Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die Sequenzanalyse: Was der Fall ist

Eingangssequenz

1-L ja

Der Lehrer beginnt seine Rede in dieser Unterrichtsstunde mit „Ja“, so als wolle er

  • bestätigend signalisieren, dass die Voraussetzungen für den Beginn einer Unterrichtsstunde erfüllt sind,
  • sich in einer Situation orientieren, indem er auf eine – latent oder offen – gestellte Frage antwortet und die Herausforderung an sich selbst bestätigt,
  • dem Interakt Vorausgegangenes bestätigen und damit vorerst abschließen, um zu etwas Neuem zu kommen,
  • sich selbst und die Schüler/innen bestätigend ermutigen, gewissermaßen bekräftigen, dass sie sich nun in die Ernsthaftigkeit des Unterrichts zu begeben haben, ihr „Schicksal“ der besonderen Situation zu akzeptieren.

Er macht ein Bemühen deutlich, das aus der Situation erwächst. Möglicherweise ist er unsicher und verkrampft (durch die Gegenwart der Aufnahmetechnik bzw. der Beobachter). Das „ja“ ist wie eine Verlegenheitsgeste, die ihn selbst nun als Akteur ins Spiel und in Schwung bringt, so wie es von ihm als Lehrer erwartet wird.

1-L allen erstmal einen guten Morgen

Er begrüßt die Schüler/innen, so wie er es in jeder Religionsstunde machen würde. Er markiert damit einen Übergang vom informellen Gespräch zum formellen Unterricht. Lediglich das „erstmal“ ist auffällig. Bemüht er sich, die Unsicherheit, Gespanntheit und Verkrampfung zu überspielen, indem er auf eine Formel, ein Ritual zurückgreift, das neutral und unverfänglich ist und Gewöhnlichkeit signalisiert? Oder ist es ein Ausweichen, ein Zurückgehen, die Rettung aus der Peinlichkeit der Situation in die Unverfänglichkeit des Grußes? Er möchte die Stunde so beginnen wie sonst auch, indem „erstmal“ ein „guten Morgen“ gewünscht wird, bevor es zur Sache geht. Fürsorglich greift er auf ein Ritual zurück, das auch die Schüler/innen entlasten und aus dem Druck des Ungewöhnlichen der Situation befreien kann.

((Gelächter))

Das Protokoll verzeichnet Gelächter der Schüler/innen. Warum lachen sie, wenn jemand ihnen einen guten Morgen wünscht? Irgendetwas ist daran unpassend. Es könnte sein, dass die Schüler/innen gewöhnlich nicht vom Lehrer so begrüßt werden; sie amüsieren sich über den alltäglichen Gruß; dass die Tageszeit nicht mehr stimmt, dass es längst Mittag ist oder später Schulvormittag oder auch ein Nachmittag; die Schüler/innen merken die Flucht aus der Situation in ein Ritual, und das löst Heiterkeit bei ihnen aus; dass sie inhaltlich gerade schon an einem ganz anderen Punkt gewesen sind und durch den Morgengruß eine künstliche Anfangssituation simuliert wird, die faktisch gar nicht mehr gegeben ist; der Unterricht soll also „wie gewöhnlich“ inszeniert werden; dieses Signal verstehen sie und finden es lächerlich; dass sie die Verlegenheit oder Verunsicherung des Lehrers spüren und sein Bemühen, die Regie in der Situation zu übernehmen; sie durchschauen, dass das vergeblich sein könnte und lachen ihn aus.
Es ist eine gespannte Situation, auch zwischen Lehrer und Schüler/innen besteht eine Spannung, die sich in Verlegenheitsgesten und Gelächter ausdrückt.

1-L Vielleicht für uns alle eine sehr ungewohnte Sache.

Der Lehrer reagiert auf das Gelächter der Schüler, indem er es deutet und die Stimmung im Raum anspricht. Das Gelächter hat den „Trick“ des Verlegenheitsrituals entlarvt; es bleibt ihm nichts anderes übrig als zuzugeben, dass die Situation für ihn und für die Schüler- solidarisch mit „für uns alle“ inkludiert- „ungewohnt“ ist. Er entschuldigt sich gleichsam für seinen unpassenden Gruß, den die Schüler als Versuch der Entkrampfung durchschaut haben. Für das, was in dieser Situation „Sache“ ist, gibt es noch keinen Begriff; der Lehrer benennt es nicht; es bleibt wie ein Tabu stehen; als „Ungewohntes“ auch weiterhin präsent.

1-L Ich hoffe, wir versuchen einmal, das Beste daraus zu machen.

Ein neuer Versuch des Überspringens der Situation. Er hofft etwas, das er nicht ausführt; der Gegenstand seiner Hoffnung für die Situation bleibt offen, der Satzanfang unvollendet. Er könnte damit zum Ausdruck bringen wollen, dass er das angegebene Verhalten von seinen Schüler/innen wünscht oder er hofft, dass sie sich entsprechend verhielten. Er gibt ein neues Motto aus, als bewährte Regel oder Formel, mit der man in unbekannten oder verunsichernden Lagen, die einem schicksalshaft begegnen, wieder Herr der Lage werden kann: man ermutigt sich selbst, wenn man „das Beste daraus machen“ will. Er geht davon aus, dass es den Schüler/innen genauso geht wie ihm selbst, das „wir“ schließt sie ein; er kann den Unterricht nicht ohne die Schüler/innen machen. Eine „Ich“-Ansage wäre sachlich unangemessen. Nicht er allein kann „das Beste“ aus der Situation machen, sondern nur „wir“. Dabei scheinen weder er selbst noch die Schüler/innen zu wissen, was „das Beste“ denn eigentlich ist. Man muss es „machen“, in der Situation erfinden und entwickeln, es steht nicht von vornherein fest, man kann es nicht direkt ansteuern, aber es setzt ein Einverständnis der Beteiligten voraus und ein Rollenbewusstsein, indem so getan wird, als wüssten alle, was „das Beste“ sei. Es kommt jetzt darauf an, seine Rolle als Lehrer und als Schüler/in zu übernehmen. Das Motto ist eine vage Zielvorgabe.
Das Motto könnte auch als ein moralischer Appell an die Schüler/innen verstanden werden zur Entlastung des Lehrers: nicht er allein ist für die Steuerung des Unterrichts verantwortlich, sondern auch die Schüler/innen, indem auch sie „das Beste“ daraus machen.
Die Ausgabe eines Mottos in dieser Situation, die für Lehrer und Schüler in gleicher Weise ungewohnt ist, könnte auch als Legitimation möglichen Scheiterns im Vorgriff gedeutet werden: wenn es schief geht, sind die äußeren Bedingungen daran schuld, nicht das Bemühen der Beteiligten. Vielleicht schätzt der Lehrer auch die Schüler als leicht ablenkbar ein durch die äußeren Bedingungen; er führt das Bemühen um „das Beste“ ein, um seine Verantwortung für die Wirksamkeit des nachfolgenden Unterrichts zu relativieren. Wenn das Bemühen ohne erkennbare Wirkung bleibt, liegt es an den äußeren Bedingungen, nicht an der Anstrengungsbereitschaft.
Der Eindruck, dass der äußere Rahmen der Unterrichtssituation (die Beobachter/innen und/oder die technische Aufzeichnung) einen besonderen Leistungsdruck produziert und Prüfungsangst hervorruft, bleibt bestehen. Der Lehrer ermutigt sich selbst und die Schüler/innen mit dem Appell, „das Beste daraus zu machen“.

1-L Ich habe mich eigentlich mit dem Text, den wir uns heute näher ein bißchen ansehen wollen, ah, beschäftigt, ganz normal vorbereitet wie sonst auch.

Die Beschwörung der Normalität geht weiter, ebenso wie die Rechtfertigung von Versagen, falls alles Bemühen wirkungslos bleiben würde oder einem kritischen Prüfer nicht standhielte. Er hat sich „eigentlich“ mit dem Text, der Gegenstand des Unterrichts werden soll, „beschäftigt“. Die Einschränkung der Aussage durch „eigentlich“ ist eine Selbstrechtfertigung und nimmt praktisch die Bewertung der Wirksamkeit vorweg: er hat sein Bestes getan, aber es ist wenig dabei herausgekommen. Obgleich er sich – wie von ihm zu erwarten ist – mit dem Text beschäftigt hat, erscheint ihm selbst auch das Ergebnis unzureichend, nicht wertvoll genug.
Oder drückt er damit nur Bescheidenheit aus: es soll alles „ganz normal“ sein, ohne viel Aufhebens? Nicht nur er selbst will sich von dem Leistungsdruck entlasten durch Beschwörung der Normalität, sondern auch die Schüler/innen. „Ein bißchen“ werden sie sich mit dem Text befassen, nicht zu viel, nicht übertrieben, nicht künstlich oder angestrengt. Die Einschränkung mit „ein bißchen“ gerät nun auch in die Nähe der Un-Ernsthaftigkeit der Unterrichtsinszenierung und in Widerspruch zurrt Motto, „das Beste“ daraus zu machen. Wenn man „das Beste“ aus der Situation machen möchte, wäre es angemessen, sich nicht nur „ein bisschen“ zu bemühen „wie sonst auch“, sondern eben aufs Beste, aufs Ganze zu gehen. Das ist alles andere als „normal“. Die unablässige Beschwörung der Normalität, nämlich dass er sich vorbereitet habe, macht nun auch dem Letzten klar, dass der Lehrer sich in einem Ausnahmezustand befindet, der ihn zutiefst verunsichert und unter fremdbestimmtem Leistungsdruck stellt. Er nimmt an, dass die Schüler/innen sich in derselben Situation befinden und bietet sich ihnen als spannungsreduzierender „Normalisierungsfaktor“ an.

1-L und wir wollen heute mal eben gemeinsam versuchen, aus einem Text etwas so herauszuholen, dass es vielleicht ein Stück weit in die Richtung geht, worum es auch hier geht.

So kündigt er nun die Aufgabe für die Unterrichtsstunde an: es geht um Textinterpretation, aus dem angebotenen Text soll „etwas herausgeholt“ werden, das in eine nicht näher bezeichnete „Richtung“ geht. Die Richtung könnte inhaltlich dieselbe sein, „worum es auch hier geht“ in der Situation in der Klasse, nämlich Leistungsdruck, Versagensangst, Verlegenheit, aber das bleibt unausgesprochen. Die gehäuften Verkleinerungen, Minimalisierungen seiner Rede mit „ein bißchen“ „mal eben“, „vielleicht“, „ein Stück weit“, von ihm selbst vermutlich gemeint, als Spannungsreduktion, wirken im Blick auf die Aufgabenstellung paradox als Zurücknahme, Verharmlosung, Einschränkung und Unernsthaftigkeit der geforderten Auseinandersetzung.
Die Aufgabenbeschreibung bleibt inhaltlich unspezifisch, vage und formal. Alle Möglichkeiten, worum es inhaltlich gehen soll und was ein Ziel des Unterrichts werden könnte, bleiben offen. Der Sinn des nun Folgenden ist entweder allen Beteiligten als Rollenspiel klar, oder er erschließt sich durch die Aktion „aus dem Text etwas herauszuholen“. Den Schüler/innen wird nichts anderes übrigbleiben, als zu raten, was der Lehrer will bzw. in welche Richtung er sie bringen will.

1-L Ich glaube, ihr müsst euch da genauso darauf einlassen wie ich mich.

Die Vagheit ist didaktisch gewollt, nicht aus Versehen oder unfreiwillig so benannt. Der Lehrer geht davon aus, dass ein Sich-“Einlassen“ auf einen Text oder eine Situation ein Weg der Auseinandersetzung und Zielfindung ist; der Sinn der Inszenierung erschließt sich – so versichert er -, indem man sich darauf einlässt, so wie er selbst es getan hat oder tun wird. Diesen Anspruch stellt er an die Schüler/innen: sie sollen sich gutwillig und bereitwillig „darauf einlassen“, was immer es sein wird. Die Bereitwilligkeit und Anstrengungsbereitschaft wird von ihnen erwartet, ohne dass sie das Ziel kennen. Sie brauchen nicht zu wissen, was als Thema dran ist, Hauptsache, sie lassen sich darauf ein, so wie der Lehrer auch. Wieder bietet er sich selbst als ebenbürtiger Mitspieler, als Partner, als Vorbild an. Sie können sich so darauf einlassen wie er selbst auch, das ist gänzlich ungefährlich und nicht riskant, sondern ein sicherer Weg, den sie getrost gehen können, ohne zu wissen, wohin er führt. Er selbst ist Wegführer, seiner eigenen Spur können die Schüler folgen, dann sind sie sicher. Die Offenheit von Thema und Zielsetzung, von Aufgabenstellung und Sinnorientierung der Unterrichtsinszenierung ist durch die Bindung an die Person des Lehrers auszuhalten und mit Sinn auszustatten. So wie er sich auf etwas eingelassen hat oder sich einlassen wird, so sollen es auch die Schüler/innen tun. Sie müssen ihm nur vertrauen, dann liegen sie richtig. Diese Zuversicht gibt der Lehrer den Schüler/innen. Der Lehrer hat mit dieser einleitenden Vorrede eine didaktische Antinomie (Combe/Helsper 1994a, 1994b) zu lösen versucht:
Es geht in der Unterrichtsstunde um einen sinnerschließenden Prozess, der von den Schüler/innen zu leisten ist. Wenn er den Gegenstand oder Inhalt ansagen würde, z.B. „Es geht um den verlorenen Groschen“ oder „Es geht um ein Gleichnis“ oder „Es geht um Gewinn und Verlust“ oder „Es geht um Gerechtigkeit“, dann hätte er ein Ergebnis vorweggenommen, die Schüler/innen gewissermaßen um den Ertrag ihrer eigenen Anstrengung betrogen. Sie sollen dieses Ergebnis selbst finden und es sich durch das eigene Bemühen aneignen. Eine inhaltliche Vorspur würde sie vielleicht zu sehr festlegen oder einschränken in ihren eigenen Denkbewegungen. Gleichwohl ist die gänzliche thematische Offenheit für formalen Unterricht unangemessen, sie machte ihn nicht unterscheidbar von beliebigen informellen Situationen. Die Lösung dieses Dilemmas liegt darin, ein Verfahren vorzugeben: die Aufforderung, sich „darauf einzulassen wie ich mich“ ist ein möglicher Weg der Annäherung an einen Sinn, der sich erst im Prozess seiner Erschließung ergibt, der möglicherweise auch nicht für jeden einzelnen Schüler gleich ist, sondern subjektiv variieren kann. Die Bereitwilligkeit des Sich-Einlassens auf etwas Unbekanntes ist in der Regel riskant, man muss mit Überraschungen rechnen oder auch mit Erfolglosigkeit. Es könnte auch sein, dass sich gar kein Sinn herstellen lässt, dass das Bemühen vergeblich ist. Diese Befürchtung möchte der Lehrer den Schülern vorab nehmen: wenn sie sich so wie er selbst auf den Gegenstand einließen, dann wären sie erfolgreich, er selbst ist das Modell, die didaktische Spur, der sie folgen können. Die didaktische Fährte, die er durch diesen Hinweis legt, könnte jedoch zugleich zu einer Falle der subjektiv-autonomen Sinnerschließung der Schüler/innen werden. Die Bindung an das Modell des Lehrers schließt die thematische Öffnung wieder, macht sie eng; der Lehrer ist nicht nur Orientierer und Wegführer, sondern auch Beurteiler und Autorität. Er urteilt über „Richtig“ und „Falsch“, die Beurteilung ist ein wichtiges Segment seiner Rolle. So wie er sich auf den Gegenstand einlässt, so muss es also „richtig“ sein. Die gesamte Ökonomie des Unterrichts erschließt sich, wenn man es so macht, wie der Lehrer es möchte. Indem er sich selbst, sein eigenes „Sich-Einlassen“ zum Modell erhebt, bindet er die Schüler/innen suggestiv an seine eigene Person, löst damit die Lerner-Autonomie wieder auf wenn die Schüler/innen so vorgehen, wie er selbst, sind sie auf dem richtigen Weg. Sie machen sich dadurch abhängig vom Lehrer. Solange sie nicht wissen, was Thema und Gegenstand des folgenden Unterrichts ist, können sie nichts anderes tun als raten, was der Lehrer dafür hält, indem sie so tun wie er.
Man müsste sich als Beobachter sehr wundern, wenn bei diesem aufwändigen Ratespiel für die Schüler ein Sinnerschließungsprozess einsetzte, der über das aktuelle Unterrichtsgeschehen hinausweisen würde oder der einen subjektiven und inhaltsspezifischen Mehrwert an Erkenntnis jenseits des Regelwissens der Inszenierung von Unterricht für Schüler/innen hätte.

1-L Und ich hab mir gedacht – ich war gestern n bißchen einkaufen noch, eine Geschichte ist mir gestern abend noch so eingefallen, die hab ich mal schnell zusammengeschrieben, die hilft uns vielleicht, ein Stück weit dahin zu finden, was wir heute bißchen uns näher ansehen wollen.

Der Lehrer beteiligt die Schüler/innen an seinen Denkbewegungen. Sie können nun mitvollziehen, was er sich vorbereitend auf den Unterricht gedacht hat. Beim „Einkaufen“ war es, „gestern abend“, Ort und Zeit schaffen einen Rahmen, in dem sich das Folgende abspielen wird. Jetzt erfolgt die erste inhaltliche Festlegung und Gestaltschließung. Die Rahmung“ Einkaufen“ imaginiert die Handlungsbühne für das folgende Geschehen, die Zeitangabe „gestern abend“ legt einen konkreten Realitätsgehalt der Erfahrung nahe. Man könnte erwarten, dass eine Alltagssituation der Ausgangspunkt für das Folgende sein wird. Allerdings wird nun nicht eine Beobachtung als wahre Begebenheit aus der gestrigen Alltagssituation des Einkaufens geschildert, sondern eine „Geschichte“, die ihm „noch so eingefallen“ ist, beim Einkaufen gestern Abend. Die Situation des Einkaufens war eher zufällig der assoziative Rahmen für etwas, das sich real gar nicht in diesem Ereignis abspielte.
Wieder werden Diminutiv-Markierungen benutzt: „ein bißchen“ einkaufen, „noch so“ eingefallen, „mal schnell zusammengeschrieben“. Der Eindruck von Belanglosigkeit, Zufälligkeit, Unaufdringlichkeit, ungekünstelter Leichtigkeit kann entstehen. Der Lehrer hat sich nicht am Schreibtisch mühsam etwas ausgedacht, sondern mitten im Leben des gewöhnlichen Alltags ist ihm zufällig etwas eingefallen, das er aufgeschrieben hat. So machen es Dichter oder Genies, denen fällt etwas zu, was als Geschichte erzählt werden kann.
Es kann auch sein, dass sich der Lehrer noch auf der Spur der projektiven Spannungsreduktion befindet: es soll alltäglich, leicht, zufällig und assoziativ zugehen, mehr spielerisch und gedankenexperimentell, nicht so ernst und gekünstelt, nicht vorgeplant und vorgegeben, sondern locker, „stückweit“, „ein bißchen“, nicht zu viel, nicht allzu angestrengt.
Der Lehrer signalisiert in dieser Einleitung eine weitere Handlungs-Antinomie: die von den Schüler/innen und von sich selbst geforderte Anstrengungsbereitschaft, „das Beste“ aus der Situation zu machen, wird durch die Normalitätsappelle und Diminutivformen konterkariert. Einerseits hat er sich mit dem Text „ganz normal vorbereitet wie sonst auch“, er hat damit seine Unterrichtsplanung gemacht, andererseits ist ihm eine Geschichte dazu am Vorabend eher zufällig und ganz nebenbei eingefallen, eben gänzlich unvorbereitet.

  • Die normale Planung und der kreative Einfall sind zwei verschiedene Dinge, die unabhängig voneinander auftreten.
  • Oder ist die „Normalform“ seiner Unterrichtsvorbereitung, dass er kurz vor dem Unterricht einen Einfall hat, den er zum Gegenstand und Medium des Unterrichts macht?

Er bietet den Schüler/innen einerseits eine didaktische Ermutigungsstrategie an: die Alltagssituation „Einkaufen“ kennt jeder, darauf kann man sich problemlos einlassen, man muss es nur „ein bißchen“ tun oder „ein Stück weit“, locker und ganz nebenbei, dann kann man nichts falsch machen. Aber die Frage, ob es dann auch „richtig“, d.h. erfolgreich wird im Sinne eines zu erreichenden Unterrichtsziels, einer Erkenntnis, eines Gewinns an Einsicht, bleibt bestehen. Es scheint so, als käme es auf letztere Frage nicht an, als sei sie dem Lehrer egal, ohne Belang, ob der Unterricht zu sinnerschließender Erkenntnis führt. Vielleicht ist in der Vorstellung des Lehrers das „normal“: dass der Unterricht eher zufällig zu etwas führt, was außerhalb seiner selbst Sinn macht oder Sinn erschließt. Diese Vorstellung von Unterricht kann für den Lehrer eine ungemein entlastende Funktion haben. Wenn die Ziele des Unterrichts – Erkenntnisgewinn, Einsicht, Sinnerschließung – sowieso nicht vorhersagbar sind oder als Resultat einer didaktischen Planung eintreten, kann man auch darauf verzichten, sich darum zu bemühen. Es kommt, wie es kommt, mal tritt es ein, mal nicht, zufällig und unabhängig von jeglicher didaktisch-bemühten Planung, eher nebenbei und wie aus heiterem Himmel. Man erhöht die Eintretenswahrscheinlichkeit folglich umso mehr, je mehr man für den heiteren Himmel, die Lockerheit, die ungezwungene Offenheit, die Ungeplantheit sorgt. Das Handlungsdilemma von Planung und Offenheit löst dieser Lehrer zugunsten der „Offenheit“ von Zielsetzung, Thema, Inhalt und Verfahren. Lediglich seine Person, die sich wie ein Schüler auf einen Text eingelassen hat, ist das uneingelöste Versprechen erfolgreichen bzw. ertragreichen Unterrichts. Die vermeintliche Entlastung des Unterrichts von Planung und Erfolgszwang wird unter der Hand zu einer Überlastung der Person und ihrer die Schüler/innen bindenden Suggestivkraft. Es geht dann nicht mehr um einen sachangemessenen Weg der individuellen Auseinandersetzung mit einem Thema, sondern um die personengebundene Wirksamkeit unterrichtlichen Bemühens des Lehrers. In der Bindung an seine Person können die Schüler/innen nicht mehr als Mitkonstrukteure des Unterrichtsgeschehens und damit auch des Ertrags der Auseinandersetzung mit einem Thema gelten. Die vermeintliche „Offenheit“ der Unterrichtsplanung in dieser Eingangssequenz könnte für die Schüler/innen faktisch eine an die Person des Lehrers gebundene Einengung und Gängelung ihrer Gedanken bedeuten.

((Folie 1)) Eine unvollständige Geschichte, die ist gestern bei mir entstanden im Kopf in zwei Minuten -vielleicht stimmt sie auch nicht. Ich weiß es nicht. Wer liest sie mal bitte? . . A/w, fang mal an bitte!

Der Lehrer legt eine Folie auf mit einer Geschichte, die nun Gegenstand des Unterrichts sein soll. Die Folie rückt sie visuell ins Zentrum der Aufmerksamkeit der Schüler. Geschichten sind eigentlich zum Erzählen; die gleichzeitige Visualisierung als Text reichert die Zugänge der Aufmerksamkeit der Schüler/innen an: sie können gleichzeitig hören und lesen. Der Lehrer kommentiert diesen Impuls jedoch mit Relativierungen: die Geschichte sei unvollständig. Was meint er damit? Ist es ein literarisches Fragment? Ein Lückentext? Ein unbearbeitetes und unkorrigiertes Werkstück? Die Geschichte sei „gestern bei mir entstanden im Kopf-in zwei Minuten“, also etwas Ausgedachtes, keine Beobachtung aus dem Alltag, die Einkaufssituation war nicht entscheidend. Die Angabe von „zwei Minuten“ verweist auf Flüchtigkeit, Zufälligkeit, Unverbindlichkeit, aber auch auf einen ‚Geistesblitz‘. Wenn die Schüler/innen mit der Geschichte nichts anfangen können, spielt es keine Rolle. Sie war dann nur ein Versuch, der zufällig hätte Erkenntnis bringen können. Es macht nichts, wenn die Geschichte nichts auslöst; „vielleicht stimmt sie auch nicht“, vielleicht ist sie einfach nur ausgedacht und deshalb falsch, nicht realitätshaltig genug. „Ich weiß es nicht“ – das ist für einen Lehrer ein ungeheuerlicher Satz: eigentlich müsste er wissen, wovon er redet. Wenn er eine selbst ausgedachte Geschichte ins Spiel bringt, müsste er damit eine Intention verfolgen, die Geschichte müsste eine Bedeutung transportieren. Er will es offenlassen, ob das auch tatsächlich eintritt. Er möchte es den Schüler/innen überlassen, Bedeutung aus der Geschichte zu generieren. Er weiß selbst nicht, ob etwas bei der Auseinandersetzung mit der Geschichte herauskommt. Vielleicht ist es ihm an dieser Stelle auch gleichzeitig peinlich, sich selbst und seine eigene, ausgedachte Geschichte zum Gegenstand des Unterrichts zu machen; er spielt die Angelegenheit herunter, als sei alles ganz unbedeutend, unwichtig, belanglos. Für die Schüler/innen entsteht eine komplizierte Situation: Es lohnt sich eigentlich nur dann, sich auf einen Text einzulassen, wenn er es wert ist, wenn er Bedeutsamkeit verspricht. Wenn alles nur so ganz nebenbei und unabsichtlich und eher zufällig bedeutsam wird, ist der Platz im Unterricht schlecht gewählt, eine informelle Gesprächssituation wäre angemessener. Ist die Vorrede des Lehrers – entgegen der üblichen Regel bedeutungsgenerierenden Unterrichts – als paradoxe Intervention gemeint, dann wäre eine erhöhte Aufmerksamkeit und Erwartungshaltung angemessen. Ist das „Herunterspielen“ durch den Lehrer in diesem Moment der „didaktische Trick“, durch den mit einer erhöhten Wachsamkeit der Schüler/innen zu rechnen ist?
Die Präsentation der Geschichte auf der Folie öffnet eine neue Situation: die Schüler können selbst über Sinn und Unsinn entscheiden. Der Text der Geschichte wird nun zum Medium des Unterrichts.

Die Schülerin A liest vor:

2-A/w „Vor zwei Wochen hatte Rosa M. ihren Geldbeutel verloren. Sie war mit zwei Einkaufstaschen in der Stadt unterwegs, um für ihre Kinder und Enkel kleine Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Im dritten Geschäft suchte sie mit zitternden Händen ihren Geldbeutel, um ihn der / und den Manteltaschen/ ((Kritisches Gemurmel)) in den Manteltaschen. Der Mann an der Kasse sagte nur: 32,50 DM. Rosa M. verließ ohne ihr Geschenkpaket das Geschäft. Den Rest ihrer Rente des Monats Dezember hatte sie im Geldbeutel, um anderen eine Freude zu machen. 230 DM waren weg. Kurz vor Weihnachten ging sie zum x-ten Mal aufs Fundamt. Als ihr der Beamte ihren Geldbeutel zeigte, kamen ihr die Tränen. Gleich darauf rief sie bei ihren Kindern an: ‚Holt mich bitte am aq. Ich möchte / Ich möchte bei euch sein.’“

Es ist die Geschichte von dem Verlust eines Portemonnaies beim Einkaufen. Die Verliererin, namentlich mit „Rosa M.“ bezeichnet, ist offenkundig eine ältere Frau, die eine karge Rente bezieht. Der Verlust trifft sie hart: sie wollte mit dem Geld Weihnachtsgeschenke für ihre Kinder und Enkel kaufen. Nun ist ihr diese Möglichkeit genommen, sie kann nichts Gekauftes mehr schenken. Anscheinend hat sie nach dem Verlust des Portemonnaies auch den Weihnachtsbesuch bei den Kindern abgesagt, so als schäme sie sich, ohne Geschenke zu erscheinen. Erst als der „Geldbeutel“ wiedergefunden wurde, ist ihr auch die Möglichkeit des Schenkens wieder gegeben, und sie fühlt sich wieder als willkommener Gast bei den Kindern und Enkeln zu Weihnachten.

Warum und mit welcher Intention sollten sich die Schüler/innen einer 10. Klasse im Religionsunterricht mit dieser Geschichte auseinandersetzen? Was gäbe es für sie zu entdecken und an Erkenntnis zu gewinnen?
Die Geschichte ist irgendwie belanglos, ohne Besonderheit, eben alltäglich. Armut, Alter, Verlust von Konsummöglichkeiten, Umgang mit knappen Finanzen, Diebstahl, Pech und Glück: das wären Stichworte, zu denen assoziiert werden könnte. Hintergründiger wäre die Psychologie des Schenkens, wie sie in dieser Geschichte angedeutet wird: Die Frau bezieht ihre Würde und ihren Selbstwert den Kindern und Enkeln gegenüber aus der Möglichkeit, materielle Geschenke machen zu können. Ohne Weihnachtsgeschenke will sie die Kinder nicht besuchen, auch wenn sie für den Verlust des Geldes nicht verantwortlich ist. Erst als sie das Geld wiedergefunden hat, mag sie den Kindern und Enkeln wieder unter die Augen treten. Soll es im Folgenden um die Psychologie geldwerter Verwandtschaftsbeziehungen gehen?

3-L: Können wir einmal ganz kurz darauf eingehen, welche Erfahrungen diese Frau macht? ..G3/w

Der Lehrer äußert die Erwartung, dass sich die Schüler mit der Geschichte auseinandersetzen. Allerdings sollen sie das nur „ganz kurz“ machen, vielleicht nicht allzu ausführlich, mehr pointiert. Die Zeit scheint eine Rolle zu spielen. Sollen die Schüler sich kurz fassen, weil es sich nicht lohnt, viel Zeit auf die belanglose Geschichte zu verwenden? Kommt danach in der Unterrichtsstunde noch etwas, was „eigentlich“ im Mittelpunkt steht? Fühlt sich der Lehrer schon jetzt veranlasst, seine Aufgabe des Zeitmanagements einer Unterrichtsstunde zu übernehmen? Die “Erfahrungen“ der Frau sollen der Focus werden, es ist also deren Perspektive einzunehmen. Was könnten die Schüler/innen auf diese Aufgabenstellung hin tun? Die „zitternden Hände“ beim Verlust und die „Tränen“ beim Wiederfinden sind Hinweise auf emotionale Befindlichkeiten der Hauptperson. Die Schüler/innen könnten über Aspekte des Schenkens und Beschenktwerdens, des Verlierens und Wiederfindens, des Verhältnisses der Generationen einer Familie oder über Armut und Scham nachdenken. Der Hinweis, sich „kurz“ zu fassen, lässt keinen philosophischen Tiefgang zu, nur assoziative Stichpunkte.

4-G3/w: Für mich isch also der erschte Eidruck, dass/ dass es heutzutag noch ehrliche Finder gibt. Also, 230 Mark, des isch ja et (nicht) bloß wenig, und dass derjenige, wo des gfund hat, des au aufs Funda/ Fundamt broacht (gebracht) hat, also ( )

Die erste Schülerin geht auf die Aufgabenstellung ein, indem sie ihren „ersten Eindruck“ schildert, dialektgefärbt. Sie geht allerdings nicht auf die „Erfahrungen“ der Frau ein, sondern fasst den Ertrag der Geschichte in Form einer Überschrift, eines Mottos oder zusammenfassend als Moral der Geschichte zusammen: Es gibt heutzutage noch ehrliche Finder, das ist die Erkenntnis, die aus der Geschichte zu ziehen ist. Das „heutzutage“ macht aus der vom Lehrer ausgedachten Geschichte einen Tatsachenbericht, eine wahre Begebenheit. Nicht die Frau und ihr Pech oder Glück sind interessant, sondern derjenige, der in dieser Alltagssituation das Glück dieser Person herbeiführt und auf seinen eigenen geldwerten Vorteil verzichtet. Diese Verzichtleistung des „ehrlichen Finders“ ist auffällig, weil sie nicht den üblichen Regeln entspricht. Die Schülerin nimmt eine Perspektive außerhalb der in der Geschichte erzählten Fakten ein, deutet sie als eine veraltete, unmoderne Moral-Erzählung zum unzeitgemäßen Vorkommen von „ehrlichen Findern“, die 230 Mark nicht einstreichen, sondern anonym über das Fundbüro an den Verlierer zurückgeben. Sie drückt gleichzeitig mit dieser Feststellung auch Anerkennung für die moralische Leistung des Finders aus, schließlich war der gefundene Geldbetrag – insbesondere für Jugendliche – nicht gerade unerheblich, sondern eine beachtliche Summe.

((TA 1.))

Das Protokoll vermerkt an dieser Stelle den ersten Tafelanschrieb. Er wird inhaltlich nicht näher bezeichnet. Vermutlich schreibt der Lehrer etwas an die Tafel, vielleicht „ehrlicher Finder“ als das zentrale Stichwort des Gesprächsbeitrags dieser Schülerin. Es geht im Verlauf der Unterrichtsstunde immer noch um die Konstitution des Themas, des Gesprächsgegenstands. Die Schülerin hat dafür ein Angebot gemacht: „Ehrlichkeit“ könnte es sein, Geld und Besitz könnten es sein.

5-L Und damit / ja damit hätte sie nicht unbedingt rechnen können, obwohl sie’s hier jetzt mehrere Male versucht hat. H2/W! ((Fingerschnipsen))

Der Lehrer kommentiert und ergänzt die Äußerung der Schülerin, lenkt damit zurück auf die erfragten Erfahrungen der Frau, auf die Überraschung des Wiederfindens, auf die Unwahrscheinlichkeit oder den Zufall, auf einen „ehrlichen“ Finder zu treffen. Zwar hatte die Frau darauf gehofft, indem sie mehrmals zum Fundbüro ging, aber sie hätte nicht damit rechnen können. Die Moral eines „ehrlichen Finders“ ist also nicht selbstverständlich zu erwarten. Der Lehrer bestätigt den „Eindruck“ der Schülerin durch diese Einlassung.
Das vom Protokoll verzeichnete „Fingerschnipsen“ deutet an, dass sich offenkundig mehrere Schüler/innen melden und zu Worte kommen möchten. Die Aufgabe ist durch die eine Schülerantwort noch nicht erschöpfend gelöst. Es gibt weitere Angebote zum Thema, das die Schüler/innen aus der vorgelesenen Geschichte herausgehört haben.
Warum kommentiert der Lehrer diese erste Schüleräußerung so unmittelbar? Es könnte ein Versuch der inhaltlichen Lenkung sein: vielleicht ist ihm die Moral vom „ehrlichen Finder“ zu weit hergeholt, zu abgehoben, zu glatt. Er möchte auf die Erfahrungsebene gehen und findet deshalb einen inhaltlichen Anschluss, die Berechenbarkeit oder der Zufall von Ehrlichkeit im Alltagsleben.
Möglicherweise macht er hier auch seinen Führungsanspruch für das Unterrichtsgespräch geltend: er beurteilt, ob die Richtung stimmt, die das Gespräch nimmt. Er beurteilt, ob die assoziativen Gedanken „zur Sache“ gellen oder vorbeiführen. Die Steuerungsmöglichkeiten der Schüler/innen sind – diese Regel wird implizit signalisiert – durch die Rolle des Lehrers begrenzt. Er markiert die Grenzen. Die Schüler/ innen können mehr oder weniger ratend das Gelände abtasten, scannen, die Fokussierung wird dagegen vom Lehrer gesetzt.

6-Hs2/w Also, ich weiß ja net (nicht), ob’s Geld drin isch. Also, der (Dieb), der kann ja die 230 Mark, oder 200 Mark rausnemme, un no(dann) (war des net richtig).

Die Schülerin hat einen Einwand zur Moral vom ehrlichen Finder, sie glaubt nicht an eine so glatte Problemlösung. Zwar wurde das Portemonnaie gefunden, aber sie bezweifelt, ob das Geld dringeblieben ist. Es entspricht ihren eigenen Alltagserfahrungen eher, dass das Geld genommen, die leere Börse zurückgegeben wurde. Welche Veranlassung sollte ein Dieb denn haben, eine Geldbörse zurückzugeben mitsamt dem Inhalt, wenn er sie doch gerade gestohlen hat? Wenn die Geschichte wegen des Diebstahls für erzählenswert gefunden wurde, dann fehlte die Pointe darin, sonst wäre die Geschichte zu banal, zu einfältig und zu glatt. Der Kick kommt durch diese gedankliche Kurve hinein, als detektivische Herausforderung: die Sache hat einen Haken, der zum Nachdenken verführt. Das Thema vom „ehrlichen Finder“ wäre dann nicht mehr passend, die Sache ginge weiter.

7-L Stimmt, lassen wir offen. Das ist hier nur ihre Reaktion (drauf). B/w!

Der Lehrer bestätigt die Vermutung der Schülerin, ihre Annahme, es könnte kein Geld mehr im Portemonnaie sein, „stimmt“, ist nicht falsch, kann nicht als falsch zurückgewiesen werden, aber auch nicht als mit Sicherheit zutreffend bestätigt werden. Aus dem erfreuten Verhalten der Frau in der Geschichte kann man schließen, dass das Geld wieder zurückgekommen ist, aber es könnte auch der (unwahrscheinliche) Fall sein, dass das Geld fehlt. Die Überlegungen der Schülerin werden als gültig akzeptiert, jedoch nicht als Vorschlag zur Thematisierung angenommen: „lassen wir offen“ macht ihr das deutlich. Es ist ein loses Ende des Gesprächsfadens, der Focus wird vom Lehrer nicht erwünscht. Er braucht keine Begründung, warum diese detektivische Rahmung nicht aufgegriffen wird, sondern „offen“ als loses Ende „hängenbleiben“ soll. Es gehört zu den Spielregeln des Gesprächs, dass die Schüler/innen Vorschläge machen und der Lehrer sortiert nach „stimmt“ oder „stimmt nicht“ und „offenlassen“ oder „zumachen“, so wie eine Falle oder ein Fangnetz. Die Gedanken zum Thema werden eingefangen, der Lehrer entscheidet jedes Mal, ob es ein Treffer ist oder nicht.

8-B/w Also, die Frau hat sich wahrscheinlich scho denkt, wenn se jetzt des Geld riet hoat (hat), dass se no a gar riet zu ihre Kinder ka (kann). Und hat wahrscheinlich kurz, nachdem se ihr Geld verlora/ also den Geldbeutel verlora hat, hat se no a/ scho paarmal ufs Fundamt ganga (gegangen), aber dann heil (haben) die halt immer wieder gsett (gesagt), dass des halt dort gibt, also, dass der et do (nicht da) isch, und dann hat se halt ihra Kinder scho abgsagt ghet uf Weihnachta (für Weihnachten abgesagt).

Die Schülerin paraphrasiert die Situation der Frau in der Geschichte, nachdem der Geldbeutel verloren wurde: vergebliche Gänge zum Fundbüro, Absage des Weihnachtsbesuchs bei den Kindern. Ohne Geld keine Geschenke, ohne Geschenke kein Weihnachtsbesuch.

9-L Ja, vielleicht stört sie irgendwo auch innerlich ein Stück weit, dass zum Weihnachten das Geschenk, das kleine Geschenk unter Umstände» doch irgendwo dazugehört. Vielleicht geht’s euch jetzt so in den nächsten paar Wochen ähnlich. G2/w!

Der Lehrer kommentiert jetzt zum dritten Mal hintereinander die Antwort der jeweiligen Schülerin. Die Regel der Themenkonstituierung gilt also: Die Schülerinnen bieten ratend einen Vorschlag an, der Lehrer entscheidet durch Bestätigung oder Kommentierung, ob es sich um einen punktgenauen oder ungefähren Treffer handelt. Die assoziative Verknüpfung von „Geschenk“ und „Weihnachten“ ist jahreszeitlich bedingt naheliegend. Die Kommentierung dieser Vermutung eines Zusammenhangs von Besuch – Geschenk – Weihnachten durch den Lehrer mit „vielleicht“, „irgendwo“, „innerlich“, „ein Stück weit“, „klein“, „unter Umständen“, „irgendwo“ macht den Gedanken schwach, drängt den Themenvorschlag als leichtgewichtig ab. Die Schülerin hatte klar und deutlich den Zusammenhang von Verlust und Besuchsabsage hergestellt. Der Lehrer verwässert diese Eindeutigkeit, verundeutlicht sie als einen vagen psychologischen Mechanismus, der nur einen geringen Geltungsanspruch hat. Die Selbstverständlichkeit, mit der für die Schülerinnen Weihnachten und Geschenke zusammengehören, wird vom Lehrer gleichzeitig relativiert und bestätigt: „Vielleicht geht’s euch jetzt auch so in den nächsten paar Wochen“. Er vermutet bei den Schülerinnen eine jahreszeitlich bedingte Befindlichkeit als assoziative Rahmung, weist aber zugleich das Thema Weihnachtsgeschenke zurück.

10-G2/w Also, dass wir zu Weihnachta und/ also, riet unbedingt Geschenke braucht. Also, dass des au ohne Geschenke goat (geht).

So schnell lassen die Schülerinnen das Thema nicht fallen. Weihnachten kommt immerhin in der Geschichte vor, und die Unmöglichkeit, ohne Geld Geschenke für die Verwandten kaufen zu können, bringt die Frau in der Geschichte in Not, sie sagt den Besuch ab. Diese Schülerin macht einen neuen Vorschlag zur „Moral von der Geschichte“, steuert eine zusammenfassende Erkenntnis wie eine Lebensweisheit an: Man kann auch ohne Geschenke Weihnachten feiern, es geht auch ohne Geschenke. Ganz einfach. Die Not der Frau wäre aufzulösen durch eine andere Einstellung zum Schenken: ohne Geschenke kann man sich auch zu Weihnachten besuchen.
Spricht aus dieser Antwort die Erfahrung von Regeln aus dem Religionsunterricht, dass er Beispielgeschichten für Moral präsentiert, dass das Ziel der Auseinandersetzung mit den Geschichten erreicht ist, wenn man die moralische Lebensweisheit formuliert hat? Der Vorschlag der ersten Schülerin „dass es heutzutag noch ehrliche Finder gibt“, dass ihnen hier eine Erbauungsgeschichte präsentiert wurde, wurde vom Lehrer nicht aufgegriffen. Jetzt gibt es einen zweiten Vorschlag: Weihnachten geht auch ohne Geschenke: Im Religionsunterricht wird der erhobene Zeigefinger gegen den weihnachtlichen Konsumterror gezeigt, also wird dieses als Thema vorgeschlagen, knapp gehalten, fast aphoristisch.

11-L Das könnte sein, das müssen wir mal offen lassen. Sie äußert sich ja hier nur: „Holt mich bitte am 24., ich möchte bei euch sein“. F/w!

Die Vermutung der Schülerin, dass es jetzt um dieses Thema “Es geht auch ohne Geschenke zu Weihnachten“ geht, wird als denkbare Möglichkeit bestätigt, zugleich aber als ein weiteres „loses Ende“ hängen gelassen, es soll „offen“ bleiben, es wird nicht weiter aufgegriffen. Die Geschichte von der Frau gibt das nicht mit aller Deutlichkeit her, sondern nur aus dem Rückschluss auf ihre Rede am Telefon.
Die Möglichkeiten, warum diese Geschichte zum Medium der Auseinandersetzung genommen werden soll, werden allmählich enger: der „ehrliche Finder“ oder „Ehrlichkeit“ soll es nicht sein, obgleich dieses Thema für die Schüler/innen hinreichend anstößig erscheint und ihrer Lebenserfahrung widerspricht; „Weihnachten ohne Geschenke“ soll es auch nicht sein, das wäre zumindest sehr moralisch und sehr fade, ohne rechte Provokation. Was bleibt jetzt noch übrig?

12-F/w Also I glaub, dass sie halt merkt, dass, wenn sie ohne Geschenke do zu ihre Enkelkinder kommt, dass sie die no (dann) gar net irgendwie megat (mögen) oder sich no gar net für die intressieret. Und no isch die halt voll erleichtert, wo se no den Geldbeutel wieder sieht, no denkt se, haja, jetzt kann i ja die Gschenke kaufa, no kann i ja doch zu denna go (die besuchen), no meget die mi.

Ein neues Themenangebot: es handelt sich um eine Beziehungsgeschichte, das Verhältnis der Frau zu ihren Enkelkindern wird thematisiert. Es wird vermutet, dass die Frau annimmt, von ihren Enkelkindern nur dann gemocht zu werden, wenn sie Geschenke liefert. Wenn sie ihren Selbstwert aus dem Schenkenkönnen bezieht und die Beziehung zu den Enkeln von dort her definiert, dann wäre das ein diskutierbares Thema: Beziehung zwischen Enkeln und Großeltern, Geben und Nehmen in der Generationenbeziehung. Auch aus dieser Vermutung spricht eine Alltagserfahrung der Schülerin: Großeltern treten häufig nur als Geschenke-Machende in Erscheinung, einen anderen „Wert“ scheinen sie vordergründig für Enkel nicht zu haben. Auch dieses scheint ein hinreichend anstößiges Themenangebot zu sein. Greift der Lehrer diesen dritten Versuch auf?

13-L Erleichterung. Könnte noch was damit in Verbindung stehen? D/wi

Nein, er nimmt es nicht an. Er übergeht diesen Themenvorschlag vollständig. Diesmal ergeht auch nicht die freundliche Formel „stimmt, lassen wir offen“, sondern der Lehrer scheint genug von dem Ratespiel zu haben, der dritte Versuch ging für ihn auch daneben, mehr Zeit ist nicht, er wird ungeduldig und nennt das Ergebnis selbst: „Erleichterung“. Es geht also um eine bestimmte emotionale Gestimmtheit der Frau, um das Gefühl, das sie beim Wiederfinden hat. Die Tränen sollen gedeutet werden mit dem dazugehörenden Gefühl, das sie spürt, „Erleichterung“. Der Lehrer wirft das Wort ein, ganz unvermittelt, wie eine Definition. Er kleidet diesen Gefühlsausdruck noch nicht einmal in eine verbale Form („Sie ist erleichtert“, „sie fühlt sich erleichtert“), dicht an der Erzählung dran, sondern jetzt kommt die korrekte und abstrakte Definition, ein Wort, eine Vokabel, ein Stichwort. Seine Frage an die Schüler/innen, ob mit diesem Wort noch etwas in Verbindung stehen könnte, eröffnet ein neues, nun jedoch wesentlich enger gefasstes Ratespiel. Das Wortfeld zu „Erleichterung“ ist gefragt, die Gemütslagen, die sich in dem Umfeld oder Hof ausmachen lassen, Synonyme vielleicht, verwandte Begriffe.
Es scheint nun keine Rolle mehr zu spielen, ob die Geschichte „stimmt“ oder eine Erkenntnis von Wahrheit befördert. Es kommt auf ein bestimmtes Wort an, das der Lehrer hören wilI. Das Wort hat mit “Erleichterung“ zu tun.

14-D/w Vielleicht a Freude, dass se den jetzt wieder hoat
15-L Freude, dass man etwas wiedergefunden hat. Erleichterung, Freude.
16-D/w Au Freude, weil/ also, der/ also der wo’n gfunda lioat, des wieder zruckbrocht hoat.
17-L Ja
18-D/w Weil, so viel ehrliche Leut gibt’s ja au m/ grad heutzutag nimme so ( )
19-L Ehrlichkeit. Vielleicht noch ein Stichwort, dann komm mer in die richtige Richtung schon? H3/w!
2o-H3/w Vielleicht au dankbar, dass der den zrückbrocht hat, den Geldbeutel.
21-L Dankbarkeit. Lassen wir das mal stehen. Halten wir das ’n bißchen fest im Kopf: Erleichterung, Freude, Dankbarkeit, Ehrlichkeit.

Das Raten der Schülerinnen und die die Schüleräußerungen kommentierende Reaktion des Lehrers werden immer kleinschrittiger. Das Wörtersuchen lässt keinen Raum mehr für Begründungen oder gedanklichen Tiefgang. Der Lehrer bestätigt jedes Stichwort durch Wiederholung und reiht die gefundenen Wörter am Ende noch einmal auf, nachdem das letzte Stichwort „Dankbarkeit“ gefunden wurde: „Erleichterung, Freude, Dankbarkeit, Ehrlichkeit“. Das will er so „stehen lassen“. Ist er zufrieden mit dem Ergebnis? Ist das Ergebnis gerade genügend, reicht es aus für den weiteren Gang des Unterrichts? Schwer zu sagen, ein besonderes Lob für die Anstrengung der Begriffe ist nicht herauszuhören. Ist er am Ende ein wenig enttäuscht, dass mehr nicht gekommen ist? Ist er selbst überrascht davon, dass seine selbst ausgedachte Geschichte zu vier leichten Stichwörtern emotionaler Befindlichkeit geronnen ist? Oder war diese ganze Einleitung in die Unterrichtsstunde, die Themenkonstitution eine Sackgasse? Hätte er nicht gleich sagen können, dass es in der Stunde um „Erleichterung“ als Gefühl gehen soll? Die Stichworte sollen als Rahmen „im Kopf ein bißchen festgehalten“ werden für das Folgende. Sind sie gleichwohl nicht das Thema, weil sie nur „ein bißchen“ gelten sollen?

Der Lehrer ist „definitiv“ geworden, als er das Stichwort „Erleichterung“ nannte nach einer Reihe von Themenvorschlägen der Schüler/innen. Das „ein bißchen im Kopf festhalten“ hebt diese definitive Setzung wieder auf, bringt sie wieder in die Schwebe, macht eine Möglichkeit aus der Setzung, nicht eine Gewissheit. Die Schüler/innen können sich nicht sicher sein, dass das Thema nun gegeben ist. Zumal es als formaler Begriff auch wieder reizlos erscheint, wenig motivierend zur Auseinandersetzung.

Die didaktische Struktur des Unterrichts: Strukturhypothese I

Der Lehrer als steuernder Akteur des Unterrichts wirkt unsicher, übernimmt seine Rolle vorerst nicht, delegiert die Steuerungsfunktion an die Situation, an die Schüler/innen, wobei der Appell an Anstrengungsbereitschaft bei gleichzeitiger Versicherung von Belanglosigkeit und Alltäglichkeit des Gegenstands als paradoxe Intervention verstanden werden kann: angestrengte Lockerheit, formale Informalität, normale Anormalität sind seine Botschaften an die Schüler/innen.

Er gibt kein Thema, keine Aufgabe, keine Perspektive für diese Unterrichtsstunde vor. Das Ziel soll sich anscheinend aus den eingesetzten Materialien ergeben oder aus den impliziten Regeln des Unterrichts, so wie sonst auch, wie es „normal“ ist. Er scheint den Schüler/innen gegenüber nicht begründungspflichtig zu sein.

Stattdessen bietet er sich selbst, seine persönlichen Erfahrungen oder Denkwege anhand einer „Geschichte“ an, die ihm „eingefallen“ ist in der alltäglichen Situation des Einkaufens. Die Geschichte soll zum Medium der Themenkonstitution werden.

Der „Grund“, warum diese Geschichte erzählt wird, wofür sie als Medium herhalten soll, müsste sich aus ihrer Erschließung ergeben. Die Präsentation der Geschichte zu Beginn des Unterrichts ist die didaktische Eröffnung dessen, worum es geht, als eines offenen Möglichkeits-Horizonts. Die Schüler/innen werden noch nicht festgelegt darauf, sie können selbst prüfen oder erproben, ob und welche Möglichkeiten sie ergreifen. Die Rahmung ist offen für ihre Assoziationen. Die Leistungsanforderungen oder Aufgabenstellungen sind offen, aber auch unklar, ohne Begründung geblieben.

Nach der Text-Exposition sind die Schüler/innen am Zuge: sie bieten nacheinander drei verschiedene Themen an, die sich ihnen von dem Inhalt der Geschichte her ergeben. Sie zeigen, was für sie „anstößig“ oder „reizvoll“ ist oder ihre Deutungen herausfordert. Der Lehrer reagiert auf jede einzelne Schüleräußerung unmittelbar: bestätigend, markierend, beurteilend, sortierend. Er entscheidet, welche Deutung als „loses Ende“ hängenbleiben soll, nicht weiterzuverfolgen ist, und was als „roter Faden“ gelten kann. Weil keine der Schüleräußerungen dorthin führt, wo er sie haben will, nennt er das Erwünschte schließlich selbst, mit einem kurzen Begriff.

Die „Öffnung“ der Unterrichtssituation für die Assoziationen der Schüler/innen zu einer Geschichte hat sich damit als eine Sackgasse erwiesen oder als ein Irrweg. Lediglich das Stichwort des Lehrers selbst erscheint für den weiteren Verlauf des Unterrichts brauchbar; die Schüler/innen können gerade noch Synonyme suchen, das Wortfeld benennen. Die Balance zwischen thematischer Offenheit und Zielorientierung des Unterrichts wird kleinschrittig aufgelöst zugunsten eines Frage-Antwort-Schemas, bei dem die Schüler/innen raten, was der Lehrer hören möchte.

Welches Bild von Unterricht könnte sich hinter diesem Handlungsmuster durchsetzen? Möglicherweise ist für den Lehrer Unterricht wie ein fortlaufendes Experiment, bei dem Versuch und Irrtum aufeinander folgen. Lehrer wie Schüler/innen spielen mehr oder weniger mit dem Zufall. Ob sich das Thema der Stunde aus dem Eingangsimpuls der Geschichte ergibt oder nicht, wird probehandelnd geprüft. Ergibt es sich nicht, setzt der Lehrer es, indem er ein Stichwort nennt. Das Stichwort ist Ausgangspunkt für neue Versuch-und-Irrtum-Sequenzen.

Es ist durchaus möglich, dass dieser experimentelle Zugang auch für die Zielsetzung, Begründung oder Wirksamkeit des Unterrichts gilt: es liegt nicht von vornherein fest, was dabei herauskommen soll, alle Möglichkeiten bleiben offen, irgendetwas wird schon herauskommen. Was das am Ende ist, darüber befinden die Schüler/innen als Mitakteure des Unterrichts.

Handlungsräume und Lernchancen der Schüler/innen: Strukturhypothese II

Für die Schüler/innen scheint der Unterrichtsbeginn nichts Ungewöhnliches zu sein. Es gibt eine Vorgabe des Lehrers, einen Text als Medium, an dem sie sich assoziativ vermutend und deutend abarbeiten. Die Richtung, in die ihre Gedanken gehen sollen, weiß einzig und allein der Lehrer, der ihre Antworten prompt kommentierend beurteilt. Der Unterricht ist eine Art Ratespiel: sie können raten, was der Lehrer haben möchte, ihre Treffer sind eher „richtig“ oder eher „falsch“ im Sinne einer für sie selbst relativ unklaren Aufgabenstellung. Der Lehrer ist nicht unfreundlich, es gibt keine dezidierte Zurückweisung; wenn sie nicht mehr weiterwissen, weil ihnen nichts mehr einfällt, dann sagt er selbst, was er gemeint hat.

Der Lehrer braucht seine Handlungen oder Vorgaben vor ihnen nicht zu begründen, sie fragen ihn nicht danach. Von ihnen wird wie selbstverständlich erwartet, dass sie selbst „gründeln“, irgendetwas hervorholen, aus dem Text „herausholen“, wie in einem (trüben) Teich fischen. Sie zeigen ihre gedankenexperimentellen Funde, und der Lehrer befindet über deren Nutzen für seinen (geheimen) Unterrichtsplan.

Der persönliche Bezug zum Inhalt scheint keine Rolle zu spielen. Ihre eigenen Themenangebote, die sie aus dem Text herauslesen, werden nicht aufgegriffen, sondern als „loses Ende“ hängengelassen, als eine Möglichkeit „offen“ gehalten, wie der Lehrer sagt, ohne Gründe dafür anzuführen. Die vorgeschlagenen inhaltlichen Anschlusspunkte erscheinen wie ein Wildwuchs, der vom Lehrer in die erwünschte Form gestutzt wird. Seine Zurückweisung ist nicht unfreundlich: „lassen wir das mal so stehen“ ist keine dezidierte Ablehnung, sondern nur die Erklärung einer situationsbedingten Unbrauchbarkeit.

Die Leistungserwartungen an die Schülerinnen sind recht geringfügig: eigentlich müssen sie nur raten, was der Lehrer will, und wenn sie es nicht erraten, dann sagt er es selbst. Es lohnt sich in diesem System nicht besonders sich anzustrengen, zumal der Lehrer selbst sich mehr von Lockerheit, Zufälligkeit und Belanglosigkeit verspricht. Irgendetwas wird sich schon ergeben, dafür trägt der Lehrer die Sorge. Meist wird es ein Merksatz sein, ein Motto, eine moralische Weisheit, als Fazit formulierbar, oder ein Begriff. Sie können diesen Extrakt schon zu Beginn der Stunde versuchsweise formulieren, die Pointe schon mal setzen.

In dieser Eingangssequenz, in der sich das Thema der Stunde in einem Frage- und Bearbeitungshorizont für möglichst viele Individuen konstituieren sollte, werden sie an einer „kurzen Leine“ gehalten, die sie vor dem Abschweifen bewahrt. Ihre eigenen Denkbewegungen sind weitgehend unerwünscht oder würden Raum und Zeit brauchen, die ihnen nicht gewährt wird. Die Ökonomie des Unterrichts lässt eigene Wege zur Lösung komplexer Aufgaben nicht zu. Darüber besteht ein stillschweigendes Einverständnis.

Die Verlaufsstruktur der Unterrichtsstunde

Im Folgenden wird nun der Verlauf der Unterrichtsstunde skizziert, die einzelnen Abschnitte paraphrasiert. Dabei wird zugleich geprüft, ob es für die Strukturhypothesen I (Zielunklarheit, vage Aufgabenstellung, Kleinschrittigkeit, Reduktion auf Stichworte) und II (argumentierendes Erraten, Stellungnehmen zu begrenzten Details) weitere Anhaltspunkte oder widersprechende Aspekte gibt.

Nachdem der Lehrer in Stichpunkten das, worum es in der Geschichte von Rosa M. (und im weiteren Unterrichtsverlauf?) gehen soll, zusammengefasst hat, leitet er zum Thema der Unterrichtsstunde, der biblischen Geschichte aus „einer Zeit in der Jesus lebte“ über. Es geht um „Wiederfindenserfahrungen“, die den Menschen damals und heute gemeinsam seien.

Ein dreifach gefaltetes Arbeitsblatt wird den Schülerinnen ausgehändigt. Im ersten Teil steht die Rahmenhandlung aus Lk 15, die Empörung der Pharisäer und Schriftgelehrten darüber, dass Jesus sich mit Zöllnern und Sündern einlässt. Im zweiten Teil steht das Gleichnis vom verlorenen Schaf, im dritten Teil die Erläuterung der Freude im Himmel über reumütige Sünder. Das Arbeitsblatt wird nacheinander im Unterrichtsgespräch gedeutet. Dadurch besteht prinzipiell die Möglichkeit für die Schülerinnen, jeweils zur Situation der Erzählung, d.h. zum Sitz im Leben, zum Gleichnis selbst, und zur „Moral“ des Erzählers Stellung zu nehmen und darin verschiedene Bedeutungs-Schichten der Gleichniserzählung zu entdecken. Schließlich werden sie zum Schluss aufgefordert, eine Beziehung zwischen der alltäglichen Vorgeschichte von Rosa M. und der biblischen Gleichniserzählung herzustellen.

Die erste Aufgabe zur Rahmensituation wird als Frage formuliert: ob Jesus von den Pharisäern provoziert wird.

Die Schülerinnen tragen – nach einer kurzen Phase individueller Stillarbeit – Argumente zusammen:

  • Jesu Verhalten sei ähnlich wie der Kontakt mit Gefängnisinsassen,
  • Die Pharisäer lebten religiös korrekt in Abgrenzung von den Zöllnern,
  • Vergleich mit Asylbewerbern als Außenseiter der Gesellschaft,
  • Kritik am Verhalten der Pharisäer, die es sich angeblich leisten können, frömmer zu sein als die Zöllner,
  • Vermutung der Eifersucht der Pharisäer Jesus gegenüber,
  • Bestreiten der Vorbild-Funktion der Pharisäer, die gegen das Gleichbehandlungsprinzip verstießen.

Der Lehrer lässt keine Äußerung unkommentiert und schreibt als Fazit an die Tafel: „Zöllner, Sünder, Personen mit denen man nichts zu tun haben will. Pharisäer leben als religiöses Vorbild nach Regeln.“

Das Muster der Einordnung der Schülerkommentare in etwas, das entweder an die Tafel geschrieben wird oder vom Lehrer stereotyp mit „lassen wir das mal offen“ zurückgewiesen wird, wiederholt sich hier. Wenn Schülerinnen explizit andere Argumente als die vom Lehrer erwünschten und an die Tafel geschriebenen vorbringen, werden sie zwar nicht zurückgewiesen und auch nicht argumentativ widerlegt. Der Hinweis „lassen wir das mal so stehen“ signalisiert latent, dass sie „falsch“ liegen. Was können sie dabei lernen? Das Übergehen ihrer Argumente, das Hängenlassen als ein loses Ende, das „offen“ bleiben soll, vom Lehrer vielleicht subjektiv freundlich als Ausdruck für „nicht unbedingt falsch“ gemeint, trägt unter der Hand zu einem bipolaren Algorithmus von „Richtig“ und „Falsch“ bei: was der Lehrer bestätigt und dann an die Tafel schreibt, ist „richtig“, was stehenbleiben oder offenbleiben soll, ist „falsch“. Es kommt also darauf an, „Richtiges“ zu sagen und zu meinen. Was das letztlich ist, entscheidet der Lehrer nach Kriterien, die nicht offengelegt werden und sich auch nicht erschließen lassen. Man kann nur raten und am Tafelanschrieb prüfen, ob man „auf Linie“ liegt oder nicht.

Das nächstfolgende Medium, die Gleichniserzählung, wird vorgelesen und mit der Aufgabe versehen, das Verhalten des Hirten zu beschreiben und zu deuten. Wieder werden die Deutungen der Schülerinnen an die Tafel geschrieben, gleichsam als Belohnung für „richtige“ Deutungen.

Der Schlusssatz zur Freude im Himmel über einen reumütigen Sünder wird nicht mehr kommentiert. Die abschließende Aufgabe, die einzelnen Teile bzw. Medien der Unterrichtsstunde miteinander in Beziehung zu setzen, wird ohne eine strukturierende Hilfe durch den Lehrer gestellt. Die Schülerinnen versuchen, eine Beziehung zwischen Jesus als „Hirten“ und der Frömmigkeit der Pharisäer herzustellen, aber es gelingt nicht unter dem Zeitdruck und mit dem Pausengong im Nacken: „Ich weiß es jetzt au nimme“ ist das Fazit einer Schülerin, und der Lehrer antwortet mit einem dreifachen „lassen wir es mal stehen“.

Ertrag: Die didaktische Struktur des Falles

Die (in den Strukturhypothesen formulierten) Spannungen ziehen sich durch die Unterrichtsstunde hindurch:

  • Was als Erkenntnis, Wissen oder zu erwerbendes Können der Schüler/innen in dieser Stunde erreicht werden sollte, wird nicht klar, allenfalls implizit. Die implizite Zielsetzung ist eine Schwierigkeit für die Schüler/innen: sie müssen raten, wohin der Hase läuft.
  • Die Methode der biblischen Textexegese, der Erschließung von Sinn auf der Ebene der Erzählung und in Relation zur gegenwärtigen Lebenswirklichkeit, wird durch das Angebot einer Rahmenerzählung und durch die dreifache Gliederung der biblischen Perikope strukturiert, den Schüler/innen jedoch nicht bewusst als Interpretationsmethode verdeutlicht. Die Spannung von individuellem methodischem Verstehen im Medium eines kollektiven Prozesses des assoziativen Gesprächs wird durch Engführungen und Reduktionen im Tafelanschrieb gelöst.
  • Die Aufgaben des Lehrers an die Schüler/innen bleiben kleinschrittig. So muss der Versuch zum Ende der Unterrichtsstunde, einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Elementen des Unterrichts herzustellen, auch scheitern, weil es keine komplexe Aufgabenstellung oder Frage an die Schülerinnen gibt. Der Ausdruck der Verwirrung ist folgerichtig.
  • Auch die nach dem Pausengong erteilte Hausaufgabe „Einmal hier deutlich zu machen, wie ein Stück weit Jesus den Menschen versteht und unter Umständen auch seinen Gott“ wird schwer oder auch gar nicht zu lösen sein.
  • Die Medien der Auseinandersetzung, die Textstücke, sind prinzipiell geeignet und in einer Weise arrangiert, dass ein Wechsel der Deutungs-Perspektiven und auch kritisch-kontrastierende Stellungnahmen hervorgerufen werden können.

Weil jedoch die Aufgabe dieser Unterrichtsstunde oder der Kontext der Aufgabenstellung vage bleibt, endet alles unvermeidbar im Ungefähren: „lassen wir es mal so stehen“..

Zusammenfassung und Perspektiven weiterer Erforschung

Das ist keineswegs „schlechter“ Unterricht, trotz aller kritischen Lesarten. Der Lehrer gibt eine medial gegliederte Struktur vor, an die sich jeweils eine Frage oder Aufgabe zur argumentativen Auseinandersetzung anschließt. Der Ablauf ist damit auf der Schiene sukzessiver Textinterpretation gesichert. Der Schwierigkeit, einen biblischen Text sowohl historisch-kritisch als auch in seiner Relevanz für das eigene Leben zu deuten, begegnet der Lehrer dadurch, dass er die Rahmensituation, die Gleichniserzählung und den Kommentar des Evangelisten voneinander getrennt betrachten lässt, zusätzlich noch eine Erlebniserzählung aus dem Alltag als Folie der Übertragung in die Gegenwart anbietet.

Jeder Abschnitt verlockt die Schülerinnen zu Stellungnahmen, zu Reflektionen über allgemein menschliches Verhalten, zu psychologisierenden Deutungen. Sie aktivieren ein bestimmtes Vorwissen und sie versuchen, ihre Meinungen zu begründen. Lediglich der Zusammenhang fehlt, die übergreifende Zielsetzung des Arrangements, und die kann auch nicht additiv aus den einzelnen Elementen zusammengesetzt werden. Es bleibt verborgen, warum und zu welchem Zweck sie sich mit der Geschichte vom Verlorenen Schaf auseinandersetzen sollten.

Die thematische Offenheit, mit der der Lehrer das Gespräch führt, um den Erkenntnisprozess der Schülerinnen ihnen selbst zu überlassen, erweist sich als didaktische Verhinderung von Erkenntnissen: jede Äußerung wird vom Lehrer bewertet, einzelne Äußerungen werden als Extrakt an die Tafel geschrieben, andere werden ausdrücklich „stehengelassen“. Die latente Durchmusterung nach „richtig“ oder „falsch“, „brauchbar“ oder „nicht brauchbar“, „wichtig“ bzw. „nicht wichtig“ im Sinne der Zielsetzung, ist offensichtlich, ohne dass sich erschließt, nach welchen Kriterien der Lehrer diese Zuordnung setzt. Ein Rückgriff auf den jeweiligen Text, auf Begründungen anhand des Textes, erfolgt ebenso wenig wie eine Explikation des methodischen Vorgehens. Am Ende ist alles offen, auch der Ertrag. Was es in dieser Stunde zu lernen gab, kann man nicht sagen.

Jedoch werden einige unausweichliche Antinomien des Lehrerhandelns sehr deutlich: das Dilemma zwischen einer Öffnung und einer Zielgerichtetheit des Unterrichts; die Stimulierung von Meinungen und Einstellungen der Schüler/innen auf der einen Seite und das Erfordernis, diese Meinungen weiterzuentwickeln, auf der anderen Seite der Appell an Bereitwilligkeit und Anstrengungsbereitschaft der Schülerinnen bei gleichzeitiger Unbestimmtheit des Inhalts, auf den sich die Anstrengung richten soll; die doppelte Bedeutsamkeit eines Textes als Text und als Angebot der Selbsterkenntnis; die kleinschrittige Abfolge der Aufgabenstellungen als Unterstützung und zugleich Verengung der Verstehensmöglichkeiten. Das alles geschieht auch offenkundig unter Zeitdruck, so dass geradezu paradoxe Interventionen an die Schüler/innen getragen werden: sie sollen sich auf einen Text einlassen, daraus etwas erkennen, aber-wiederholt- „ganz kurz“. Ob der Unterricht auf diese Weise zur Selbst-Banalisierung seines Gegenstands beiträgt, d.h. wenn am Ende als Zusammenfassung Formeln und Sätze wie „Wiederfinden macht Freude“ oder „Jesus hat immer recht“ als Ertrag haften bleiben, das wäre anhand einer mehrstündigen Unterrichtssequenz ebenso zu prüfen wie an hierzu kontrastierenden Fällen.

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Wernet, Andreas (2000): Einführung in die Interpretationstechnik der Objektiven Hermeneutik. Opladen.

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