2. Manifeste und latente Sinnstrukturen
Mit diesem Gründungsinitial der Objektiven Hermeneutik ist nicht nur der Beginn der Entwicklung einer Methode der Sinnrekonstruktion als Textrekonstruktion gesetzt. Auch die für das objektiv-hermeneutische Forschungsverständnis konstitutive Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen ist darin schon enthalten. Der Blick „hinter die Bühne“ der familialen Interaktion ist ja nur dann möglich, wenn das Interaktionsprotokoll beides enthält: eine manifeste Sinnschicht, die der Fassade entspricht (die Art und Weise, wie die Familie nach außen hin gesehen werden will) und eine latente Sinnschicht, die nicht offen zum Vorschein kommt; die verborgen und überdeckt werden soll und sich gerade dadurch unscheinbaren Ausdruck verschafft.
Die Unterscheidung manifester und latenter Sinnstrukturen, die begrifflich an die Freudsche Unterscheidung zwischen manifestem Trauminhalt und latentem Traumgedanken anknüpft, ist für Methode, Forschungsverständnis und Forschungsinteresse der Objektiven Hermeneutik von grundlegender Bedeutung. Diese Unterscheidung basiert auf der Annahme, dass in die Verfasstheit der sinnkonstituierten Welt sowohl Sinnbezüge eingehen, die den Handelnden als Intentionen, Handlungsmotive oder explizite Sinnentwürfe zur Verfügung stehen, als auch Sinndimensionen, die den Handelnden verborgen bleiben und die gleichsam hinter dem Rücken ihres intentionalen Selbstverständnisses ein Eigenleben führen. Nach dieser Annahme würde eine forschungslogische und methodische Beschränkung auf manifeste Sinnzusammenhänge also eine inadäquate Reduktion des Forschungsobjekts darstellen. Erst die Rekonstruktion der sinnstrukturellen Verfasstheit einer je konkreten Wirklichkeit als Zusammenspiel manifester und latenter Sinnbezüge wird der Konstitution des Gegenstands der Forschung gerecht.
Eine zweite Annahme kommt hinzu: das Zusammenspiel manifester und latenter Sinnstrukturen erzeugt nicht einfach eine Wirklichkeit, die sich aus verschiedenfarbigen Sinnbausteinen zusammensetzt und deren Eigentümlichkeit dann in der Beschreibung der jeweiligen Komposition eines Sinnmosaiks erfasst werden könnte. Manifeste und latente Sinnbezüge addieren sich nicht einfach zu einem Sinnganzen auf; sie sind vielmehr konfliktuös und widersprüchlich aufeinander bezogen. Sie stehen nicht in der Komplementarität eines harmonischen „Hand in Hand“, sondern in einem spannungsreichen Verhältnis. Die Beantwortung der Frage, „Was ist der Fall?“, geht im Forschungsverständnis der Objektiven Hermeneutik immer einher mit der Beantwortung der Frage: „In welcher je besonderen, fallspezifischen Weise will der Fall sein, was er in welcher besonderen, fallspezifischen Weise nicht ist.“
Diese methodologische Grundbestimmung ist für die empirische Erforschung pädagogischen Handelns von besonderer Bedeutung. In besonderer Weise treffen wir hier, das gilt für erzieherische und sozialisatorische ebenso wie für unterrichtliche und bildungsbezogene Handlungsorientierungen, auf ein Spannungsfeld von Anspruch und Wirklichkeit. Die manifesten Motive pädagogischen Handelns bilden sich auf der Grundlage normativer Ideale, ethischer Prinzipien und Wertvorstellungen. Das Wollen und Sollen pädagogischen Handelns ist in besonderer Weise normativ geladen. Das gilt für elterliche Erziehung ebenso wie für unterrichtliches Handeln oder sozialpädagogische Interventionen. Immer sind notwendig implizite oder explizite Ansprüche mit im Spiel, an denen pädagogisches Handeln sich orientiert, durch die es sich legitimiert und denen es gerecht werden will. (2)
Die Beobachtung pädagogischen Handelns zeigt aber nicht nur, dass und in welcher Weise dieses Handeln normativen Motiven folgt; sie zeigt auch, dass diese Motive systematisch in Verwerfung geraten zu jenen latenten Sinnstrukturen pädagogischen Handelns, die gegensinnig konstelliert sind. Pädagogisches Handeln bleibt nicht nur hinter seinen je situativ selbst entworfenen Ansprüchen zurück; es verstrickt sich in Ambivalenzen, in denen normative Ansprüche unterlaufen und konterkariert werden.
Das will ich an einem einfachen Beispiel vor Augen führen: Wenn ein Lehrer zu Beginn einer Stunde eine mündliche Leistungskontrolle mit den Worten eröffnet: Wer will? Wer hat gelernt? Kann sich ’ne super Note holen, dann wird die Praxis der schulischen Leistungsfeststellung offensichtlich mit Attributen versehen, die ihr nicht zukommen. Es wird Freiwilligkeit und Erfolg (hier sogar außerordentlicher Erfolg) unterstellt. Gerade diese beiden Unterstellungen aber laufen der schulisch institutionalisierten Leistungsorientierung entgegen. Diese beruht ja auf Zwang (die Teilnahme steht nicht im Belieben des Schülers) und auf Selektion im Sinne von Differenzierung. Die Noten wollen ja zwischen „sehr guten“, „guten“, „befriedigenden“, „ausreichenden“, „mangelhaften“ und „ungenügenden“ Leistungen unterscheiden. Entsprechend würde einer Leistungsbeurteilungspraxis, die nicht differenziert (alle erhalten ein „sehr gut“), als irregulär angesehen werden. Wenn diese Praxis dennoch als freiwillige und Erfolg versprechende bezeichnet wird, dann kommt darin offensichtlich eine normative Orientierung zum Ausdruck, die sich gegen die Heteronomie und Selektivität des schulischen Leistungsmodells wendet. Die darin gesetzten normativen Ansprüche pädagogischen Handelns können sich aber weder durchsetzen, noch teilweise realisiert werden. Tatsächlich werden in der hier geschilderten Situation die Prüflinge willkürlich benannt (eine Schülerin hatte sich gemeldet, eine andere nicht), und am Ende erhalten die beiden Schülerinnen eben keine „super Noten“, sondern eine „drei plus“ und eine „drei minus“. Die pädagogisch-normativen Ansprüche werden also zur bloßen Prätention, hinter deren Rücken sich eine eher verschärfte, denn gemilderte Prüfungspraxis versteckt.
Im Anschluss an die bisherigen Ausführungen lässt sich also die Frage nach der methodischen Leistungsfähigkeit der Objektiven Hermeneutik stichwortartig folgendermaßen beantworten: Die Objektive Hermeneutik stellt ein Verfahren der Textinterpretation dar, das die Rekonstruktion der sinnstrukturellen Verfasstheit der sozialen Praxis zum Ziel hat. Ihre spezifische Leistung besteht darin, Ausdrucksformen der Praxis als individuierte Gebilde im Spannungsfeld von Allgemeinem und Besonderem zu rekonstruieren. Die Individuiertheit einer sozialen Praxis drückt sich in der fallspezifischen Konstellation manifester und latenter Sinnstrukturen aus; in der Spannung, die zwischen dem, was der Fall sein will und dem was er ist, entsteht. Dieser Aspekt ist vor allem für den Kontext pädagogischen Handelns von zentraler Bedeutung.