Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Frau Linzenmaier

Frau Linzenmaier, OStRin, unterrichtete die Klasse 9b im Fach Englisch im ersten Jahr. Nur Mona und Tina kannten sie bereits aus dem Englischunterricht in Klasse 5 und 6. Frau Linzenmaier war bei den SchülerInnen bekannt für ihre Strenge. Die SchülerInnen nannten sie deshalb auch „Die Dominanz“. Frau Linzenmaier unterschied sich von anderen LehrerInnen vor allem durch ihren persönlichen „Regelkatalog“, dem die SchülerInnen kompromisslos Folge leisten mussten. So mussten die SchülerInnen zum Beispiel zum Unterrichtsbeginn aufstehen und gemeinsam „Good morning, Mrs. Linzenmaier“ oder „Hello, Mrs. Linzenmaier“ sagen, gleich einem choralen Gruß militärischer Einheiten. Vokabeltests durften nur auf großen einzelnen und linierten Blättern geschrieben werden, da sie von Frau Linzenmaier ansonsten mit der Note 6 bewertet wurden. War das Datum nicht in englischer

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Schreibweise am oberen rechten Rand angefügt worden, so wurde den SchülerInnen hierfür ein Fehler angerechnet.

17.10.02
Als Frau Linzenmaier auf ihr „Hello, everybody“ nur ein eher leise murmelndes „Hello, Mrs. Linzenmaier“ von den SchülerInnen als Antwort bekam, mußten diese ihren Gruß wiederholen. Frau Linzenmaier kommentierte: „So einen lahmen Haufen wie Euch hab´ ich noch nie gehabt.“

Diese kurze Sequenz zeigt die übergeordnete Stellung der Lehrerin, die nicht nur die Begrüßungsformel inhaltlich vorgibt, sondern diese auch im Hinblick auf ihre Tonalität und Lautstärke bewertet. Da der Lehrerin die erste Begrüßung nicht ausreicht, lässt sie die SchülerInnen den Gruß wiederholen. Als ihr auch die zweite Begrüßung missfällt, kommentiert sie das ganze Prozedere abfällig und bezeichnet die Klasse als einen „lahmen Haufen“. Die SchülerInnen haben in dieser Situation keine Entscheidungs- bzw. Handlungsmöglichkeit. Obwohl die Begrüßungsformel weder in der Hausordnung festgelegt, noch in irgendeiner Weise Bestandteil des Lehrplans ist, sondern nur den persönlichen Wünschen Frau Linzenmaiers entspringt, müssen die SchülerInnen ihrem Wunsch Folge leisten, d.h. exakt jene Worte benutzen, die Frau Linzenmaier in der ersten Englischunterrichtsstunde vorgab, und dies so oft wie Frau Linzenmaier es wünscht. Gerade in der geforderten Wiederholung des Grußes kommt die Unnatürlichkeit dieser Interaktion zum Ausdruck. Die Situation erinnert an den Gruß von Goesslers Hut im Wilhelm Tell. Es geht eben gerade nicht darum, der Lehrerin einen schönen und angenehmen Vormittag zu wünschen – vielmehr soll der Gruß ein Ritual werden, der zu jedem Stundenbeginn ein deutliches Signal setzt, wer vor wem das Haupt zu beugen hat bzw. sich zu erheben hat, wenn das Klassenzimmer betreten wird. Wird Frau Linzenmaier von einer Kollegin bzw. einem Kollegen begrüßt, so ist es sehr unwahrscheinlich, dass sie diese, mit der Begründung, dass der Gruß zu „lahm“ sei, zu einer Wiederholung auffordern wird.

08.10.02
Beatrice wurden in einem Vokabeltest zwei Fehler angerechnet, weil Frau Linzenmaier die Handschrift zu klein war und sie angab, die Worte nicht lesen zu können: „Ich will das ja nicht mit der Lupe lesen.“ Da Beatrice sich darüber empörte, fragte sie in der folgenden Stunde die Geschichtslehrerin Frau Biedermann, ob sie die beiden Wörter lesen könne, die dies bejahte.

Nun könnte man sagen, eine schöne leserliche Schrift ist durchaus ein den SchülerInnen zu vermittelndes Kulturgut – schließlich gab es früher „Schönschrift“ als Unterrichtsfach und wurde lange Zeit im Zeugnis gesondert benotet. Worum es jedoch hier geht, ist etwas anderes: Die Schrift der Schülerin muss auf das Sehvermögen der Lehrerin abgestimmt werden. Die Lehrerin will keine Lupe und keine Lesebrille benutzen, obwohl ihr das sicherlich angeraten sein sollte, da mehrere SchülerInnen und auch die Lehrerin für Geschichte – ohne Lupe – die Worte lesen und in ihrer Richtigkeit bestätigen konnten. Welche bessere Demonstration von Macht könnte es geben, als die Definitionsmacht darüber, was richtig oder falsch ist: auch wenn die Worte richtig geschrieben sind, sind sie doch falsch, wenn Frau Linzenmaier es will.

17.09.02
Über ihre Korrektur von Übersetzungen, sagte Frau Linzenmaier: „Wenn ich schlecht gelaunt bin, dann streiche ich mal alles an“.

Die Aspekte ihrer Macht sind bei Frau Linzenmaier deswegen so deutlich, weil sie sie so offen zelebriert. Mit diesem Ausspruch führt sie den SchülerInnen geradezu vor Augen, dass ihr Handeln keiner Kontrolle unterliegt. Selbst bezüglich der Korrektur von Klassenarbeiten gibt sie offen zu, die für gewöhnlich erwarteten objektiven Maßstäbe und Kriterien durch ihre subjektive Verfassung zu ersetzen. Unabhängig ihrer tatsächlichen Vorgehensweise bei der Korrektur von Klassenarbeiten, die sich durchaus an der englischen Grammatik und Rechtschreibung orientieren dürfte, dient diese Bemerkung als Demonstration von Macht, als Zurschaustellung von Willkür, die keine Rücksicht nehmen muss auf Gründe und keiner anderen Legitimation bedarf als der, eben Frau Linzenmaier zu sein – die Lehrerin.

19.11.02
Micha hatte die Englischhausaufgaben auf einem karierten Blatt. Als Frau Linzenmaier an ihm vorbei lief und das karierte Blatt erblickte, sagte sie: „Hausaufgaben auf einem karierten Blatt sind nicht existierende Hausaufgaben. Das akzeptiere ich nicht.“

Dieser Auszug aus meinen Feldnotizen übertrifft die bereits zuvor angeführte Aussage von Frau Linzenmaier hinsichtlich ihres Machtanspruches noch um ein erhebliches Maß: hier wird nicht nur die Definitionsmacht darüber ausgeübt, was falsch oder richtig ist, sondern es wird über das blanke Sein der Dinge selbst gerichtet. Obwohl die Hausaufgaben von Micha auf ein Blatt Papier geschrieben auf seinem Tisch liegen, konstatiert Frau Linzenmaier, dass sie nicht existieren, weil „Hausaufgaben auf einem karierten Blatt sind nicht existierende Hausaufgaben“. Explizit formuliert: Was existiert oder nicht, bestimmt Frau Linzenmaier. Zusammenfassend bleibt zu sagen, dass kein anderer Lehrer bzw. keine andere Lehrerin so offenkundig und bewusst einen fast „totalitären“ Machtanspruch verbalisierte. Dass Frau Linzenmaier den Spitznamen „die Dominanz“ hatte, zeigt sehr anschaulich, dass ihre Demonstration durchaus den intendierten Effekt hatte, auch wenn die (Ehr-)Furcht der SchülerInnen vor der „Dominanz“ auch immer ein wenig von Spott durchsetzt war.

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