen Stand des Wissens und der Theoriebildung abhängige) Erschließung weiterer Datenquellen erfolgt um Information über die interessierenden Phänomene aus unterschiedlichen Perspektiven zu gewinnen. In diesem zirkulären Prozess (von der Datenerhebung über Kodieren und Analyse zu erneuter Datenerhebung, Kodieren und Analyse usw.), wird allmählich eine Sättigung des Interesses und der entwickelten Theorie-Bausteine (Konzepte, Kategorien etc.) erreicht, wenn bzw. weil alle bedeutsamen Aspekte einer Fragestellung nach und nach erfasst werden.
3.2.6 Theoretisches Vorwissen, Sensibilität und Theoriebildung
Eine wichtige Prämisse der GTM ist, dass ganz grundsätzlich in die deutende Verarbeitung des Datenmaterials eine gehörige Portion von Vorwissen (in der Form von Alltagswissen, Kontextwissen, Erfahrung, Theorie des jeweiligen Fachs und des besonderen Gegenstands sowie wissenschaftliche Forschungsstände) eingeht, – daher sollten diese Theoriebausteine so weit wie möglich offen gelegt und damit in kontrollierter Form zur Anwendung gebracht werden. Das Vorgehen der ausgewählten Studie verdeutlicht, dass die Durchführung eines Forschungsprozesses ohne jegliche Vorkenntnisse – ohne „Wissen“ über den Untersuchungsgegenstand – zur Entwicklung von Konzepten und Ansatzpunkten weiterer Datensammlung nur schwer vorstellbar ist. Die Verfasserin war mit den Abläufen des Schulalltags vertraut, für sie war selbstverständlich, dass Personen (und deren ‚Rollen‘) wie Eltern, Schüler/-innen und Lehrpersonal an den Kommunikationsprozessen zwischen Familie und Schule beteiligt sind. Ihr waren, wegen ihrer vorausgehenden Tätigkeit als Lehrerin, typische und übliche Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule bekannt und darüber hinaus hatten auch Gespräche mit Eltern, Kollegen und Schüler/-innen vor Beginn des eigentlichen Forschungsprozesses stattgefunden. Hier werden vorausgehende Wissensbestände als Prä-Konzepte für weitere Forschung durchaus nützlich, auch wenn die Bedeutung dieses Wissens für die Entwicklung der späteren Theorie nicht unbedingt abzuschätzen war. Weiter wurden Themenwahl und Themenformulierung ganz wesentlich durch die entwicklungspsychologische Hintergrund-Annahme geprägt, dass im Laufe der Schulzeit der Umgang mit den schulischen Anforderungen ‚Leistung‘ und ‚Lernen‘ zunehmend stärker von der jeweils ausgeprägten Beziehungsform zwischen Eltern und Kindern abhängt.
Deutung (das begreifende Verständlichmachen der Beziehungen zwischen empirischen Fakten und das indikatorbezogene Entwickeln von Konzepten und deren Zusammenfassung in Kategorien) und Theoriebildung (den expliziten Aufweis der zwischen den Kategorien bestehenden inhaltlichen Verknüpfungen) hängen sehr stark von der theoretischen Sensibilität der Forscher/-innen ab, von ihrer Fähigkeit zu erkennen, was in den Daten wichtig ist bzw. noch wichtig werden könnte.
Anstöße zur Erweiterung der theoretischen Sensibilität finden sich in wissenschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Literatur, in der gesammelten beruflichen und persönlichen Erfahrung, und natürlich vor allem auch im aktuellen Forschungsprozess (vgl. Strauss/Corbin 1996: S. 25ff.). Mehrere Eigenschaften begünstigen das Theoretisieren (Strauss 1994: 348ff): ein möglichst umfangreiches Kontextwissen; die verstehende Sensibilität für den Sinn, den die untersuchten Akteure mit ihrem Verhalten verknüpfen; die Fähigkeit die als Daten geltenden Beobachtungen aus verschiedenen theoretischen Perspektiven zu betrachten; die Beherrschung der GTM und Geduld bei ihrer Anwendung sowie eine gut entwickelte analytische Kompetenz.
Das Verfahren der GTM wird i.d.R. nicht eingesetzt, um nur einen einzigen Fall zu untersuchen. Mit seiner Hilfe soll über den Einzelfall hinausweisende Erkenntnis erzeugt werden, wie z.B. theoretisch formulierte Beziehungen zwischen Phänomenen/Aspekten des Falls, ein plausibles Beziehungsgeflecht der am Fall gewonnenen Zusammenhänge und Faktoren und schließlich vielleicht sogar ein fallorientierter und zugleich fallübergreifender „theoretischer Rahmen“ (Strauss/Corbin 1996: 32) erarbeitet werden. So führt die Prozesslogik der GTM die Analyse schnell an die Grenze des Offensichtlichen bzw. Sichtbaren. In den Aussagen, Kommunikationen, beobachtbaren Verhaltensweisen und Interaktionen sowie den dazu abrufbaren Bewusstseinsinhalten(20), kommen die für jede Fachwissenschaft bedeutsamen Bedingungsfaktoren des wahrnehmbaren verbalen oder praktischen Verhaltens (sog. ‚Kontextvariable‘ wie die Situationsdefinitionen der Akteure, situationsübergreifende institutionelle Regelungen und Strukturen, Organisationsformen sozialer Interaktion, historische Dimension von Habitualisierungen/Riten, Normen, Werte usw.) nur sehr indirekt (durch verschiedene Einflussfaktoren vermittelt) vor. Daher erscheint es zwingend, soll die Theoriebildung nicht an der Oberfläche des Offenkundigen stagnieren, mittels fachspezifischer (soziologischer, erziehungswissenschaftlicher, psychologischer usw.) theoretischer Konzepte Tiefendimensionen des Untersuchungsbereichs zu eröffnen und die Entdeckungen des aktuellen Untersuchungsverfahrens in sie zu integrieren.
So hat die Verfasserin der Referenzstudie, ausgehend von einem allgemeinen systemtheoretischen Ansatz (Systeme ‚Familie‘ und ‚Schule‘), die familieninterne „Verarbeitung“ des Schulalltags daraufhin untersucht, wie das Thema ‚Schule‘ in Gesprächen der Familie behandelt wird.
Ergebnisse der Analyse belegen, wie oben schon erwähnt, dass den Familien Schule als eine fremde „andere Welt“ erscheint, während sie für die Schüler/-innen eine (zumeist willkommene) Bereicherung ihrer Lebenswirklichkeit darstellt.
3.2.7 Das Gewinnen neuer Einsichten: Induktion/Abduktion
Die mit Hilfe der GTM aktivierte, kreative geistige Fähigkeit, aus einer Sammlung vorliegender Information bisher noch nicht ‚gesehene‘ Zusammenhänge – bisweilen blitzartig – erschließen zu können, hat manche Autoren darin bestärkt, mit Bezug auf Gedanken von Charles S. Peirce (Peirce 1967) in dem ‚Verfahren‘ der Abduktion(21) eine dritte Möglichkeit des logischen Schließens neben Induktion und Deduktion zu behaupten. Dass die Abduktion ein logisch kontrollierbares kreatives Schlussverfahren(22) sei, eine Art geistige ‚Erfindungsmaschine‘ wird demgegenüber gegenwärtig als ein Irrtum angesehen (Reichertz: 2003, 2007; Kelle 1994). Von ihrer magischen Aura befreit, bezeichnet ‚Abduktion‘ eine intuitiv-produktive Denkleistung die ein Erklärungs-Modell (eine geistige ‚Gestalt‘ ) bisher chaotisch erscheinender Falleigenschaften neu strukturiert (vgl. das Prinzip der Gestaltbildung in der Gestaltpsychologie, z.B. Metzger 1999). So kann aus der z.T. bewussten und z.T. intuitiven Abwägung einer Vielzahl von möglichen hypothetischen Beziehungen ein plötzliches ‚Erkennen‘ von Zusammenhängen, ein Gedankengang entstehen, der überzeugender als die bisherigen erscheint, dessen Einfall jedoch ohne vorherige intensive Auseinandersetzung mit dem Material (und bisweilen starke vorausgehende Ohnmachtsgefühle) nicht zustande kommen kann.
Im Beispiel gewinnt die Verfasserin ein ungewöhnliches Bild der Beziehung zwischen Schule und Elternhaus, indem sie den allen Beteiligten (Eltern, SchülerInnen, Lehrern) wohlbekannten und vertrauten Gegenstand als „fremde andere Welt“ konzipiert und die in den Daten auffindbare (teilweise dem Alltagsverstand widersprechende) Information begrifflich und bildhaft neu fasst.
Trotz aller subjektiv empfundenen Evidenz sollte auch dieses ‚lebhafte‘ Erkennen nur als Realisation eines möglichen Modells der Anordnung von Information (neben anderen, vielleicht noch verborgenen) angesehen werden. Ein abduktiver Schluss integriert bis dato unverbindliche Assoziationen in eine ‚Einsicht‘, eine schlüssig scheinende, ‚erklärende‘ Gestalt, die jedoch ihre Geltung und Haltbarkeit erst in der Überprüfung an den Daten (dem vorliegenden und weiterem Material) bewähren muss.
3.2.8 Einsatz von Computerprogrammen
Wenn im Forschungsprozess viel Material angesammelt wird (Interviewtranskripte, Beobachtungsprotokolle, Codenotizen, Memos …), wird der Einsatz von Computerprogrammen (z.B. atlas.ti(23) oder MaxQDA(24)) hilfreich sein, um den Überblick zu behalten und Zugriffe auf die Daten und die entwickelten Kodes möglichst treffsicher und schnell zu erreichen. Geeignete Programme ermöglichen durch die in der Software angelegten Kodier-, Memorier- und Zitiermöglichkeiten der in schriftlicher Form(25) vorliegenden Daten eine Vernetzung der verschiedenen Informationen und unterstützen damit die Entwicklung theoretischer Modelle, übernehmen jedoch nicht die geistige Arbeit der Analyse der Daten (Kelle 2005; Lewins/Silver 2007; Kuckartz 2007; Muhr 1994). Es empfiehlt sich für kleinere Forschungsarbeiten den Einsatz von derartigen Programmen sorgfältig abzuwägen, da sich der nicht geringe Aufwand, ihre Technik zu erlernen nicht grundsätzlich lohnt.