Falldarstellung
Eine im Hauptstudium befindliche Lehramtsstudentin beschrieb Erfahrungen aus ihrem Praktikum so:
„Und dann hatten sich (zwei Schüler; die Verf.) beschimpft oder wie das war. Auf jeden Fall stellte einer dann den Stuhl auf den Tisch und setzte sich dann so oben drauf. Und dann dacht ich, o.k., und jetzt kommst du mit diesem Menschenbild (das sie neu an der Universität erworben hatte; die Verf.). Wie kriegst du das jetzt überein, indem du nicht sagst, ok, also, wenn du jetzt den Stuhl nicht vom Tisch nimmst, dann kriegst du keinen Nachtisch, ne? (Sie war an einer Schule mit Mittagsangebot; die Verf). Also das war in dieser Klasse die gängige Praxis: wenn du dich jetzt nicht hinsetzt, dann kriegst du den Nachtisch nich. Was eben eigentlich gegen meine Überzeugung total verstößt, aber in diesem Moment war´s eigentlich ganz klar: Wenn du jetzt hier nicht einschreitest, dann kann das eskalieren…. Dieses Druckmittel Nachtisch, also das hab ich dann schon dieses eine oder andere Mal auch angewendet (…) (Ich) dachte, aber ich kann jetzt die Struktur nicht ändern (…), ich hatte da vielleicht auch nicht den Mut dazu, das irgendwie so durchzuführen und bin einfach die einfachere Schiene mit dem Nachtisch gegangen.“
Interpretation
Dieser Rückblick der Studentin auf Erfahrungen in der ersten Ausbildungsphase verweist auf die Getrenntheit des Wissenschaftswissens und des Praktikerwissens. Die Studentin kann in der konkreten Handlungssituation das Wissen, das sie an der Universität erworben hat, nicht umsetzen. Die von der Studentin im Studium erworbenen Kognitionen (das neue Menschenbild) werden also nicht angewendet; sie sind nicht handlungsleitend.
In der Darstellung der Studentin schwingt auch Kritik an der praxisfernen universitären Ausbildung mit. Diese Kritik teilt sie mit vielen anderen Lehramtsstudierenden, mit ReferendarInnen, JunglehrerInnen und berufserfahrenen LehrerInnen, die ebenfalls den fehlenden Berufspraxisbezug in der ersten Phase der Lehrerbildung beanstanden.
In der Wissensverwendungsforschung haben Dewe und Radtke (1991) darauf hingewiesen, dass im Lehrerberuf zwischen Wissenschaftswissen und beruflichem Handlungswissen eine dauerhafte Differenz besteht. Die Anfänger übernehmen demnach in der Praxis durch Orientierung an Vorbildern, also z.B. an den MentorInnen, historisch bewährte, kollektiv erwirtschaftete Lösungen der aktiven Lehrergenerationen und passen sich damit pädagogischen Konventionen an. Es gelingt ihnen nicht, Wissenschaftswissen in der Praxissituation anzuwenden oder in sie zu transformieren.
Nach dem Fünf-Stufen-Modell der Professionalisierung von Dreyfus und Dreyfus (1986) befindet sich die Studentin auf der Stufe des Novizen, die über gelernte ‚kontextfreie‘ Regeln verfügt. Im Novizenstadium lernt die Anfängerin zwar allgemeine Regeln, Gesetze und Prinzipien, aber ohne kontextuellen oder situativen Bezug. Die Handlungen werden zwar begründet, aber sie sind noch wenig adaptiv und flexibel. In Störungssituationen treten meist Hektik und rigides Verhalten auf.
Erst mit zunehmender Berufserfahrung wandelt sich wissenschaftliches Wissen dann zur professionellen Kompetenz.
Literatur
Dewe, B., Radtke, F.O.: Was wissen Pädagogen über ihr Können? Professionstheoretische Überlegungen zum Theorie-Praxis-Problem in der Pädagogik. Aus: Oelkers, J., Tenorth, H.-E. (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. 27. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik. Weinheim, Basel 1991, 143-162
Dreyfus, H.L., Dreyfus, S.E: Künstliche Intelligenz. Von den Grenzen der Denkmaschine und dem Wert der Intuition. Reinbek bei Hamburg 1986
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