Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Kontakt-Schwierigkeiten

Die Interaktionen zwischen LehrerInnen und SchülerInnen werden durch […] Dualismus eingeschränkt, viele Verhaltensoptionen verfallen. Jeder Interaktionspartner bzw. jede Interaktionspartnerin weiß um seine bzw. ihre Zugehörigkeit zur jeweiligen Gruppe und den damit einhergehenden Pflichten, Regeln und Umgangsformen.

07.10.02
In einem Gespräch mit dem Lehrerpraktikanten Christian, sprach ich ihn auf dessen Beliebtheit bei den SchülerInnen an, die ihn sogar um seine Handy-Nummer baten. Erantwortete: „Ich hab´ kein Problem damit Kontakt zu den Schülern zu haben. Wenn ich malLehrer bin, dann ist das natürlich anders.“

Folgerichtig zu Ende gedacht, besagt diese Aussage von Christian, dass es als notwendige Voraussetzung zum Lehrersein gehört, „ein Problem damit zu haben, Kontakt mit den Schülern zu haben“. Bereits als Lehrerpraktikant weiß Christian, dass das zum Rollenverhalten des Lehrers nicht passt. Als Praktikant darf er, was ihm als Lehrer nicht mehr möglich sein wird: auf der Seins-Ebene in einem unmittelbaren Kontakt mit SchülerInnen stehen.

02.10.02
Herr Berger kam zur dritten Stunde zu spät, weil – und das teilte er der Klasse mit – die Klassenkonferenz so lange gedauert hatte. Die SchülerInnen wollten daraufhin wissen, über was dort geredet worden sei, welche Probleme aus Sicht der LehrerInnen bestehen. Da das Interesse der SchülerInnen so groß war, stellte Herr Berger diese Stunde zur Verfügung, um mit den SchülerInnen offen eine Diskussion über die Schwierigkeiten der Klasse zu führen.
Die SchülerInnen sagten, daß sie sich wünschten die LehrerInnen würden den Dialog mit ihnen suchen: „man kann ja über alles reden.“ Die meiste Zeit redeten sie vor allem über ihre Probleme mit Frau Langhans. Daß sie bei ihr nicht das Gefühl hätten, daß sie die Klasse respektiere: „Also verhalten wir uns ihr gegenüber auch nicht mit Respekt.“ Die SchülerInnen wollten unbedingt wissen, was in der Klassenkonferenz besprochen wurde.
Sie gaben an, sich ausgeschlossen zu fühlen, wenn LehrerInnen über sie redeten, ohne daß sie davon erführen bzw. teil hätten. Herr Berger gab ihnen diesbezüglich aber keine Auskunft. Er sagte, das könne nur der Klassenlehrer machen. „Aber ich spreche gerne mit Euch über die Situation in der Klasse.“

In dieser Stunde gehen die SchülerInnen der Klasse 9b eindeutig auf den Französisch-Lehrer Herrn Berger zu, suchen das Gespräch mit ihm. Sie wollen von den LehrerInnen nicht ausgeschlossen werden: „man kann ja über alles reden“. „Alles“ impliziert Seins- und Rollen- Ebene. Sie machen ein Zugeständnis, indem sie ehrlichen Kontakt zu Herrn Berger suchen und ausdrücken, dass sie es nicht gut finden zu anderen LehrerInnen keinen ehrlichen Kontakt haben zu können. Indem Herr Berger die Stunde zur Verfügung stellt, um mit den SchülerInnen über bestehende Schwierigkeiten zu sprechen, erkennt er diese Ehrlichkeit an und geht seinerseits auf die Klasse zu. Aber er hält sich gleichzeitig zurück, begegnet ihnen nicht völlig offen. Die formale Organisation innerhalb der Institution Schule lässt dies auch nicht zu. Es ist Sache des Klassenlehrers mit der Klasse über die Ergebnisse der Klassenkonferenz zu sprechen bzw. ihr diese ggf. bekannt zu machen. Selbst wenn Herr Berger sich aufgrund seiner persönlichen Konstitution durchaus in der Lage sehen würde, auf der Seins-Ebene unmittelbaren Kontakt zur Klasse herzustellen, so verbietet ihm dies dennoch seine Rolle als Lehrer aus rein formalen Gründen.

05.11.02
Herr Hofstätter gab die Arbeit zurück. Der Durchschnitt betrug 4,3. Wegen der schlechten Klassenarbeit suchte er das Gespräch mit der Klasse, fragte sie, was sie ändern wolle. Es gab keine Vorschläge. Herr Hofstätter kam dann auf die ständige Unruhe in der Klasse zu sprechen, sagte, daß jeder jederzeit Fragen stellen und sich an ihn wenden könne, wenn´s Probleme gäbe.

Der Klassenlehrer versucht über die Probleme im Mathematikunterricht zu reden und erhält keine Antwort. Die Erklärung für das Stillschweigen der SchülerInnen liegt auf der Hand: sie sind es einfach nicht gewöhnt, dass LehrerInnen auf einer Augenhöhe mit den SchülerInnen das Gespräch suchen und eine gemeinsame Problembewältigung anstreben. Es ist im Schulalltag, der durch feste Machtstrukturen und die Solidarität der antagonistischen Gruppe geprägt wird, nicht normal, dass SchülerInnen und LehrerInnen – außerhalb der reinen Unterrichtsinteraktion im Klassenzimmer – reden oder gar ein Problem zusammen bewältigen.

Kontakt-Verzicht

Der Dualismus und die ihm immanenten Kontakt-Schwierigkeiten zwischen SchülerInnen und LehrerInnen führen schließlich im Extremfall zum völligen Verzicht auf Kontakt, sowohl von Seiten der SchülerInnen als auch von Seiten der LehrerInnen.

07.10.02
Während des Elternabends beklagte sich Herr Ulmann über die Klasse. Er schilderte den Eltern eine Episode aus dem Physikunterricht der letzten Woche: In Abständen von zehn Minuten sei dreimal ein Mäppchen von einem Tisch gefallen, was einen ziemlichen Lärm machte und ihn in seiner Arbeit störte. Herr Hofstätter fiel ihm ins Wort und sagte: „Ja klar, das war abgekartert – drei mal hintereinander!“

Herr Hofstätter muss weder bei dem von Herrn Ulmann geschilderten Vorfall anwesend gewesen sein, noch mit den SchülerInnen darüber geredet haben – einzig aus der Tatsache, dass das Mäppchen dreimal gefallen war – wusste er, dass es sich um eine „abgekarterte“ Aktion handelte, mit der SchülerInnen den Unterricht stören wollten. Der Verzicht auf Kontakt verstärkt einen Automatismus, der nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung der „anderen Seite“ Merkmale zuweist. Wenn das Fallen des Mäppchens als bewusste und beabsichtigte Störung und Provokation gewertet wird, wird der Lehrer das Geräusch, das dabei entsteht, natürlich auch anders – wahrscheinlich intensiver und störender – wahrnehmen. Er wird vielleicht geradezu darauf warten, dass es wieder fällt. Missverständnisse und Annahmen mutieren so zu Tatsachen. Da ich bei der geschilderten Unterrichtssequenz anwesend war, weiß ich, dass kein Mäppchen absichtlich fallen gelassen wurde und die Störung wirklich zufällig und ohne böse Absicht erfolgte.

07.10.02 vierte Stunde, neue Aula
I: Mmh. Würdest Du sagen Lehrer kriegen mit, was sich innerhalb der Klasse abspielt?
Manuela: Nee!
I: Ähm, hätt´ sie (Frau Langhans) da eingreifen müssen, wo die Jungs da an die Tafel des mit dem Döner und so gehängt haben? Erinnerst Du Dich d´ran?
Manuela: Ja…ja, abber ich denk´ net, daß sie hätt´ eingreife soll´n, weil ich denk´ des geht die net so viel an.

Im Interview mit Manuela wird bestätigt, dass SchülerInnen und Lehrerinnen eigentlich aneinander vorbei leben. LehrerInnen bemerken nach Manuelas Ansicht nicht einmal, was für Interaktionen zwischen den SchülerInnen während des Unterrichts stattfinden. Sie meint Frau Langhans gingen diese klasseninternen Prozesse „net so viel an“, womit sie den Dualismus bestätigt: SchülerInnen-Sein den SchülerInnen; LehrerInnen-Sein den LehrerInnen – jeder lebt im eigenen Seinsbereich, treffen kann man sich nur als Rollenträger.

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