Hinweis – der Fall kann gemeinsam gelesen werden mit:
Interpretation des Zufallsdilemmas im zweiten Unterrichtsprotokoll Hauptschule 7. Klasse evangelisch
Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Dilemmageschichte zum Zufall beim Lotteriespiel. Interpretationsleistungen von Schülern
Schülern einer 9. Hauptschulklasse in Münster wurde im Juni 1988 von ihrer Lehrerin die folgende Geschichte vorgelesen mit der Bitte, darüber zu diskutieren. Die Stunde wurde auf Tonband aufgezeichnet. [1]
Interpretation der Dilemmageschichte
1L – H., Klasse 9c. Die Geschichte, um die es geht: So zum Spaß füllte eine arme Frau für wenig Geld eine Rubrik eines Lotteriezettels aus. Sie glaubte natürlich überhaupt nicht daran, daß sie etwas gewinnen würde. Die Chancen stehen ja 1:1.000.000. Nun aber hat sie gewonnen, und sie ist die einzige Hauptgewinnerin der ganzen Lotterie. Sie erhält eine übergroße Summe Geld. Für sie ist es klar, das ist nicht einfach Chance oder Glück. Hier ist Gottes Hand im Spiel. Ihre Kinder meinen, das sei bloß Zufall. Sie sprechen mit der Mutter darüber, aber diese bleibt bei ihrer Meinung und läßt sich nicht davon abbringen.
So die Geschichte. Das Dilemma scheint klar. Auf der objektiven Seite der nach stochastischen Gesetzmäßigkeiten sich darstellende Zufall, dem sich der Spieler ausliefert. Auf der subjektiven Seite der Betroffenen die Transformation des Zufalls in ein Sinnmuster, das die Herausgehobenheit der Gewinnerin begründen soll bzw. das Urteil der Kinder, die auf Zufall insistieren.
Das Dilemma ist so angelegt, dass nur eine der beiden Parteien in ihrer Entscheidung für Zufall oder Notwendigkeit (Frau oder Kinder) recht behalten können und durch ihre Begründungen die Entscheidung für die andere Position auszuschließen in der Lage sind. Weder die Mutter noch ihre Kinder nehmen als handelnde Personen zugleich beide Positionen ein. Aus der Sicht eines beobachtenden Dritten wäre die Betrachtung und Begründung beider Positionen möglich. Es ist deshalb zunächst wichtig, dass sich die Schüler mit einer der beiden Positionen identifizieren.
In einer Hinsicht ist die Geschichte inkonsistent. Kein Mensch würde Lotto spielen, wenn er überhaupt nicht daran glauben würde, etwas zu gewinnen. Diese Aussage wird in der Geschichte allerdings im nächsten Satz wieder relativiert. Es geht darum, dass die Frau nicht glaubt, die Hauptgewinnerin zu werden. Die Geschichte will an dieser Stelle also mehr Gewicht und Bedeutung auf die stochastische Seite des Lottospielens legen und weniger auf das, was die Frau sonst noch für Hoffnungen mit ihrem Einsatz verbindet.
Die Konstruktion der Geschichte berücksichtigt also kaum, dass schon der reinen Stochastik ein Sinn zugrunde gelegt wird, nämlich die Möglichkeit zu gewinnen. Wäre dem nicht so, so würde niemand Lotto spielen. „So zum Spaß“ setzt niemand sein Geld aufs Spiel. Der Sinn des Lottospiels liegt im Spiel mit dem Zufall des Gewinnens. Für die Masse der Lottospieler sind die Gewinnchancen gering. Im Falle eines Gewinns sind daher die Chancen sehr viel zu gewinnen, umso höher. Das individuelle Motiv für das Spiel ist nicht im Zufall zu suchen, sondern der Spekulation auf einen außerhalb der Zugriffsmöglichkeiten der Spieler liegenden „Sinns“, der es so will, dass gerade ich gewinnen werde. Die Regeln des Spiels stellen zwar sicher, dass sie zumindest einem Spieler unter einer Million Spielern ermöglichen, den Hauptgewinn zu kassieren. Doch woher nimmt der einzelne Spieler die Zuversicht, dass es gerade ihn treffen wird?
Aus der Perspektive eines Spielers kann es schon im Zufall selbst vorbestimmt sein, wer gewinnen wird. Man würde sich also um eine große Chance bringen, wenn man das Spiel nicht mitspielt. Denn dann hätte man sich der „Vorbestimmtheit“, die das Spiel bestimmen wird, entzogen. Mit Vorbestimmheit ist in diesem Zusammenhang Folgendes gemeint: Der Spieler weiß zwar, dass die tatsächlich gezogenen Lottozahlen dem Zufall überlassen bleiben. Aber der Spieler weiß auch, dass es gerade bei diesem Spiel zufällig der Fall sein könnte, dass seine angekreuzten Zahlen und die in der Lotterie gezogenen Zahlen identisch sein könnten. Die Vorstellung von der möglichen Identität der Zahlen macht diese Art der Vorbestimmung aus. Die Vorstellung von der Vorbestimmung wird erst in dem Augenblick des tatsächlichen Eintreffens des Zufalls real. Allerdings ist es in dem Augenblick zu spät, sich entsprechend dieser vorgestellten Realität zu verhalten, wenn diese tatsächlich eingetreten ist. Das Handeln des Spielers muss sich auf diese Möglichkeit einstellen, bevor sich die Möglichkeit realisiert hat. Das eröffnet erst die Möglichkeit des Erfolgs – das Spiel zu gewinnen und zugleich aber auch die Möglichkeit, daran zu scheitern – das Spiel zu verlieren. Die Sprache hat sich auf diese Möglichkeit insofern eingestellt, als man sagt, ein Ereignis sei unvorhersehbar. Das schließt die prinzipiell mögliche Vorhersehbarkeit im Sinne von Vorbestimmtheit nicht aus, sondern ein.
(Auf dieses Motiv der Zuversicht rekurrieren insbesondere Lotteriespiele, die Lose benutzen. Die Gewinnzahl wird in einer geheimen Auslosung vor dem Spiel gezogen und notariell hinterlegt. Dem Interessenten werden Lose mit Zahlenkombinationen zugesandt mit dem Hinweis, die im Los aufgedruckte Zahl könnte mit der hinterlegten Zahl schon jetzt identisch sein. Der Interessent wird zum Mitspieler, weil er sich vorstellt, er könnte das „große Los“ verpassen, wenn er sein individuelles Los nicht rechtzeitig an die Lotteriezentrale zurückschickt.)
Diese eigenartige Logik der Konstruktion von Sinn unter den augenscheinlichen Bedingungen reinen Zufalls greift allerdings erst, wenn man Interesse an dem Spiel gewinnt und sich entschieden hat, das Lotteriespiel mitzuspielen. Wir möchten damit darauf hinweisen, dass es sehr schwer ist, sich Zufall an sich vorzustellen. Das scheint aus einer distanzierten Sichtweise in Ansätzen möglich zu sein, aus der Perspektive des Mitspielenden und damit von der Sache her betroffenen Spielers ist es schlicht unmöglich. Immer sind Zuversicht, Hoffnung, Spekulation mit im Spiel, wenn es zur Spielentscheidung kommt. Auch in der Retrospektive – wenn mitgespielt wurde – ist die Einordnung eines Ereignisses als „reiner Zufall“ schwer möglich. Immer sind Enttäuschung oder Glück oder Vorbestimmtheit mit im Spiel.
Die Geschichte geht aber nicht auf diese paradoxe Logik ein, sondern bezieht ihre Logik aus einem Vorher und Nachher. Vorher ist alles dem Zufall überlassen. Davon geht auch die arme Frau aus. Nachher erst, nach Eintreten eines Resultats besteht die Notwendigkeit, sich zu entscheiden: für ein Fortwirken der Regeln des Zufalls oder für die Wirksamkeit eines verborgenen Sinns, der in diesem Spiel liegt oder der in dieses Spiel eingegriffen hat. Die vom Glück getroffene Spielerin rekurriert auf einen Sinn, der die eigene Herausgehobenheit rechtfertigt, während quasi die Zuschauer des Spiels, die nicht direkt betroffenen Kinder, weiterhin auf den auf Stochastik basierenden Regeln beharren. Warum verteilen die Erfinder der Geschichte die Positionen nicht umgekehrt: Die Frau geht weiterhin von der Wahrscheinlichkeit aus und die Kinder sehen Gottes Hand im Spiel?
Es ist äußerst schwierig, wenn nicht gar unmöglich, als Mitspieler des Spiels auf einen Sinn zu rekurrieren, der die Regeln des Spiels nicht transzendiert. Man kann es auch so sagen: Jeder Spieler eines Spiels rechnet sich höhere Chancen eines Gewinns aus, als ihm von der reinen Wahrscheinlichkeit her zukommt. Trifft der Gewinn auf einen Spieler, so sieht dieser sich gezwungen, dieses Ereignis zu rechtfertigen und zu begründen, mit anderen Worten, das Ereignis des Glücks mit Sinn auszustatten. Denn reiner Zufall ist in sozialen Bezügen sinnlos. Da ein Spiel, das von Menschen gespielt wird, immer auch soziale Bezüge herstellt, ist eine Konstruktion von Sinn unumgänglich, das dem Ereignis unterschoben wird.
Unsere Vermutung ist deshalb, dass es bei der sich anschließenden Diskussion gar nicht um einen erbitterten Streit darum gehen wird, wer recht hat. Vielmehr wird es um ein Aushandeln und Gegenüberstellen der Begründungsmuster der beiden unterschiedlichen Perspektiven gehen, jener der Mitspieler und jener der Zuschauer. Das Typische eines distanzierten Zuschauers ist es ja, dass er sich die möglichen Entscheidungsoptionen in Ruhe betrachten kann, ohne dass er sich für eine Option entscheiden muss (Handlungsentlastetheit). Das Typische am Spieler ist dagegen, dass er sich für eine der möglichen Optionen entscheiden und diese realisieren muss (Handlungszwang bzw. Betroffenheit). Dadurch steht er in Bezug auf das eingetroffene Resultat auch stärker unter Begründungsverpflichtung. Er sieht sich gezwungen, diesem einen Sinn zuzuschreiben. Das bedeutet allerdings nicht, dass dieser Sinn ausschließlich in der Gestalt einer „göttlichen Fügung“ o.ä. zum Ausdruck gebracht werden muss. Zuschauer werden eher geneigt sein, dem Zufall eine Chance zu lassen und Mitspieler werden sich eher gezwungen sehen, einen Sinn in das Geschehen einzubauen. Bei einer ausreichend langen Diskussion mit Argument und Gegenargument müsste es dann am Ende den Beteiligten, die sich für eine der beiden Positionen entschieden haben, möglich sein, die Entscheidung der anderen aus der Position der anderen zu betrachten und damit die in sich konsistenten Betrachtungsweisen beider Optionen einzusehen und zu verstehen.
Interpretation der Schüleräußerungen
1L – Jetzt werden Euch Fragen gestellt als Diskussionsgrundlage.
2Sm – Frage 1a: Wer hat recht?
Die Frage suggeriert einen die andere Position jeweils ausschließenden Wahrheitsanspruch. Es wird nicht nach den Bedingungen der Gültigkeit der Plausibilität von beiden Positionen gefragt. Insofern soll die Frage bei den Schülern in Reaktion auf die Geschichte Betroffenheit erzeugen. Sie sollen sich mit einer der beiden Positionen identifizieren und diese begründen. Bleiben sie in der Rolle eines distanzierten Zushauers, könnten sie aber auch versuchen, die jeweils eigene Plausibilität beider Positionen nachzuvollziehen und zu begründen.
3Sw – Ich würd sagen, die Kinder, weil, es ist halt ein Spiel,
und beim Spiel ist halt immer Zufall da, wenn du würfelst
und kriegst zwei Sechsen, das ist auch Zufall, da ist auch
nicht Gottes Hand dabei.
Das Mädchen redet im Konjunktiv. Sie benennt zwar ihre Position, signalisiert aber zugleich, dass andere auch eine andere Position einnehmen können.
Für sie ist Lotto ein Spiel, in dem der Zufall über den Gewinn und den Gewinner entscheidet. Zur Begründung vergleicht sie Lotto mit dem Würfelspielen. Dort wird mit eigener Hand gewürfelt und wenn das große Los, zwei Sechsen eintreffen, ist das Zufall und es ist nicht Gottes Hand im Spiel. Nach unseren vorhergehenden Überlegungen würde 3Sw das Spiel stärker aus der Perspektive eines Zuschauers betrachten.
Sw schließt zwar „Gottes Hand“ nicht aus, aber sie differenziert in Bereiche, wo für sie ausschließlich der Zufall im Spiel ist und in andere Bereiche, wo sehr wohl Gottes Hand im Spiel sein kann. Letztere müssen aber in diesem Zusammenhang nicht benannt werden. Das implizite Kriterium, nach dem Ereignisse den beiden Bereichen zugeordnet werden können, wird nicht explizit benannt.
4Svenja – Ja, ich bin davon überzeugt, daß es das zum Teil gibt, aber irgendwie, das ist doch irgendwie gelenkt, so daß es auch keinen Zufall gibt. Das ist irgendwie Schicksal.
„Ja, ich bin davon überzeugt, daß es das zum Teil gibt“ kann sich bei Svenja auf Gottes Hand oder auf den Zufall beziehen. Die Verfügungsgewalt der Hand Gottes wird durch den Zusatz zum Teil eingeschränkt, ebenso der Zufall. Anschließend folgt aber über irgendwie gelenkt der Ausschluss des Zufalls. Die Wahl des Gewinners liegt weder ausschließlich in der Hand Gottes, noch ist sie im Zufall begründet. Zum Schluss folgt die Einführung des Begriffs Schicksal, der sich sowohl von Gottes Hand als auch vom Zufall absetzt und beide Optionen auch nicht völlig auf allen Ebenen ausschließt. Es fällt auf, dass sie in der kurzen Sequenz gleich dreimal das Wort irgendwie verwendet. Sie geht davon aus, dass das Spiel gelenkt wird, aber sie weiß nicht wie.
Wenn Svenja davon ausgeht, dass das Spiel gelenkt wird, dann ist der Verlauf und Ausgang des Spiels determiniert. Folglich gibt es eine Größe, die das Spiel lenkt bzw. die unabhängig von der Zeit über ein Wissen darüber verfügt, wie das Spiel ausgehen wird. Während die Vorstellung von Gottes Hand im Spiel davon ausgeht, dass Gott das Spiel nicht nur lenkt, sondern auch lenkend eingreift, sind im Schicksal sowohl die Vorstellungen einer voluntaristischen als auch einer nur wissenden Instanz möglich. Im Grenzfall wäre der Begriff Schicksal auch dann noch angebracht, wenn sich der lenkende Prozess auf sich selbst beziehen würde.
Im Gegensatz zum Zufall wird Schicksal immer asymmetrisch gedacht. Es wird eine Größe vorgestellt, die über Vorbestimmtheit lenkt. Dieser Größe ist das Subjekt ausgeliefert. Für das Subjekt ist es ein „Schicksalsschlag“, sofern das Ereignis bei diesem Subjekt eintrifft. Für den nichtbetroffenen Zuschauer kann der Schicksalsschlag noch als Zufall erklärt werden, das betroffene Individuum ist auf eine Begründung dafür angewiesen, dass bestimmte Ereignisse im Leben eben nicht voraussagbar sind. Schicksal kann demzufolge auf Gottes Hand rekurrieren als auch auf eine Lenkung durch die oben beschriebene Art der „Vorbestimmheit“, dass also „zufällig“ die richtige Person mit dem richtigen Ereignis zum richtigen Zeitpunkt (Kairos) zusammengetroffen ist. Dem Schicksal wird die Kompetenz unterstellt, von dieser Art der Vorbestimmung und dessen Verlauf zumindest zu wissen.
Wir können uns relativ leicht anhand von Alltagssituationen die Bedeutung von Schicksal klarmachen: Man kann noch von Zufall reden, wenn sich ein Ziegel vom Dach löst und einem zufällig vorbeigehenden Menschen auf den Kopf fällt. Es wird aber zum Schicksal dieses Menschen, mit den Folgen seines „Dachschadens“ zurechtzukommen. Das kann er nun nicht mehr dem Zufall überlassen. Kann der Unfall an sich noch als Zufall betrachtet werden, so wird er spätestens dann zum Schicksal, wenn der vom Unfall Betroffene mit den Folgen zurechtzukommen hat. Dann muss der Betroffene dem zufälligen Ereignis einen Sinn zuschreiben. An dieser Stelle spätestens kommt auch der Faktor Zeit ins Spiel. Es gibt ein Vorher und Nachher.
Allgemein ausgedrückt: Werden Menschen von Kontingenzerfahrungen betroffen, so sehen sie sich gezwungen, dem in einem sozialen Kontext sich ereignenden zufälligen Ereignis einen Sinn zuzuschreiben. Bleibt der Zufall in einem stochastischen Raum, dann kann diesem Zufall auch kein Sinn zugeschrieben werden. (Zugleich ist dieser Zufall zeitlos.)
Svenja leistet einen Transformationsprozess von der in der Geschichte favorisierten Vorstellung eines stochastisch-mathematischen Zufalls in die eines sozial erfahrenen Schicksals. Sie erweitert damit die vorgegebenen Alternativen, indem sie die relativ enge inhaltlich festgelegte Vorbestimmung durch die Hand Gottes erweitert durch die Einführung des Begriffs Schicksal, der mit unterschiedlichsten Konnotationen von Sinn gefüllt werden kann.
Sie geht bei der Begründung des Schicksals von der Größe aus, die den Lauf der Dinge lenkt. Deshalb kann sie den stochastisch bestimmten Zufall abwehren, dem sozial bestimmten Zufall im Sinne der den Menschen nicht möglichen Vorhersehbarkeit aber implizit eine Chance einräumen.
Wir können festhalten: Schon die erste Position von Sw, die sich für den Zufall entschieden hat, wurde im Konjunktiv eingeführt. Ausgeschlossen wurde die alternative Position nicht. Svenja entscheidet sich für die Gegenposition. In ihrer Argumentation lässt sie aber die möglichen Positionen vor einem Horizont sozialen Handelns ebenfalls offen. Im Gegensatz zu Sw berücksichtigt sie jedoch die Notwendigkeit einer betroffenen Person, einem unvorhergesehenen Ereignis Sinn in einem Handlungsfeld zuzuschreiben, in dem offensichtlich nur die Regeln des Zufalls gültig sind. Svenja argumentiert aus der Perspektive des Betroffenen und weniger aus der Perspektive des Zuschauers, obwohl natürlich in ihrer Argumentation beide Perspektiven latent enthalten sind.
5Jörg – Ja, das kann man ja nicht sagen, daß das, ja Gottes Hand war,
weil sonst ja viele Menschen benachteiligt würden. Ich würd‘
sagen, daß das Zufall wär, weil ja sonst die andern Leute, die
mitgespielt haben, ja benachteiligt würden und dann nicht
gewonnen haben.
Jörg greift die Position von Sw auf, ohne sich dabei direkt von Svenja abzusetzen. Gottes Hand kann nicht im Spiel gewesen sein, weil „sonst ja viele Menschen benachteiligt würden.“ Interessant ist die Aussage in zweierlei Hinsicht: (1) Jörg schließt das Handeln Gottes aufgrund einer bestimmten Vorstellung von Gerechtigkeit aus und (2) werden Menschen nur dann benachteiligt, wenn das Resultat des Spiels auf Gottes Hand zurückzuführen ist. Der Zufall selbst kennt keine Benachteiligung. Gerechtigkeit ist also – wie kann es anders sein – an einen durch Regeln bestimmbaren Sinn gebunden.
Zur Gerechtigkeitsvorstellung von Jörg: Es ist deutlich, dass der implizite Gerechtig-keitsbegriff von Jörg sich an gleichen Verteilungschancen für alle orientiert. Wenn einer gewinnt, dann müssen auch alle anderen gewinnen. Gott wird eine Kompetenz unterstellt, die im realen Leben nicht einzulösen ist. Gerechtigkeit wird nur auf der einen Seite, nämlich auf der Seite des Resultats festgemacht und es wird vernachlässigt, unter welchen Voraussetzungen welches Resultat erreichbar ist. Wenn eine Million Menschen eine Mark einzahlen, dann kann entweder einer eine Million gewinnen oder es können 1 Million Menschen ihre eingesetzte Mark zurückgewinnen einschließlich der Variationen, die dazwischenliegen.
Nun ist Jörg’s Argumentation keineswegs so simpel, wie eben angedeutet. Es macht für ihn Sinn, Gottes Hand immer auf den Fall, d.h. hier auf den Einzelnen zu beziehen. Gott ist da für den Einzelnen und zugleich für alle einzelnen Menschen in gleicher Weise. Das bringt Jörg mit dem Zufallscharakter des Spiels nicht in Einklang, der einen einzelnen Menschen vor allen anderen massiv bevorteilt. Jörg vergleicht unter der Bedingung einer gemeinsamen, für alle Spieler gleichen Ausgangssituation das Ergebnis für die Spieler. Dieses ist extrem ungleichgewichtig. Zu beachten ist, dass Jörg die Benachteiligung nur innerhalb des Spiels ausmacht. Die Regeln des Spiels werden in Konflikt gesehen mit den Regeln einer Gerechtigkeitsvorstellung, die an Gott festgemacht wird. Weil das Resultat den Regeln des Zufalls folgt, wird Gott in diesem Fall ausgeschlossen. Es bedarf angesichts dieses Einwandes weiterer Reflexionsleistungen, um Gott – bildlich gesprochen – wieder ins Spiel zu bringen.
Auch Jörg unterstellt, dass Gottes Hand sehr wohl in anderen Lebensbezügen im Spiel sein kann, nur nicht in diesem speziellen Spielfeld. Hier hat Gott nichts zu suchen. Die Gültigkeit dieses speziellen Falls wird in der Art einer qualitativen Induktion folgendermaßen hergeleitet:
Regel: Gott ist gerecht.
Resultat: Die Spieler werden nicht gerecht behandelt. Nur einer gewinnt.
Schließen
auf den Fall: Gott kann es nicht gewesen sein. Es ist der Zufall.
6Svenja – Ja, und vielleicht so spielerisch, … es gibt doch bei den
andern Menschen andere Situationen, die von Gott bevorzugt
werden. Ja was heißt von Gott – daß die bevorzugt werden in
anderen Situationen, wo die Frau dann meinetwegen Pech hat.
Svenja argumentiert gegen Jörgs Gerechtigkeitsbegriff, der isoliert eine von vielen Situationen im Leben eines Menschen berücksichtigt. Nicht alle Menschen werden zum gleichen Zeitpunkt von Gott bevorzugt oder benachteiligt. Wenn man die Gesamtbilanz einer längeren Lebensphase der Menschen, wenn nicht das ganze Leben heranzieht, schafft Gott eine ausgleichende Gerechtigkeit. Dieses Argument trägt sie „spielerisch“ vor, das bedeutet wohl gedankenexperimentell: Wenn es Gott gäbe. Im anschließenden Satz wird das Handeln Gottes relativiert in Richtung des (im Interakt 4 eingeführten) Schicksalsbegriffs. In anderen Situationen werden andere Menschen bevorzugt und die arme, nun reiche Frau hat Pech. Schicksal ist unverfügbar und nicht berechenbar, das soll wohl mit dem Begriff Pech ausgedrückt werden. Dem Schicksal wird aber zugleich auch im Sinne einer Sinnzuschreibung unterstellt, dass es insgesamt betrachtet für Ausgleich zu sorgen in der Lage ist. Dass es sich dabei nicht um einen per Stochastik geschaffenen, sondern um einen „irgendwie gelenkten“ Ausgleich handelt, wurde bereits in Interakt 4 erläutert.
7Jörg – Ich denke nicht, daß da irgendwie jemand bevorzugt wird, dann,
weil das einfach nur Zufall ist. Das passiert halt.
Jörg beharrt auf seiner Schlussfolgerung. Es kann nur Zufall sein, dem kein Sinn unterstellt werden kann. Deshalb kann er dieses singuläre Ereignis auch nicht weiter begründen, es „passiert“ als Widerfahrnis.
8Svenja – Es wird ja keiner bevorzugt, das hat doch keiner gedacht. Es ist Schicksal. Ich glaub‘ nicht, daß es Zufälle gibt, irgenwie so, sondern das ist Schicksal.
Nun wird deutlich, dass Svenja aufgrund einer gedachten, dem Schicksal unterstellten ausgleichenden Gerechtigkeit nicht auf den stochastischen Zufall rekurrieren muss, wenn es um die Erklärung eines Einzelphänomens geht, das spieltechnisch nach stochastischen Regeln abläuft. Dem zufälligen Ereignis, das sich am Einzelfall festmacht, kann Sinn unterlegt werden. Svenja weigert sich, im Schicksal Gottes Hand zu sehen, die sehr wohl auch lenken könnte. Die Art der Lenkung lässt sie vielmehr offen. Sie geht nur davon aus, dass sich insgesamt eine gerechte Verteilung erweisen wird. Damit ist auch bei ihr Gerechtigkeit ein entscheidender Parameter zur Beurteilung von „Glück“ und „Pech“, jedoch in anderer Weise als bei Jörg. Svenja ist in der Lage, die Notwendigkeit des einzelnen Menschen anzuerkennen, in einer für ihn unübersichtlichen Situation Sinn zu stiften und diesen Sinn mit einer langfristig ausgleichenden Gerechtigkeitsvorstellung in Einklang zu bringen. Jörg geht dagegen von der Gültigkeit einer prinzipiellen Regel in einer singulären Situation aus, die gleichermaßen bei allen beteiligten Spielern gültig sein muss.
Es wird deutlich, dass Svenja aufgrund ihres Verständnisses von Schicksal in der Lage ist, ihre Position weitergehend zu begründen, da sie dem Schicksal weiteren Sinn zuschreiben kann.
9Sw – Nein, Jörg meint, wenn es von Gottes Hand geleitet werden würde, daß, und die Frau es gewonnen hätte, daß die andern Leute benachteiligt wären, und du meinst, daß es so aus Zufall passiert ist. Daß es halt nun mal Schicksal ist, daß einer von ner Million ist und halt passiert ist.
10Svenja – Ja, jetzt hat die Frau vielleicht in dem Fall Glück gehabt, aber dafür haben andere Leute ein ander Mal mehr Glück, bei andern Situationen. Wenn sie’s nächste Spiel machen, gewinnen dann wieder andere.
In Interakt 9 versucht Sw die Positionen von Svenja und Jörg noch einmal deutlicher hervortreten zu lassen und miteinander zu vermitteln. Dabei greift sie die Argumentation von Jörg auf, dass Gottes Hand nicht im Spiel sein kann und unterschiebt sein daraus abgeleitetes Resultat, das auf stochastischem Zufall basiert, dem Verständnis von Svenja. Zufall würde bei Svenja in Schicksal umschlagen, sofern vom Resultat des Spiels ein Mitspieler in besonderer Weise betroffen würde. Dass 9Sw nicht völlig danebenliegt, wird von Svenja bestätigt. Sie kann zwar ihre implizite bzw. intuitive Vorstellung von Schicksal nicht weiter explizieren, versucht jetzt aber mit „Glück“ nochmals darzustellen, was sie in Interakt 6 mit dem Gegenteil von Pech schon dargestellt hat.
11Sm – Ja, so wie Svenja das sagt, sind die Leute, wenn was schief geht, dann schief eh, dann schiebt man das ja auch gern ab. Wieso trifft das denn jetzt mich? Ich glaub schon, daß das Zufall ist. Wo – wie würd’st das denn sonst betiteln, bitte? Wenn das jetzt kein Zufall ist und das jetzt irgendwie ne Gottesfügung ist, oder wie du das sagst.
12Svenja – Ja, haben die Leute eben Pech gehabt, ne?
13S – [reden durcheinander]
13 Sm – Dann muß es ja auch ein Wille von Gott sein, wie du das jetzt grad gesagt hast, wenn es kein Zufall ist, Pech zu haben.
Sm argumentiert in der Logik von Jörg innerhalb der durch die Geschichte vorgegebenen Alternativen. Er setzt genau dort ein, wo der einzelne, wenn ihn das Schicksal trifft, auch ansetzen muss. Bei der Notwendigkeit, für dieses Ereignis einen Sinn zu konstruieren, der verstehen lässt, was nicht zu erklären ist. Dabei benutzt er sehr geschickt eine allgemein verbreitete Verhaltensweise als Argument. Wenn man Pech hatte, dann schiebt man die Begründung für das Pech gerne auf den Zufall. Wieso trifft das denn jetzt mich? Diese Frage stellt sich nur bei Pech, nicht bei Glück. Um diese Frage nicht in den Kategorien von Sinn beantworten zu müssen, wird das Pech mit dem Zufall, mit dem nicht zu Erklärenden, in Verbindung gebracht. In diesem Kontext gewinnt der Zufall die Qualität einer Restkategorie. Glück stellt den Betroffenen weniger unter Begründungsdruck. Glück, etwa in dem Ausspruch: „Ich bin meines Glückes Schmid“ ist sich selbst Grund genug. Dagegen wird man nicht sagen, „Ich bin meines Peches Schmid“, sondern nach Gründen suchen, die außerhalb des eigenen Vermögens liegen, entweder wird man die Schuld Dritten zuschreiben oder dem Zufall. Diese Asynchronie der Deutung von Glück und Pech in einem Ereignis kann auch nicht gelöst werden, wenn man – wie Sm gedankenexperimentell Sinn in einer Gottesfügung sucht. Dann wird die Aporie nur noch verstärkt. Denn dann wäre Gott nicht nur für das Glück zuständig, sondern auch für das Pech. Gott wäre der, der alles zusammenfügt, auch das Pech. Die Asynchronie wäre perfekt, denn Gott wäre, etwa durch sein Gutsein, vom Zufall nicht mehr zu unterscheiden. Gottesfügung und Zufall wären zumindest an den hervorgebrachten Resultaten nicht mehr zu unterscheiden. Die von Sm Gott zugeordnete Regel lautet aber, dass Gott Gutes wirkt und sich darin vom sinnlos verteilenden Zufall unterscheidet. Gott wird ein Wille unterstellt, der nur auf das Gute gerichtet ist. Negative Folgen eines auf Gutes abzielenden Handelns dürfen nicht eintreten. Wenn negative Folgen eintreten, dann taucht die nicht explizit gestellte Frage auf, woher das Böse in der Welt kommt. Das mit Gott verbundene Gerechtigkeitsverständnis impliziert, dass nur das Gute gerecht ist und von Gott kommen kann. Pech (für den Menschen) kann Gott nicht wollen. Auch hier findet ein Gerechtigkeitsverständnis Anwendung, das ähnlich wie das von Jörg gelagert ist. Auf der anderen Seite wird eine Kausalbeziehung hergestellt: Wenn Gott für das Glück zuständig ist, dann muss er auch für das Pech herhalten. Die Logik der Regeln muss für beide Seiten in Gegensatzpaaren gelten. Sonst sind es keine Gegensätze mehr und sie sind nicht mehr vergleichbar. Ergo gilt: Weil diese Regel für Gott nicht zutrifft, kann es nur der Zufall sein, der sowohl für Glück als auch für Pech zuständig ist, da dem Zufall keine logische Regel im Sinne eines Prinzips zugesprochen werden muss.
Deshalb, so die Folgerung, waltet in einem Ereignis, das dem Menschen im Lotto Pech zufügt, der Zufall. Was ist für Sm der Fall? Der Zufall!
Die Argumentation von Sm ist schon recht komplex und reichlich spitzfindig. Wie wird Svenja darauf reagieren? Denn sie muss sich gegen die Unterstellung, man könnte Schicksal und Gottesfügung in eins setzen, abgrenzen und zugleich deutlich machen, dass das Ereignis nicht mit einem stochastischen Wahrscheinlichkeitsbegriff zu erklären ist.
15Svenja – Ja, vielleicht wenn die Leute dann eben dieses Schicksal nicht hätten, meinetwegen daß ein Sohn gestorben ist, und sie haben das eben erfahren,
die haben wieder andere Dinge nicht. Daß die vielleicht irgenwie in der Familie mehr Kontakt kriegen, dadurch, daß der Sohn gestorben ist, daß die jetzt zueinander finden, oder so. Das kann man dann so und so sehen.
Svenja baut nun anhand eines Beispiels die eingeschlagene Argumentation aus. Konsequent bezieht sie sich auf das Schicksal, durch das Leid erfahren wird. Doch aus dem Leid kann neues Glück erwachsen. Die Erfahrung von Glück, so die Argumentation von Svenja, wäre in diesem Fall ohne die Erfahrung von Leid nicht möglich gewesen. Dasselbe gilt demnach auch umgekehrt, auf die Erfahrung von Glück kann bei der armen Frau in anderen Lebenszusammenhängen auch wieder Leid und Pech folgen. Insgesamt ergibt sich aus dieser Verteilung über die Zeit eine in sich sinnvolle ausgeglichene Gesamtbilanz. Sie bezieht in ihre Argumentation eine erweiterte Perspektive mit ein, die in der Geschichte selbst nicht angelegt ist. Was sich in der Einzelsituation als höchst ungerecht herausstellt, erweist sich in der Gesamtbilanz im Vergleich als ausgleichend gerecht. Svenja betrachtet die sinnlogischen Anschlussstellen der einzelnen Sequenzen von Glück und Pech, die Übergänge zwischen diesen Schicksalsdimensionen.
Bei allen Beiträgen bildete die Frage nach Gerechtigkeit den Hintergrund für die Urteilsfindung. Betrachtet man die Frage vor dem Hintergrund von einzelnen, isolierten Ereignissen, dann ist Gerechtigkeit nicht einlösbar, also muss man das Resultat dem Zufall überlassen. Betrachtet man das Ereignis aber als eines in einer längeren Sequenz, wird Gerechtigkeit einlösbar und kann deshalb als Schicksal gedeutet werden, das das Geschehen irgendwie lenkt.
Der letzte Satz: Das kann man dann so und so sehen fasst diese Sichtweise nochmals zusammen. Referenz kann dann sein:
- Sehen von positiven oder negativen Aspekten.
- Sehen von der Einzel- oder der Gesamtsituation.
Aus dieser Sichtweise resultiert die Einsicht, dass das Positive nicht ohne das Negative denkbar und realisierbar ist.
Diese dem Schicksal unterstellte Logik kann man natürlich auch auf eine Urteilsbildung übertragen, die davon ausgeht, dass im menschlichen Handeln immer auch Gottes Hand im Spiel ist. Svenja wehrt sich auf der einen Seite mit guten Argumenten gegen die Perspektive einer reinen Stochastik, die die Ereignisse, die Menschen zustoßen können, bestimmen. Andererseits vollzieht sie nicht den Schritt von der Annahme eines wirkenden Schicksals zum Glauben an einen Gott, der im menschlichen Spiel mitspielt. Vielleicht ist ein Grund darin zu suchen, dass Schicksal noch eher mit dem Zufall korrespondiert und alltagssprachlich kommunizierbar ist, während die Annahme eines göttlichen Willens als Bekenntnis gelten und die Diskussion bzw. Argumentation beenden müsste.
16Mike – Ja, das Spiel, das ist ja von Menschen gemacht,also deshalb glaub ich nicht, daß das irgendwas mit Gott zu tun hat. Das ist schon Zufall. Wenn das jetzt meinetwegen irgendwie in der Natur passiert wär, daß irgendwie ne reiche Ernte, dann könnte man vielleicht sagen, daß das Gottes Hand, daß Gott damit im Spiel gewesen wäre. Aber das Spiel, das ist ja von Menschen gemacht, das hängt dann schon mit Glück zusammen oder Zufall oder so.
Mike macht eine doppelte Unterscheidung: (1) Einmal bezieht er den Zufall auf das Spiel und (2) zum anderen wird Zufall auf die Natur bezogen.
zu (1): Mike geht von der unbestreitbaren Tatsache aus, dass Spiele wie Lotto etc. von Menschen gemacht wurden. Sie haben Regeln für dieses Spiel entworfen und der Reiz des Spiels liegt gerade darin, dass es nicht vorhersehbar ist, wer der Gewinner und Verlierer des Spiels sein wird. Die spielenden Menschen liefern sich dem Spiel aus und haben dann im Spiel keinen Einfluss auf das Ergebnis. Es wird dem Zufall überlassen. Die Regeln des Spiels legen fest, dass es Gewinner und Verlierer geben wird. Man kann aber nicht sicher voraussagen, wer der Gewinner oder der Verlierer des Spiels sein wird.
Im Gegensatz dazu spricht Mike seinem Gott eine Kompetenz zu, die den Spielverlauf vorherzusehen in der Lage ist und somit auch in das Spiel eingreifen kann. Die Folge dieser Zuschreibung ist, dass Gott nicht spielt, genauer gesagt gar nicht spielen kann, weil er eben aufgrund seiner Allwissenheit nichts dem Zufall überlassen kann.
Das Kriterium zur Unterscheidung zwischen menschlichem Spiel und Gottes Handeln sind demnach die nachweislich beobachtbaren Zufallsergebnisse, die das von Menschen gemachte Spiel bestimmen. Gott ist außen vor, er spielt nicht nach menschlichen Regeln.
Anders wäre das für den Zufall im Bereich der Natur. Mike würde darin eher von Gottes Wirken sprechen können, weil Natur nicht (ausschließlich) von Menschen gemacht und nach menschlichen Regeln funktioniert. In Bereichen, wo offensichtlich Zufall mit im Spiel ist, handelt der Mensch autonom und eigenständig und muss mit den Folgen des Zufalls, den er initiiert hat, selbst zurechtkommen. Wenn der Zufall neue Ungerechtigkeiten schafft, dann muss der Mensch sehen, wie er damit umgeht, Gott ist in diesem Fall für ungerecht verteilte Resultate nicht zuständig und verantwortlich zu machen.
Etwas anderes ist es für Mike bei Naturereignissen, auf die der Mensch keinen Einfluss und keinen Zugriff hat. Hier hat Gott direkte Zugriffsrechte und es ist nicht dem Zufall überlassen, ob der Bauer eine reiche Ernte einbringt oder ob das Getreide in einem heißen Sommer verdorrt. Hier ist immer Gottes Hand im Spiel und die Menschen sind auf Gottes Gnade und guten Willen angewiesen.
Mike kann das Argument der armen Frau nicht entkräften. Sie würde, auf den Gewinn im Lottospiel angesprochen, sagen: Gott hat aufgrund seiner Allmächtigkeit in das Spiel eingegriffen und zu meinen Gunsten entschieden. Damit taucht dann wieder die Frage nach Gerechtigkeit auf. Aus dieser Perspektive greift Gott in Spiele ein, die von Menschen erdacht und nach den von ihnen geschaffenen Regeln gespielt werden.
Mike will dagegen das allwissende Handeln Gottes auf die Natur verlagern. Ihm scheint es wichtig zu sein, dass die Menschen in ihrem Spiel nicht gestört werden. Aus diesem Interesse heraus wäre die konstruierte Gewaltenteilung zwischen Gott und Menschen zu verstehen.
17S …
18Sw – Ich glaub, das ist Ansichtssache, wenn einer an Gott glaubt, der sagt dann sofort: das war Gottes Hand oder so. Ich glaub , das ist Ansichtssache.
Sw gelangt zu der Einsicht, dass es auf die jeweilige Perspektive ankommt und auf die für den einzelnen verbindlichen Deutungsmuster, die den Ausschlag für die Entscheidung für die eine oder die andere Option geben.
Welche Verständnisse von Zufall werden sichtbar?
Vergleichende Betrachtung
1. Die Sichtweise auf das Ereignis, die individuelle Perspektive der Betroffenheit spielt eine zentrale Rolle: Der Zufall wird unterschiedlich gedeutet bzw. mit Sinn attribuiert, je nachdem, ob jemand als Gewinner oder Verlierer, Glückspilz oder Pechvogel, Betroffener oder Beobachter (Gutachter) involviert ist. Bei Spielern ist der Grad des individuellen Risikos (des Wetteinsatzes, der Gewinnchancen) von Bedeutung: je größer das Risiko, desto eher ist eine den Zufall steuernde oder kontrollierende Macht im Spiel.
2. Das Verständnis von Zufall und seine Deutung sind nicht loslösbar von der jeweiligen konkreten Situation, auf die der Zufall trifft oder sich bezieht. Je nach den situativen Bedingungen wird der Zufall unterschiedlich interpretiert: ob es sich um ein Glücksspiel, ein Strategiespiel, ein Nullsummenspiel, um Münzwurf oder Würfelspiel handelt oder um lebensgeschichtlich relevante Kontingenzen: Das jeweilige Verständnis des Zufalls ist nicht losgelöst davon zu erfassen. Das schließt nicht aus, dass der Beurteilende Analogien zwischen verschiedenen Situationen bildet.
3. Die Schüler und Schülerinnen bringen stochastische (a priori – vom Axiom der Gleichverteilung ausgehend, frequentistisch – von beobachtbarer relativer Häufigkeit ausgehend, formal – von mathematischen Regeln ausgehend) Verständnisse von Zufall ins Spiel. Diese Verständnisweisen stehen neben deterministischen – von einer Macht vorbestimmt oder kontrolliert – und gerechten Vorstellungen vom Zufall, die beide als soziale Dimensionierung von Zufällen in Form von Lebensereignissen (Kontingenzen) eine Rolle spielen. Die sozial dimensionierten Zufallsverständnisse sind die umfassenderen, die neben stochastischen Verständnissen koexistieren oder diese einschließen können.
4. Kontingenzen als sich zufällig ereignende, der Kontrolle des Einzelnen entzogene, nicht steuerbare Lebensereignisse müssen individuell und biographisch verarbeitet werden. Diese Verarbeitung geht nur über eine Zuschreibung oder Unterlegung von Sinn, nicht aber über das Verstehen einer formalen stochastischen Wahrscheinlichkeit. Jugendliche unterlegen Sinn auf ihre Weise, entsprechend den eigenen Erfahrungen, mit Kontingenzen.
5. Wenn Sinn nicht mehr zugeschrieben werden kann, wenn es keine anderen Erklärungen mehr gibt (wie z.B. Magie, Energie, Telepathie, Schicksal, Gott, Geist, Kraft, Glück und Pech), dann wird der Zufall als Restkategorie eingesetzt. Die persönliche Betroffenheit von einem Ereignis lässt es in der Regel allerdings nicht zu, dieses als Zufall zu bezeichnen.
6. Eine situationsübergreifende Sinnattribuierung durch Vorstellung eines Ultimaten (als Gottes Handeln, Gottes Führung, Gottes Gerechtigkeit) wird in dem Unterrichtstranskript für die Jugendlichen deshalb schwierig, weil sie mit ihrem Verständnis von Gerechtigkeit nur die „guten“ Lebensereignisse tangieren. Leid und Pech ist für sie nicht Teil von Gottes Gerechtigkeit, Gott ist nur „lieber“ Gott. Das Thema von Hiob scheint in ihrer theologischen Argumentation unbekannt zu sein, noch nicht begriffen.
7. Kontingenzen beziehen sich auf Glücks- und Unglücksumstände. Unglück und Leid ist ungleich schwerer zu bearbeiten als Glücksereignisse. Es kommt dabei auf soziale Bezugssysteme an und auf Verhaltenstypen in vergleichbaren Situationen.
8. Dem Hauptschullehrer [2] gelingt es nicht, die Schüler und Schülerinnen von seinem Weltbild und seinen religiösen Vorstellungen zu überzeugen. Es gibt für ihn zwar nicht nur das Gute, aber er steht immer auf der Seite des Guten. Das macht ihn frei von Zweifeln. Diese Position unterscheidet sich grundlegend von jener des pädagogischen Ethos, bei der ja gerade der Zweifel und Perspektivenwechsel, das Übernehmen der Rolle des Anderen konstitutiv dazugehört.
9. Die Schüler sind in dieser Beziehung viel näher an einem naturwüchsigen pädagogischen Ethos. Ihre Fragen und ihre Erwiderungen auf die Zumutungen des Lehrers eröffnen eine Perspektive, die eine Überwindung des Dualismus ermöglicht. Dabei sind sie sehr wohl in der Lage, die grundlegenden Kategorien für Zufall und Notwendigkeit – so wie die Schüler in der ersten Fallanalyse – zu entwickeln. Sie können sie jedoch nicht entfalten, da der Lehrer diese durch seine Kommentierung und Rückführung in einen Dualismus systematisch stört.
10. Die Hauptschüler diskutieren die Gültigkeit von Prinzipien und Regeln mit Hilfe der zentralen – von ihnen eigenständig eingeführten – Begriffe Schicksal, Glück und Pech, Gottes Fügung, Gottes Gerechtigkeit. Wenn die Prinzipien inhaltlich verkürzt sind (wie z.B. Gerechtigkeit Gottes), dann stoßen sie an Grenzen der Argumentation. In diesem Fall bleibt als Erklärung der Zufall als in sich sinnloses Ereignis.
11. Die didaktische Aufgabe besteht in der Reflektion und weiteren Explikation der von den Schülern und Schülerinnen gefundenen Begriffe und Argumentationslinien. Lernziel wäre, ihnen ein vertieftes und zugleich erweitertes Verständnis ihrer Fragen zum Zufall zu ermöglichen, das auch die unterschiedlichen Positionen in den Blick nehmen, einschätzen und bewerten kann.
Fußnoten:
(1) Neben der Geschichte „Zufallsdilemma“ waren schriftliche Fragen formuliert, die als Stimulierung des Nachdenkens notiert waren. Es handelt sich um eine Unterrichtsstunde im Fach katholische Religion. Die Unterrichtsaufzeichnung wurde im Comenius-Institut verschriftlicht. Es waren nur einige Schülernamen zuordenbar. Im Transkript wurden deshalb die übrigen Schüler als Sm (männlich) oder Sw (weiblich) codiert; die Interakte wurden durchnumeriert.
(2) vgl.: Interpretation des Zufallsdilemmas im zweiten Unterrichtsprotokoll Hauptschule 7. Klasse evangelisch