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Falldarstellung
(…)
Wir greifen im Folgenden (…) Szenen für eine detaillierte Analyse heraus, die für die interaktive Handhabung des Streber-Motivs besonders aufschlussreich sind. (…)
In einer dritten Szene geht es um den Versuch einer Lehrerin, die Streber-Thematik pädagogisch zu bearbeiten. Das vorliegende Material ist das Gedächtnisprotokoll einer Tutorenstunde in der zweiten von uns beobachteten Schulklasse an einer reformorientierten Gesamtschule. Diese Klasse wird von den Lehrern als potentiell leistungsstark, aber besonders undiszipliniert charakterisiert.
Die Lehrerin Frau Schütte sagt im letzten Drittel der Tutorenstunde, sie habe da noch ein Problem: In der letzten Bio-Stunde sei das Wort „Streber“ gefallen; den Begriff wolle sie jetzt mal zur Diskussion stellen. Frau Schütte stellt die Frage in den Raum: „Was verbindet ihr mit ‚Streber’?“
Ein Streber sei einer, der viel für die Schule tue, der viel lerne, lauten die ersten Antworten.
Frau Schütte greift das gleich auf und wendet ein, dann müsse ja Karsten ganz oben auf dem „Streberstuhl“ sitzen (was ist das oder hab ich mich verhört?). Sie wisse genau, dass Karsten nicht einschlafen könne, bevor er nicht wisse, dass er gut auf die Schule am nächsten Tag vorbereitet sei. Karsten grinst etwas verlegen, scheint mir aber nicht böse über das ‚Outing‘. Gisela stöhnt spontan auf „Oh Gott!“ Einige lachen und Frau Schütte wendet sich gleich ihr zu, sie müsse mal nicht so laut sein, sie lerne doch auch für die Schule. (Gisela ist eine sehr gute Schülerin.) Gisela ergreift das Wort, sie richtet sich im Sitzen auf und sagt, sie müsse das klarstellen: Sie sei zwar ganz gut, aber sie würde nicht zuhause für die Schule lernen. Sie verleiht ihren Worten Nachdruck mit einer ausladenden Gestik. Einige lachen – mir scheint mit Sympathie für Gisela – doch auch etwas ungläubig. „Tonne“, der neben Frau Schütte sitzt, nimmt Gisela in Schutz: Er selber z.B. würde nicht lernen, aber deshalb könne er’s eben auch nicht. Wenn er lernen würde … fährt Tonne grinsend fort, würde er’s auch nicht können. Frau Schütte schaut ihn etwas säuerlich von der Seite an.
Es kommen weitere Definitionsversuche zum „Streber“. Einer, der so viel lerne, dass er nachmittags keine Zeit mehr habe. Dass er seine Freunde vernachlässige. Und das sei z.B. bei Karsten nicht der Fall, der habe nachmittags immer Zeit, berichtet ein Mädchen, was auch prompt ein „ui ui ui“ auslöst.
Nach einer Weile resümiert die Lehrerin: „Wenn ich mal zusammenfassen sollte, was ihr jetzt so gesagt habt, dann läuft das darauf hinaus, dass man ja nichts für die Schule tun soll!“ Um diese Haltung zu problematisieren wird sie ironisch: Man müsse ja auch keinen brauchbaren Schulabschluss machen, es interessiere sich heutzutage ja auch keiner dafür, ob man eine Ausbildung und einen Arbeitsplatz bekomme, die Eltern würden ja gerne immer weiter für ihre Kinder bezahlen… Im Übrigen, argumentiert Frau Schütte, seien die Noten in der Klasse so schlecht, dass gar keine Streber dabei sein könnten. (Georg Breidenstein)
Interpretation
Die Lehrerin hat ein Problem mit dem Begriff des „Strebers“ – das ist verständlich angesichts der Implikationen des Streber-Begriffs, die schon herausgearbeitet wurden: Er problematisiert und stigmatisiert (potentiell) herausragende schulische Leistungen. Wenn schulischer Erfolg als „streben“ gebrandmarkt wird, muss sich eine Pädagogin auf den Plan gerufen fühlen. Interessant ist in der beschriebenen Szene das Schicksal, das Frau Schüttes Versuch der pädagogischen Bearbeitung der Streber-Thematik erleidet.
Die Lehrerin versucht zunächst die Moralisierung des Themas zu vermeiden und fragt sachlich-deskriptiv – sich der Schülerkultur zuwendend – nach der Bedeutung des Streber-Begriffes. Die Schüler antworten auf der Ebene von Begriffsklärung und Definition, womit nun allerdings die Implikation des Streber-Etiketts expliziert ist und im Raume steht: „Ein Streber ist einer, der viel für die Schule tut.“ – Das kann eine Lehrerin unmöglich so stehen lassen, Frau Schütte beginnt nun gegen die Verknüpfung von „Lernen“ und „Streber“ zu argumentieren und zwar anhand eines konkreten Beispiels: Sie wählt mit Bedacht Karsten als einen Schüler, der gute Noten hat, aber dennoch beliebt (und zudem ,jugendkulturell’ orientiert) ist und nicht als „Streber“ gilt. Frau Schütte hofft mithilfe des Verweises auf Karsten, das Lernen als solches rehabilitieren zu können. Mit ihrer spontanen Reaktion auf Giselas Stöhnen verfängt sie sich dann jedoch in der prekären Logik des ‚Outing’: Wenn man einzelne populäre Beispiele für ein anrüchiges Label veröffentlicht, um dieses zu ‚normalisieren’, kommt man nicht umhin, dieses Label zu verwenden und seine (potentiell) stigmatisierende Kraft zu bestätigen. Wenn Frau Schütte Gisela entgegnet, sie müsse mal nicht so laut sein, sie lerne doch auch für die Schule, dann bricht die negative Konnotation des „Lernens“ in diesem zweiten Outing wieder durch. Gisela wird als Mitglied einer (fragwürdigen) Minoritätengemeinschaft hingestellt, die als diskreditierte sich zu fügen habe.
Dieses Problem verstärkt sich noch in Giselas Verteidigungsversuchen und dann vor allem in „Tonnes“ raffinierter Intervention: Zunächst einmal stellt er – ganz im Sinne der Lehrerin – einen Zusammenhang zwischen „lernen“ und „können“ her, aber nur um diesen im nächsten Satz wieder zu dementieren. Frau Schütte ist diesem Manöver hilflos ausgeliefert, da Tonne es gewitzt anhand der eigenen Person vollführt (es sozusagen im Modus des ‚Selbst-Outings’, aber jetzt hinsichtlich des Nicht-Könnens vollführt). Damit besiegelt er das Scheitern von Frau Schüttes Strategie „Lernen“ zu normalisieren.
Im weiteren Verlauf der Tutorenstunde wird die Problematik wieder etwas entschärft. Das Angebot einer Definition des Strebers als einer, der so viel lerne, dass er nachmittags keine Zeit habe und seine Freunde vernachlässige, hätte möglicherweise für die Lehrerin akzeptabel sein können. Doch diese ist inzwischen so aufgebracht, dass sie die Schüleräußerungen dahingehend „zusammenfasst“, „dass man ja nichts für die Schule tun soll“. Sie versucht in dieser Überspitzung und weiteren Sarkasmen die (unterstellte) schuldistanzierte Haltung ihrer Klasse anzuprangern. Doch letztlich wirkt die Moralisierung des Themas, die die Lehrerin zunächst vermeiden wollte, tatsächlich hilflos. Auch ihr letztes Argument, die Noten der Klasse seien so schlecht, dass gar keine Streber dabei sein könnten, dürfte dem Streber-Diskurs nicht viel anhaben können. Denn es verfehlt dessen Logik: Anlass für den Streber-Diskurs sind nicht absolute Leistungen, sondern die Relationierung schulischen Erfolgs unter den Mitgliedern der eigenen Schulklasse, unter denjenigen, die miteinander verglichen und aneinander gemessen werden. Die jeweils Besten der Klasse geraten unweigerlich und nachhaltig in den Streberverdacht.
Frau Schüttes Misserfolg in dieser Szene kann nicht ihrem Ungeschick angelastet werden – es macht vielmehr die Struktur des Streber-Diskurses deutlich, die sich ihrem Einfluss entzieht. Insgesamt betrachtet wird auch in dieser Szene, die den Versuch der pädagogischen Thematisierung des Streber-Etiketts (und dessen Scheitern) dokumentiert, deutlich, mit welcher elementaren Wirkungsmacht der Streber-Diskurs ausgestattet ist. Es bestätigt sich, was auch in den vorangegangenen Analysen schon enthalten war: l. Das Streber-Etikett ist unweigerlich negativ konnotiert. 2. Es sanktioniert „lernen“ bzw. „etwas für die Schule tun“, sofern es über das „Nötigste“ hinausgeht. Und 3. (das ist die Erfahrung aus der „Tutorenstunde“): Dieser Effekt lässt sich kaum dadurch bekämpfen, dass man argumentativ für den Sinn des Lernens eintritt.
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