Alternative Interpretation dieser Falldarstellung :

Christine Schlickum: Arbeitsanweisungen in pädagogischen Settings am Beispiel von Hausaufgaben.

Falldarstellung (interpretierende Fallrekonstruktion)

Die Szene, die ich interpretieren werde, spielt sich zu Beginn einer Unterrichtsstunde (Biologie, 12. Klasse) ab. Ein Lehrer wendet sich an einen Schüler und fordert ihn auf:

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.

Wir stehen vor einer Aufforderung, die im schulunterrichtlichen Kontext tagtäglich anzutreffen ist. Die Aufforderung beruft sich auf die Verpflichtung des Schülers, die aufgegebenen Hausaufgaben zu erledigen. Die Aufforderung, die Hausaufgaben vorzulesen, beinhaltet also wesentlich einen Kontrollaspekt. Ist der Schüler seiner Pflicht nachgekommen?
Neben diesem Kontrollmoment verweist die Aufforderung zur Präsentation aber auch auf die schulunterrichtlich-diskursive Kooperation. Denn die Hausaufgabenkontrolle kann gleichzeitig als Diskussionsbeitrag behandelt werden; als Beitrag und Vorschlag der Erschließung eines Gegenstands.
Diese wenigen Bemerkungen zeigen schon, dass die Aufforderung des Lehrers eine latent widersprüchliche Situationsdefinition vornimmt: geht es um Kontrolle, oder geht es um die Sache?
Entsprechend lassen sich hier auch die diesen Widerspruch vermeidenden Alternativen formulieren: Die „reine“ Kontrolle der Hausaufgaben (indem etwa die Hausaufgaben von dem Lehrer eingesammelt werden), oder die „reine“ Sachorientierung (indem etwa zu einem Diskussionsbeitrag aufgefordert wird). Die Aufforderung des Lehrers, die wir hier vor Augen haben, liegt also zwischen den beiden Polen einer eindeutig die Kontrolle und einer eindeutig den Diskurs fokussierenden Situationsdefinition. Und sie liegt damit im Herzen eines schulpädagogischen Dauerproblems.

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.
1/S: Ich habe sie nicht gemacht.

Der Schüler tut kund, dass er der Aufforderung nicht Folge leisten kann, weil er seiner Verpflichtung, die Hausaufgaben zu machen, nicht nachgekommen ist. Wenn wir diese einfache Mitteilung im Lichte der vorangegangenen Interpretation sehen, stoßen wir auf interessante Implikationen:
– Unter dem Kontrollaspekt stellt die Auskunft des Schülers eine doppelte Pflichtverletzung dar. Einmal und trivialerweise durch den Inhalt der Mitteilung. Zum anderen aber durch das Fehlen einer Entschuldigung. Der Schüler hat nicht nur seine Hausaufgaben nicht gemacht; er versäumt es auch, durch eine Entschuldigung diese Regelverletzung symbolisch zu reparieren. Die Entschuldigung hätte nämlich zum Ausdruck gebracht, dass das Fehlen der Hausaufgaben nicht bedeutet, dass er die Verpflichtung grundsätzlich nicht akzeptiert. Das eigentliche Problem besteht ja nicht darin, dass hier und heute die Hausaufgaben nicht vorliegen, sondern in der Frage, ob dies einem situativen Umstand, oder einer grundsätzlichen Ablehnung der Verpflichtung zu verdanken ist. Die fehlende Entschuldigung führt also zu einem Klärungsbedarf.
– Unter dem Diskursaspekt erhält die Auskunft des Schülers eine andere Bedeutung. Denn die Tatsache, dass er nun nicht „mitreden“ kann – jedenfalls nicht unter direkter Bezugnahme auf die Hausaufgaben -, mag er vielleicht bedauern; entschuldigen kann er sich dafür nicht. Anders ausgedrückt: Tut mir leid, würde in dieser Perspektive keine Entschuldigung darstellen, sondern ein Bedauern zum Ausdruck bringen.
Entsprechend kann nun das Fehlen einer Entschuldigung sowohl auf eine Haltung der Verweigerung im Sinne einer grundsätzlichen Ablehnung des schulischen Zwangs hindeuten, als auch auf eine Diskursorientierung verweisen: Gerade weil in dieser durch die Lehrerfrage definierten Situation der Ausdruck des Bedauerns immer auch als Entschuldigung, also als Reaktion auf den Kontrollaspekt aufgefasst werden kann, vermeidet der Schüler die „bedauernde Entschuldigung“.
Damit steht der Lehrer nun vor dem Problem, eine Klärung vorzunehmen. Die Antwort des Schülers zwingt ihn dazu, die vormalige Uneindeutigkeit in Eindeutigkeit zu überführen.

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.
1/S: Ich habe sie nicht gemacht.
2/L: Darf ich fragen, warum nicht?

Die Nach-Frage: Darf ich fragen, warum nicht?, nimmt diese Klärung vor. Sie stellt eine Aufforderung dar, eine Erklärung zu geben. Diese Aufforderung ist in eine eigentümliche sprachliche Form gekleidet (darf ich fragen?). Wörtlich genommen fragt der Lehrer ja nicht nach der Erklärung, sondern er fragt, ob er fragen darf. Die polemische Spitze dieser Frageform ist vor allem darin zu sehen, dass sie – entgegen ihrer wörtlichen Bedeutung – ein herausgehobenes Fragerecht unterstellt. Und damit geht die Unterstellung einer gesteigerten Pflicht zur erklärenden Antwort einher. Durch diese Polemik klagt der Lehrer eindeutig eine Entschuldigung ein. In der Frageform kann geradezu eine typische Reaktion auf Pflichtverletzungen in asymmetrischen Kontexten gesehen werden: Wenn Sie schon nicht meinen Anweisungen folgen, darf ich dann wenigstens fragen, warum nicht?
Die Form der Frage ist es also, die eindeutig den Pflicht- und Kontrollaspekt der Hausaufgaben thematisiert. Die Polemik macht deutlich, dass der Schüler dazu aufgefordert ist, eine Entschuldigung abzugeben und nicht einen Beitrag zur Sache zu liefern.
Die Klärung, die der Lehrer hier durch Eindeutigkeit herstellt, birgt allerdings ein Problem. Die Polemik, derer er sich bedient, könnte eine Eskalation der Interaktion auslösen. Offensichtlich nämlich kann jede Polemik zum Anlass einer polemischen Reaktion genommen werden. So könnte der Schüler beispielsweise antworten: Ich weiß nicht ob Sie fragen dürfen, da müssen Sie sich an den Direktor wenden.

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.
1/S: Ich habe sie nicht gemacht.
2/L: Darf ich fragen, warum nicht?
2/S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfern sind und sowieso nie wieder gebraucht werden.

Der Schüler gibt nun eine Begründung für seine Pflichtverletzung. Diese Begründung hat aber keinen entschuldigenden Charakter, sondern sie verneint sein Verpflichtet-Sein und verbindet diese Verneinung mit einer grundsätzlichen Kritik der aufgegebenen Hausaufgaben. Kaum verborgen stellt diese Kritik natürlich auch eine Kritik an dem Lehrer dar, der die Hausaufgaben ja aufgegeben hat.

Damit hat der Schüler zwar nicht, wie wir vermuten konnten, die Nach-Frage des Lehrers mit einer polemischen Abwehr beantwortet. Aber eine Eskalation der Interaktion liegt nun tatsächlich vor. Die Situation ist nun schwieriger, als vorher. Es ist nicht leicht anzugeben, wie der Lehrer diese Eskalationsbewegung beruhigen kann. Zumal die Äußerung des Schülers inhaltlich zu einer pädagogischen Bezugnahme geradezu einlädt. Denn der Schüler fordert, dass die auferlegten Hausaufgaben – über die Selbstbezüglichkeit des schulischen Kontextes hinaus – eine lebenspraktische Nützlichkeit aufweisen sollten. Und gleichzeitig reklamiert er Entscheidungsautonomie bezüglich der Frage, die auferlegten Hausaufgaben als sinnvoll zu akzeptieren. Verführerisch sind diese Unterstellungen deshalb, weil sie sich auf Wertstandpunkte stützen, die eine pädagogische Ethik unmittelbar betreffen. Sie stellen eine Einladung zu einem „Metadiskurs“ dar, der einerseits die Hausaufgabenverpflichtung selbst zum Inhalt hat und in Frage stellt, der andererseits, schon insofern er geführt wird, die Hausaufgabenverpflichtung unterläuft. Das lässt sich am besten zeigen, indem wir uns 2 typische thematische Bezugnahmen, die dem Lehrer durch die Bemerkung des Schülers nahegelegt werden, vor Augen führen:

1. Der Lehrer könnte den Standpunkt bzw. die Forderung der lebenspraktischen Nützlichkeit akzeptieren. Er könnte dann das Urteil des Schülers kritisieren und darlegen, dass die betreffende Hausaufgabe, anders als der Schüler behauptet, durchaus nicht absolut wirklichkeitsfern ist.

2. Es wäre auch vorstellbar, dass der Lehrer den Standpunkt der lebenspraktischen Nützlichkeit bestreitet. Dann könnten wir vermuten, dass er die Grundlinien eines konkurrierenden Wertstandpunkts argumentativ darlegt, etwa in einer Kritik des Nützlichkeitsgedankens.

Welchen Standpunkt mit welchen Argumenten der Lehrer aber auch immer einnehmen würde; in jedem Fall würde er schon dadurch, dass er das Diskursangebot des Schülers annimmt, die Verpflichtung auf die Hausaufgaben unterlaufen. Denn wenn sich der Lehrer auf eine Diskussion der Legitimität der Verpflichtung, die Hausaufgaben zu erledigen, einlässt, dann hat er damit unweigerlich die Geltung dieser Verpflichtung außer Kraft gesetzt. Er steht hier vor einer klaren Alternative: entweder er besteht auf der Aufrechterhaltung der Verpflichtung der Schüler, die Hausaufgaben zu erledigen (dann muss er den Diskurs hierüber vermeiden), oder er nimmt das Diskursangebot des Schülers auf (dann hat er die Verpflichtung außer Kraft gesetzt).
In dieser scharfen Gegenüberstellung sehen wir nun die Schwierigkeit der Situation und den „Verführungscharakter“ des Diskursangebots durch den Schüler klarer. Denn natürlich ist eine Reaktion des Lehrers vorstellbar, die beides versucht: Diskurspartner (in dieser Frage) zu sein und an der Verpflichtung auf Hausaufgaben festzuhalten. Es liegt aber auch auf der Hand, dass dieser Weg eine „heillose“ Inkonsistenz in Kauf nehmen müsste: dieser Weg müsste sich ja darauf berufen, dass er die Verpflichtung nicht aufgeben will, den Diskurs aber pflegen, bewahren und ermöglichen will. Dabei handelte es sich aber um einen Schein-Diskurs: um eine Entwertung desjenigen Wertes, um dessen Aufrechterhaltung es dieser Variante, beides zu wollen, geht. Schon die einfache Frage des Lehrers: Erläutere doch einmal, wie Du die Sache siehst, wäre durch ein später folgendes: Die Hausaufgaben holst Du bitte nach, diffamiert und entwertet.

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.
1/S: Ich habe sie nicht gemacht.
2/L: Darf ich fragen, warum nicht?
2/S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfern sind und sowieso nie wieder gebraucht werden.
3/L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung der Hausaufgaben. Ich erwarte, sie in der nächsten Stunde zu sehen.

Der Lehrer ist offensichtlich nicht in die „Legitimationsfalle“ des Schülers getappt. Er untermauert den Verpflichtungscharakter und schlägt das Diskursangebot aus. Interessant hierbei ist, dass er dabei eine ad-hoc-Deutung der Äußerung des Schülers vornimmt, die in verblüffender Übereinstimmung zu unserer Interpretation steht. Er hat nämlich gesehen, dass der Schüler der Aufforderung, sich zu entschuldigen, nicht nachkommt und bringt dies nun explizit zum Ausdruck. Verblüffend und beeindruckend ist diese Spontan-Interpretation deshalb, weil sie nicht am Schreibtisch, also handlungsentlastet, sondern in der problematischen Situation unter erheblichem Handlungs- und Problemlösungsdruck mobilisiert wird. Insofern führt uns die Interpretation dieses Fallbeispiels ein empirisches Operieren einer pädagogischen Kunst vor Augen. Wir sehen im Folgenden aber auch, dass diese Kunst keine Gewähr für eine Problembeseitigung ist. Denn der Schüler gibt sich damit nicht zufrieden, sondern beharrt auf seinem Standpunkt:

1/L: Lies bitte Deine Hausaufgaben vor.
1/S: Ich habe sie nicht gemacht.
2/L: Darf ich fragen, warum nicht?
2/S: Ich sehe nicht ein, wozu ich Dinge tun soll, die absolut wirklichkeitsfern sind und sowieso nie wieder gebraucht werden.
3/L: Dies ist keine Entschuldigung für die Nichterledigung der Hausaufgaben. Ich erwarte, sie in der nächsten Stunde zu sehen.
3/S: Aber ich kann mit dem Zeugs in meinem Leben nie wieder was anfangen.

Die Situation ist nun repetitiv und hat sich scheinbar in einen unauflöslichen Knoten verstrickt. Was soll der Lehrer jetzt noch sagen? Gelassen bleiben und die bereits gegebene Antwort sinngemäß wiederholen: Trotzdem will ich die Hausaufgaben nächste Stunde sehen? Oder durch Ungeduld und aggressive Tönung versuchen, den Knoten zu durchschlagen und die Szene zu beenden: Jetzt reicht es aber?

4/L: Merkst Du nicht, dass diese Thematik nicht in den Unterricht passt? Wenn Du möchtest, können wir uns gerne nach der Stunde darüber unterhalten. Die Hausaufgaben holst Du bitte nach.

Tatsächlich äußert sich nun unverholen Unmut (merkst Du nicht). Zugleich nimmt der Lehrer nun das Diskursangebot des Schülers, das sich in seiner letzten Äußerung ja bloß noch trotzig artikulierte, in überraschender Weise auf. Zunächst spricht er von einer Thematik, die nicht in den Unterricht passt. Damit signalisiert er, dass das Anliegen des Schülers lediglich inhaltlich und situativ, nicht grundsätzlich abgewiesen wird. Denn der Unterricht wird damit implizit als Stätte des Diskurses akzeptiert; aber eben nicht desjenigen Diskurses, den der Schüler gerade führen will. Des Weiteren weist der Lehrer demjenigen Diskurs, den der Schüler führen will, einen außerunterrichtlichen Ort zu und bietet sich als Diskurspartner an. Die Hausaufgabenverpflichtung bleibt davon unberührt.
Bemerkenswert ist, dass es dem Lehrer gelingt – wohlbemerkt in Reaktion auf eine „renitent-trotzige“ Verweigerungshaltung des Schülers – auf das explizit geäußerte Anliegen des Schülers zurückzukommen. Er nimmt den Schüler ernst, indem er dessen Anliegen ernst nimmt. In seiner Äußerung hat er zum Ausdruck gebracht, dass der Unterricht sehr wohl die Stätte einer diskursiven Anerkennung sein kann. Einmal dadurch, dass er implizit in Rechnung stellt, dass es Themen gibt, die in den Unterricht passen; zum zweiten dadurch, dass er auf einen außerunterrichtlichen Ort des Diskurses verweist; und schließlich dadurch, dass er überhaupt das explizite Anliegen des Schülers aufnimmt und ihn nicht etwa zum Gegenstand der Thematisierung unterstellter, „eigentlicher“ Motive macht (Du willst doch nur stören; Du bist einfach nur zu faul, die Hausaufgaben zu machen, etc.).

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