Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten
Einstellungen und Anforderungen
02.10.02
In der kleinen Pause mußte die Klasse sich in der Neuen Aula einfinden, um ein Klassenfoto anfertigen zu können. Als ich alleine im Klassenzimmer zurück blieb, kam Herr Hofstätter zu mir und sagte, daß die Klasse so schlimme Lücken in Mathe habe, daß man das den Eltern auch sagen müsse und wenn ihre Kinder nicht mitkämen, daß sie dann eben hier falsch seien – „immerhin sind wir auf einem Gymnasium hier“.
Aus dieser Feldnotiz geht hervor, dass dieser Produktionsablauf, d.h. das Vermitteln von Lerninhalten im Unterricht bei LehrerInnen die Entstehung kontextgebundener Fragen verhindert. Herr Hofstätter fragt nicht nach den Ursachen, weshalb die Klasse 9b „so schlimme Lücken in Mathe“ hat, weil Fragen dieser Art im Produktionszusammenhang irrelevant erscheinen. Was zählt sind die Ergebnisse, d.h. das Maß des vorhandenen Wissen der SchülerInnen, das von LehrerInnen eben dieses Gymnasiums vermittelt wurde. Ist das mathematische Fachwissen derart lückenhaft wie im vorliegenden Fall der Klasse 9b, sieht Herr Hofstätter das Produktionsziel gefährdet, das aus einem erfolgreich abgelegten Abitur besteht. Die in vielen Fällen einzig mögliche Konsequenz um Störfaktoren und Gefahren für dieses Ziel zu beseitigen sind der Schulausschluss. Oder wie Herr Hofstätter formulierte: „daß man das den Eltern auch sagen müsse und wenn ihre Kinder nicht mitkämen, daß sie eben falsch sind – immerhin sind wir auf einem Gymnasium hier.“ Die Pointierung des Gymnasiums, im Sinne intensiver Produktivität im Vergleich mit anderen Schulformen, bestätigt die Ergebnisse von PISA, aus denen hervorgeht, dass vor allem SchülerInnen an Gymnasien die einschränkende Ausrichtung auf den Wissenswert und die damit einhergehenden entpersonalisierenden Verhältnisse konstatieren. D.h. keine andere Schulform ist im Vergleich zum Gymnasium in solchem Ausmaß auf standardisierten Wissenserwerb ausgerichtet und keine andere Schulform verwendet das Werkzeug der Selektion so exzessiv.
04.02.03
Im Auto erzählte mir Herr Hofstätter wie anstrengend der Beruf des Lehrers sei, weil man permanent stimmlich gefordert sei und die ganze Zeit voll anwesend sein müsse. Während man beispielsweise bei einem „Schreibtischjob“ mal für fünf Minuten abdriften könne, könne man das als Lehrer den ganzen Schultag lang nicht.
Die große Verantwortung des Lehrers bzw. der LehrerIn den Produktionsablauf organisieren, kontrollieren und stabilisieren zu müssen, verlangt permanent Aufmerksamkeit und stimmlichen Einsatz. Um die Position des/der ProduktionsleiterIn, die voraussetzt von den SchülerInnen als Kontrollinstanz anerkannt zu werden, durchsetzen zu können, müssen LehrerInnen „die ganze Zeit voll anwesend sein“. Ein mit dem „gedanklichen Abdriften“ des Lehrers einhergehender Kontrollverlust hätte Folgen, wie sie auch in der oben bereits beschriebenen Deutschstunde von Frau Langhans (BK und Musik) zu beobachten waren.
19.03.03
Herr Hofstätter erzählte mir, daß er sich über den 13er GK, den er gestern vertretungsweise unterrichte hatte, Gedanken gemacht habe, da diese SchülerInnen solch extreme motorische und körperliche Schwächen hätten. „Es ist immer häufiger zu beobachten, daß Schüler einfach überhaupt kein Gefühl für den Ball haben, für körperliche Bewegungsabläufe etc. Da muß man sich wirklich fragen, was in den 9 Jahren passiert ist.“
Das Handeln der LehrerInnen unterliegt gesetzlichen Bestimmungen sowie anderen Verordnungen und die amtlichen Lehrpläne haben natürlich Priorität vor dem persönlichen Interesse und den beruflichen oder privaten Erfahrungen der LehrerInnen. Während meines Feldaufenthaltes bin ich immer wieder Situationen begegnet, die gezeigt haben, dass es durchaus ein Spannungsverhältnis zwischen diesen beiden Faktoren – der persönlichen Überzeugung und der Vorschrift – geben kann, vor allem wenn das gewünschte Lernziel nicht erreicht wird. Die Aussage Herrn Hofstätters „da muß man sich wirklich fragen, was in den 9 Jahren passiert ist“ impliziert das Scheitern der Produktion in jeglicher Hinsicht. Alles was der Produktionsprozess des 13er Grundkurses Sport hervorgebracht hat, sind SchülerInnen mit motorischen und körperlichen Schwächen. Worin die Ursachen hierfür liegen, ist vorliegender Sequenz nicht zu entnehmen. Aber in ihr dokumentiert sich der Zweifel Herrn Hofstätters: solche SchülerInnen in der 13ten Klasse zu sehen, stellt seine Arbeit und die seiner KollegInnen in Frage. Neun Jahre im Produktionsprozess und es gibt kein erkennbares Produkt.
19.03.03
In der folgenden Mathestunde machte Herr Hofstätter vor allem Stillarbeit, weil er – wegen seiner Erkältung – kaum noch sprechen konnte. Die SchülerInnen verglichen ihre Aufgaben und halfen sich gegenseitig. Wenn es dennoch Probleme gab, kam Herr Hofstätter, erklärte und half ihnen weiter. Er lief die ganze Zeit durch die Reihen. Eine Schülerin warf er ein Stück Kreide zu, weil sie nicht mitschrieb und rechnete. Sie sollte daraufhin nach vorne an die Tafel kommen: „Ne Herr Hofstätter, bitte nicht – ich kapier´des net.“ „Haja, eben drum. Komm wir machen´s zusammen an der Tafel – wir beide – komm!“ Sie ging dann tatsächlich an die Tafel und arbeitete mit Herrn Hofstätter die Aufgabe Schritt für Schritt durch.
Die bereits erörterte Anforderung der stetigen Präsenz, die an LehrerInnen gestellt wird, nimmt Herr Hofstätter sehr ernst. Wie aus dieser Feldnotiz hervorgeht, arbeitet er, selbst wenn er krank ist. Obwohl er kaum sprechen kann, unterrichtet er. Indem er sich der Unterrichtsmethode der Stillarbeit bedient und so seine Stimme schont, weiß er den Unterricht seiner körperlichen Verfassung anzupassen. Herr Hofstätter überzeugt als Lehrer durch seine Bemühung stets sein Bestes zu geben, selbst wenn er krank ist, was auch in dieser Sequenz dichter Beschreibung zum Ausdruck kommt: er entdeckt eine Schülerin, die nicht mitarbeitet, weil sie „des net kapiert“, fordert sie auf nach vorne an die Tafel zu kommen, nimmt ihr durch Zuspruch die Angst davor, macht ihr Mut, versichert ihr seine Mithilfe und rechnet schließlich geduldig die Aufgabe Schritt für Schritt zusammen mit der Schülerin durch. Er kann sie überzeugen und motivieren.
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