Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Begegnungen auf der Seins-Ebene

12.02.03
Herr Hofstätter war in der ersten Mathestunde weniger streng und konsequent, machte ein paar Späße mehr etc., aber die Klasse war sehr laut. In der zweiten Stunde wurde es immer lauter. Bis auf 2 SchülerInnen hörte niemand zu. Herr Hofstätter unterbrach seine Erklärungen und wartete ab, aber die Klasse bemerkte nicht einmal, daß er aufgehört hatte zu reden. Er packte seine Sachen und beendete vorzeitig die Stunde. Ziemlich wütend verließ er die Klasse. „Okay bis zur nächsten Mathestunde.“ Als er die Tür schloß, lachte die Klasse erst einmal laut, dann waren alle sehr verwirrt: „Was war denn jetzt?“ „Wieso ist er denn gegangen?“ „Verstehst Du das?“ Als ich daraufhin ins Lehrerzimmer kam, sagte er:
„Das war falsch, oder? Ich hätte ein paar rausschmeißen sollen.“ Ich sagte, daß ich seine Entscheidung nachvollziehen könne, denn wirklich niemand war aufmerksam. Er sei ja in der ersten Stunde eindeutig auf die Klasse zugegangen (in Bezug auf die Umfrage, was für einen Unterricht sich die SchülerInnen wünschen), aber die Klasse habe ihren Teil der Abmachung eben nicht erfüllt (leise zu sein, mitzuarbeiten, Fragen zu stellen etc.). Herr Hofstätter war so wütend, daß er gleich einen Test vorbereitete, den er in der nächsten Mathestunde schreiben lassen will, über den Stoff, den er diese Stunde erklärt hatte, ohne daß ihm jemand zugehört hatte.

In dieser Fallbeschreibung geht Herr Hofstätter auf die Klasse zu, was sich dadurch dokumentiert, dass er weniger streng und konsequent unterrichtet, ein paar Späße mehr macht etc. Die Späße verdeutlichen, dass er den SchülerInnen mit Entgegenkommen und Sympathie begegnet. Diese erwidern sein Entgegenkommen aber auf keine adäquate Art und Weise. Im Gegenteil: sie werden zunehmend lauter. In der Reaktion von Herrn Hofstätter wird der sequentielle Verlust seiner Sympathie gegenüber der Klasse 9b ersichtlich. Dass seine Sympathie nur sequentiell unterbrochen ist, zeigen die anschließenden Zweifel an seinem Vorgehen: „Das war falsch, oder? Ich hätte ein paar rausschmeißen sollen.“ In seiner Wut bereitet er einen Test vor, den er in der nächsten Mathematikunterrichtsstunde schreiben lässt, aber nicht benotet, weil er so schlecht ausfällt. Bis zur Korrektur des Tests war seine Wut also bereits abgeklungen und seine Grundstimmung von Sympathie zu den SchülerInnen prägt wieder sein Handeln. Mit dem Test wollte er der Klasse zeigen, dass sie sich solch ein Verhalten nicht leisten kann. An der verwirrten Reaktion der SchülerInnen lässt sich erkennen, dass die Klasse sich nicht bewusst war, dass ihr Verhalten gegenüber dem Lehrer absolut inakzeptabel war. Insofern bewirkte das Verlassen der Klasse einen durchaus sinnvollen, weil vor allem deutlich zu spürenden Bruch. Etwas Außergewöhnliches war geschehen, das die Aufmerksamkeit der Klasse zwangsläufig über die Verwirrung zu einer Reflexion über das eigene Verhalten führte. Diese Sequenz zeigt aber auch, dass der Verlust von Sympathie nicht gleich Antipathie erzeugt. Sympathische Beziehungen können gestört bzw. unterbrochen werden, ohne dass die Sympathie dabei dauerhaft verloren geht.

07.10.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Ah, den hast Du nicht. Herr Pilz?
Manuela: Den mag ich net, weil… ich weiß net warum ich jemand net mag, abber ich find´ der erklärt net so gut und…ich weiß es net, ich mag ihn net.
(…)
I: Mm, was ist mit der Frau Langhans? Was sagst Du dazu?
Manuela: Ich weiß net, die mag ich net, weil – ja, sie kann vielleicht nix dafür, daß sie ä bissel schüchtern is´ odder so, abber ich denk´ ma muß sich net alles gefalle lasse odder so. Die sollt´ mal ä bissel mehr durchgreife´ odder so.

Manuela kann ihre Antipathie zu Herrn Pilz nicht erklären. Diese beruht nicht nur auf dem Vorwurf des Versagens in seiner Lehrer-Rolle („der erklärt net so gut“), sondern gründet in Dimensionen des Seins. Manuela weiß selbst nicht um die Gründe ihrer Antipathie, ein deutliches Indiz für die unbewußt negativen Aspekte bei der Begegnung mit dem Lehrer auf der Seins-Ebene.
In Bezug auf Frau Langhans dagegen basiert Manuelas Antipathie in der Art der Übernahme ihrer Lehrerinnen-Rolle, was sich in Manuelas rationalisierten Begründungen und Kritikpunkten manifestiert: „sie kann vielleicht nix dafür, daß sie ä bissel schüchtern is´ odder so, abber ich denk´ ma muß sich net alles gefalle lasse odder so. Die sollt´ mal ä bissel mehr durchgreife´ odder so“. Der Umkehrschluss der bereits oben thematisierten Regel, dass LehrerInnen, die SchülerInnen in ihrer LehrerInnen-Rolle überzeugen, im besten Falle mit deren Sympathie belohnt werden, legt nahe: LehrerInnen, die SchülerInnen in ihrer LehrerInnen-Rolle nicht überzeugen, werden im schlimmsten Falle mit Antipathie belegt.

23.09.02 dritte Stunde, BK-Bereich
I: Wie findest Du Frau Linzenmaier?
Anna: Eigentlich is se schon… also so als Mensch isse nett, abber als Lehrer selber so so ä bissel arg streng, also sie könnt´ ä bissel mehr Spaß versteh´n unn sie bevorzugt a manche von de Klasse. Also unbewußt, abber ´s merkt ma halt.
I: Wen zum Beispiel?
Anna: Manuela und Tina.
I: Weil die hat se schon vorher gehabt, oder?
Anna: Ja, die hat se schon mal g´habt unn…

Anna unterscheidet deutlich zwischen der LehrerInnen-Rolle und dem LehrerInnen-Sein von Frau Linzenmaier. Sie vermisst an Frau Linzenmaiers LehrerInnen-Rolle Elemente des Seins („ sie könnt´ ä bissel mehr Spaß versteh´n“) und bemängelt die ungleiche Verteilung der Seins-Aspekte, die vor allem Manuela und Tina gelten. Obwohl Anna ihre Lehrerin Frau Linzenmaier „so als Mensch“ nett findet, wird ihre Sympathie durch die mangelnden Begegnungen mit Frau Linzenmaier auf der Seins-Ebene geschmälert.

23.09.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Was ist schlecht beim Englischunterricht bei der Frau Linzenmaier?
Deria: Also beim Herrn Krüger, war Englisch, des hat immer voll Spaß gemacht unn bei der Linzenmaier, ma darf nix, man darf nie was verbessern und Vokabeln ins Vokabelheft schreiben, des mußte ich schon seit der 6ten oder 7ten Klasse nicht mehr machen unn des is dann… die behandelt uns richtig wie kleine Fünftklässler oder Sechstklässler oder so, schon irgendwie blöd und des macht auch irgendwie kein Spaß des Englisch.
I: Hast Du des Gefühl, daß sie Dich dann auch net Ernst nimmt, wenn sie Euch so behandelt?
Deria: (hustet) Net ernst nimmt, abber – wie die Anna schon g´sacht hat – die bevorzugt halt än paar, die Manuela und die Tina unn dann denkt man sich halt die kann einen überhaupt net leiden, oder wenn ma se was frägt, dann motzt se immer gleich voll rum, voll unfreundlich.

Die von der Klasse wahrgenommene Bevorzugung von Manuela und Tina durch Frau Linzenmaier erzeugt bei den SchülerInnen den Eindruck, dass Frau Linzenmaier ihnen gegenüber eine Antipathie hegt („dann denkt man sich halt die kann einen überhaupt net leiden“). Deria kritisiert aber nicht nur die Unfreundlichkeit Frau Linzenmaiers, sondern auch deren Scheitern in ihrer LehrerInnen-Rolle („schon irgendwie blöd und des macht auch irgendwie kein Spaß des Englisch“). Professionelles LehrerInnenverhalten beinhaltet den Anspruch einer zumindest weitgehend allgemeinen Gleichbehandlung aller SchülerInnen. Diesem Anspruch genügt Frau Linzenmaier nicht. „Streng und gerecht“, dem könnte die Klasse noch zustimmen, „streng und ungerecht“ verdirbt ihr den Spaß am Lernen. Frau Linzenmaier begegnet den SchülerInnen sehr wohl auf der Seins-Ebene, allerdings erhalten nur Manuela und Tina Sympathiebezeugungen, die anderen SchülerInnen – wie Anna und Deria – fühlen sich ungerechter Weise benachteiligt.

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