Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Entscheidungen aus Sympathie

11.11.02
Die BK-Stunde stellte Herr Guppi der Klasse zur Verfügung, um über die geplante „halboffene“ Ganztagsbetreuung zu reden. Conny und Torben, die Klassensprecher, stellten die Ergebnisse des SMV-Seminars vor (1). Es wurde das Für und Wider diskutiert. Die Veränderungen, die dieses Angebot nach sich zieht, sind: Mittagessen, Mittagspause, Busfahrpläne verändern, Hausaufgabenbetreuung etc. Herr Guppi sagte, daß er dagegen gestimmt habe, weil „Ihr kommt im Dunkeln und geht im Dunkeln. Wann habt ihr dann Freizeit?“

Die Entscheidung Herrn Guppis gegen die „halboffene“ Ganztagsbetreuung zu stimmen, gründet auf seiner Sympathie zu den SchülerInnen. Aus Sorge, Schule könne dann zu viel Raum und Zeit im Leben der SchülerInnen einnehmen („Wann habt ihr dann Freizeit?“), lehnt er die Pläne zur Umstrukturierung ab. Während sich andere LehrerInnen vor allem um organisatorische Probleme und zusätzliche Arbeit Gedanken machen, die das Angebot der „halboffenen“ Ganztagsbetreuung mit sich bringt, gilt Herrn Guppis Aufmerksamkeit dem Wohl der SchülerInnen.

30.01.03
Am Ende der Stunde fragte eine Schülerin, ob sie mal zu Herrn Hofstätter nach Hause kommen und einen Film mit der Videokamera drehen dürfen – für den Abischerz (2). „Wann kommt ihr dann? Um 2Uhr nachts?“ „Nene, schon mittags. Sie bekommen dann auch eine Aufgabe.“ „Ja, okay“, willigte Herr Hofstätter ein.

Würden die SchülerInnen Herrn Hofstätter nicht mögen, würden sie ihn sicherlich nicht fragen, ob sie ihn Zuhause mit der Videokamera besuchen dürfen. Würde umgekehrt Herr Hofstätter seine SchülerInnen nicht mögen, würde er sich nicht dazu entschließen in das Vorhaben einzuwilligen.
Wieso sollte er? Seine Zustimmung ist ein freiwilliger Freundschaftsdienst, schließlich kommen ungewisse Dinge auf ihn zu. Da der Besuch in irgendeinem Zusammenhang mit dem von den AbiturientInnen organisierten Abischerz steht, bei dem es darum geht LehrerInnen einen Streich zu spielen, kann Herr Hofstätter die Intention erahnen. Obwohl er weiß, dass seine Einwilligung unangenehme Konsequenzen für ihn haben kann, bringt er seinen SchülerInnen offensichtlich genügend von Sympathie getragenes Vertrauen entgegen, um einzuwilligen.

21.03.03
Ich half Frau Körner beim Aufhängen der Projektzuteilung. Es war interessant zu sehen, daß viele SchülerInnen die Projekte von LehrerInnen wählten, von denen sie auch unterrichtet wurden. Herr Hofstätter beispielsweise hatte in seinem Projekt 13 SchülerInnen aus seiner 9b – sogar Conny, die Schülerin, mit der er die meisten Probleme hatte, war in diesem Projekt. Er meinte dann später, als ich ihn darauf ansprach: „Das ist wohl so eine Art – wie nennt man das – Haßliebe“ und schmunzelte.

Ein starkes Kriterium für die Wahl eines Projektes ist der Lehrer oder die Lehrerin, die das Projekt leitet. SchülerInnen wählen die Projekte häufiger nach LehrerInnen, die sie kennen und die ihnen sympathisch sind, als nach Projekten, die sie möglicherweise interessieren. Die Person des Lehrers bzw. der Lehrerin scheint für SchülerInnen somit von größerer Bedeutung zu sein als ihr Interesse an der Sache. D.h. mit einem Lehrer bzw. einer Lehrerin während der Projekttage intensiv zusammen zu sein und sich gegebenenfalls auf der Seins-Ebene zu begegnen, ist primär von Bedeutung, das Projekt an sich ist sekundär.
Obwohl Conny während des Schuljahres mehrfach mit Herrn Hofstätter aneinander geriet, müssen seine zahlreichen Bemühungen und die Aufmerksamkeit, die er Conny und ihren Problemen entgegenbrachte, auch ein Stück Sympathie in ihr geweckt haben. Weshalb sonst sollte sie aus über 60 Projekten ausgerechnet das von Herrn Hofstätter angebotene favorisieren? Die erfahrene Zuwendung und Ansprache, auch wenn sie inhaltlich nicht immer angenehm gewesen sein mag, hat eine Beziehung geschaffen, die von Conny offensichtlich als emotionaler Kontakt positiv erlebt und gesucht wird.

25.03.03
Die Hälfte des 13er Sport-LKs kam zu spät. Herr Hofstätter wollte noch eine Stunde Theorie machen, weil am Donnerstag der Klausurtermin war. Während Herr Hofstätter einem Teil des Kurses die Theorie erklärte, schauten sich die anderen Fotos an und erzählten. „Ich wollte eigentlich einen Raum im Erdgeschoß, weil das Mädchen, das den Unfall hatte, keine Treppen gehen kann. Ich hoffe das geht vom Lärmpegel hier in der Turnhalle, weil die ja im Moment nicht so motiviert sind. Ist halt für mich eine blöde Situation, weil ich´s ja verstehen kann.“

In dieser Sequenz drückt sich die Sympathie, die Herr Hofstätter für seinen Sport-LK empfindet, in seinem Verständnis für dessen Verhalten aus. Obwohl die SchülerInnen völlig unmotiviert sind, Fotos anschauen und reden während er unterrichtet, ist er nicht ärgerlich, weil er es „ja verstehen kann“. Er macht sich sogar noch Gedanken über den Lärmpegel in der Turnhalle (der Unterricht fand in der Turnhalle statt, weil kein Raum zur Verfügung stand) und über die Schwierigkeiten, die die verletzte Schülerin hat, in die Turnhalle zu gelangen. Er hätte sich deshalb gewünscht, einen Raum im Erdgeschoss organisieren zu können, damit das verletzte Mädchen keine so großen Schwierigkeiten mit den Treppen hat, aber es ließ sich nicht einrichten. Die Voraussetzung, die Herr Hofstätter aufgrund seiner Persönlichkeit offensichtlich erfüllt und die für das Verständnis und die Sympathie, die er für seinen Leistungskurs entwickelt, sicherlich unabdingbar ist, ist ein erhebliches Maß an Empathie.

Fußnoten:

(1) SMV = Schüler-Mit-Verwaltung

(2) Nach bestandenem Abitur feiern die AbiturientInnen den sogenannten „Abischerz“. Ohne Vorankündigung besetzen sie in der Nacht das Schulhaus und erwarten SchülerInnen wie LehrerInnen morgens zu Spielen, Essen, Trinken etc. Der Unterricht für diesen Tag entfällt.

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