Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im Folgenden wollen wir das Protokoll einer Vertretungsstunde betrachten, an welchem sich genauer untersuchen lässt, wie sich die Kinder bzw. Jugendlichen zur Unterrichtssituation und zur Schülerrolle ins Verhältnis setzen.
Die Vertretungsstunde ist im Rahmen des schulischen Alltags durch einige Besonderheiten gekennzeichnet, die sie einerseits (zunächst) wenig „repräsentativ“ erscheinen lässt, die aber andererseits ein spezifisches Erkenntnispotential ausmachen und die Bedingungen der „Normalität“ von Unterricht in deutlicherer Weise hervortreten lassen: Expliziter als in herkömmlichen Stunden muss der Rahmen der Unterrichtssituation hergestellt werden. Wer ist die Lehrperson? Wird jetzt „richtiger“ Unterricht abgehalten? Welches Fach wird behandelt? Bezieht sich der Inhalt auf andere Unterrichtsstunden?
All diese Fragen bedürfen der Klärung. Andere Schwierigkeiten treten hinzu: Es ist weitaus problematischer für die Lehrperson, auf ihre Sanktionsgewalt zurückzugreifen, insbesondere in Form der Notengebung, wenn es sich zudem um eine der Lehrperson unbekannte Klasse handelt. Das Thema knüpft selten an den vorangegangenen Unterricht an, so dass es auch für die Schülerinnen zur Schwierigkeit wird, den Inhalt der Stunde, einzuordnen. Dennoch sind alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer aufgefordert, diese 45 Minuten mit etwas Sinnvollem zu füllen und als Situation aufrechtzuerhalten.
In der Vertretungsstunde werden die ansonsten impliziten Strukturen und Routinen von „Unterricht“ zumindest zum Teil zum Gegenstand der Aushandlung und damit der Beobachtung zugänglich. Insofern könnten sich gerade Beobachtungen aus Vertretungsstunden eignen, um bestimmte Handlungsmuster und Routinen des Umgangs mit Unterricht zu analysieren. Doch nun zum Protokoll:

Vorm Klassenraum beeilen sich Fabienne und Helena, die besten Sitzplätze zu bekommen. Sie setzen sich etwas anders als sonst in diesem Raum. Die Lehrerin kommt rein, ich stelle mich vor, sie ist jung und dynamisch. Sie begrüßt die Klasse, mit der sie noch nie das Vergnügen gehabt habe. Sie beginnt, ein Gedicht vorzulesen: Eine sachliche Romanze: Als sie einander acht Jahre kannten (Und man darf sagen, sie kannten sich gut), Kam ihre Liebe plötzlich abhanden. Wie andern Leuten ein Stock oder Hut. Sie waren traurig, betrugen sich heiter, Versuchten Küsse, als ob nichts sei, Und sahen sich an und wussten nicht weiter. Da weinte sie schließlich und er stand dabei. Vom Fenster aus konnte man Schiffen winken. Er sagte, es wäre schon Viertel nach vier Und Zeit, irgendwo Kaffee zu trinken. Nebenan übte ein Mensch Klavier. Sie gingen ins kleinste Café am Ort Und rührten in ihren Tassen. Am Abend saßen sie immer noch dort. Sie saßen allein, und sie sprachen kein Wort Und konnten es einfach nicht fassen. Sie nennt den Autor nicht, ich frage sie später danach: Erich Kästner.

In dieser Anfangssequenz wird die Andersartigkeit der Situation deutlich: Die normalerweise festgelegte „Sitzordnung“ ist bei einer Vertretungslehrerin aufgehoben und man ist frei, sich neue Plätze zu suchen. Die Lehrerin geht mit ihrer saloppen und etwas ironischen Begrüßung kurz auf das Neue und Außergewöhnliche der Situation ein. Dann beginnt sie sehr unvermittelt, ohne weitere Rahmung oder Klärung der Situation, mit dem Verlesen eines Gedichtes. Sie stellt sich nicht näher vor, sie formuliert kein Ziel für die Stunde, sie nennt noch nicht einmal das „Fach“, dem die folgenden Aktivitäten zuzuordnen wären. Für die Schülerinnen ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob es sich hier um „wirklichen“ Unterricht handelt, ob dies ein Auftakt zu einem (Unterrichts-) Gespräch darstellen soll, und welcher Art dieses sein könnte. Eine Reihe von Schülerroutinen kann bei der unbekannten Lehrerin die zudem orientierende Rahmungen verweigert, noch nicht greifen. Weder weiß man, welches Heft herauszuholen ist, noch welcher Art die Anforderungen an das eigene Handeln sein werden und welcher Raum für Nebenbeschäftigung sich eröffnet. (In der Verweigerung dieser Routinen liegt vermutlich auch die didaktische Absicht dieses ungewöhnlichen Stundenbeginns.)

Sie fordert die Schüler/innen auf, zu sagen, was denn verlorengegangen sei. Niemand meldet sich. Frau Unbekannt zeigt auf einige, was sie nicht gerne mache, wie sie meint, aber leider kenne sie die Namen nicht. Susanne kommt dran, sie antwortet pflichtbewusst wie immer. Dann fragt die Lehrerin „die Herren der Schöpfung, die müssen ja auch ne Meinung dazu haben? Hier, im weinroten Pullover.“ Rolf hat einen weinroten Sweater an, er tut erst so, als sei er nicht gemeint, fasst seinen Sweater an, beäugt ihn, zeigt dann auf Thomas. Dann meint er nur, er habe keine andere Meinung. Die Lehrerin fragt noch mal, was denn abhanden gekommen sei, Sabine hinten halblaut: „Das Auto.“

Die Lehrerin mobilisiert jetzt bekannte Routinen der Unterrichtssituation: Sie stellt eine Verständnisfrage zum verlesenen Gedicht. Es handelt sich um eine klassische „Lehrerfrage“, bei der die Schüler davon ausgehen müssen, dass die Lehrperson die Antwort auf ihre Frage weiß und dass die Frage dazu dient, das Verständnis der Schüler zu überprüfen (vgl. z.B. Kalthoff 1995). Doch die Schülerinnen und Schüler lassen sich in dieses „Unterrichtsgespräch“ nicht so schnell einbeziehen. Sie melden sich nicht freiwillig, sondern lassen die Leitung des Geschehens vollkommen in der Hand der Lehrerin, diese muss die Schülerinnen aufrufen und auf sie zeigen. Sie antworten nur, wenn sie „dran genommen“ werden und auch dann nur „pflichtbewusst“ – Kooperation nur so weit wie unbedingt notwendig, Mitarbeit nur unter dem Vorzeichen der Unvermeidlichkeit. Rolf markiert den Charakter der Unfreiwilligkeit mit großer Deutlichkeit: Er zögert seine Antwort hinaus, bis sie unausweichlich wird und lässt sie dann belanglos ausfallen. Frau Unbekannt fehlt eine wichtige Voraussetzung für ein klassisches „Unterrichtsgespräch“: Spezifisches Wissen über die Klasse, das es ihr ermöglichen würde, einzelne Schülerinnen mit genaueren Erwartungen anzusprechen. Sie verfügt zwar über die Macht des „Drannehmens“, aber sie muss die Klasse pauschal und anonym ansprechen. In dieser (schützenden) Anonymität verharren die Jugendlichen. Sabines halblauter Kommentar schließlich bringt zugleich die Banalität der Frage der Lehrerin und die Absurdität der Situation auf den Punkt.

Schließlich meint die Lehrerin, so könne das Ende einer Liebe aussehen, nun würden sie sich mal dem Anfang zuwenden. Damit teilt sie den Text „Meine erste Liebe“ von Stefan Mielchen aus. Dort geht es darum, dass sich ein Schüler, der sich eher zu den weniger Attraktiven zählt, während einer Schuldisco von einer Schülerin zum Tanzen aufgefordert wird. Daraufhin „verliebt“ er sich in sie, als er sie jedoch am nächsten Tag in der Schule ansprechen will, sieht er sie mit einem anderen Jungen, der wohl eher zu den Coolen zählt, händchenhaltend den Schulflur entlang gehen. Ich denke mir, dass es doch ganz spannend wird, packe schnell das Mikro aus und lege es ungefragt Jim und John auf den Platz.

Die Lehrerin bricht das „Unterrichtsgespräch“ ab, indem sie das erste Gedicht sehr knapp resümiert und danach mit einem neuen Text ansetzt. Auch jetzt wird zwar eine allbekannte Handlung im Unterricht vollzogen (einen Text lesen), allerdings ist immer noch nicht klar, worum es denn in dieser Stunde nun gehen soll? Will die Lehrerin über „Liebe“ und „Verliebtheit“ sprechen? Ist das eine Deutschstunde?

Interessant ist die Reaktion der Ethnographin: Sie hält die Situation jetzt doch für so aufschlussreich, dass sie sie in detaillierter Form per technischer Aufzeichnung dokumentieren möchte. Sie ist sogar so unhöflich, das Mikrophon, ohne sich das explizite Einverständnis der beiden Jungen zu holen, vor diese hinzulegen. Was macht die Situation auf einmal so „spannend“? Offenbar die Herausforderung, die in der Thematik des Textes liegt: Liebe unter Schülern und Schülerinnen. Wie werden sich die Mädchen und Jungen dazu verhalten? Fühlen sie sich in ihrem eigenen Umgang mit dem Thema Liebe und Verliebtheit angesprochen?

Den Text lesen nacheinander John, Anton und Jim laut vor. Während des Lesens lesen einige ernst mit, zwischen Monika und Kathi geht ein Block hin und her, Fabienne und Helena grinsen, Susanne und Sabine amüsieren sich über Susannes Kommentare. Die Lehrerin fragt, ob es immer noch diese Unterscheidung in zwei Klassen von Jungs gäbe, die Coolen und die Loser? Dann nennt sie einfach einen Namen aus dem Klassenbuch: „Josephine.“ Die antwortet nicht. „Wer ist Josephine?“ Astrid und Johanna zeigen auf die zwischen ihnen sitzende Josephine. Die wird rot bei ihrer Antwort, dass es jetzt andersrum wäre: Die Mädchen bräuchten nur mit den Fingern schnipsen und die Jungs würden ihnen hinterherrennen.

Das Vorlesen des Textes mit verteilten Rollen ist eine im Deutschunterricht übliche Handlungsweise, auch die Schülerinnen scheinen sich nun einigermaßen in der Situation eingerichtet zu haben, zumindest so weit, dass sie einen sicheren Raum für ihre „Nebenbeschäftigungen“ ausgemacht haben.
Die anschließende Frage der Lehrerin ist brisant: Einerseits bezieht sie sich auf den Inhalt des Textes (Unterrichtsroutine), andererseits fragt sie nach einem auch außerhalb des unterrichtlichen Kontextes relevanten Thema. Da zudem Unterricht immer sowohl im schulischen Kontext als auch im Kontext der Peer-Welt(en) steht, können alle möglichen „Unterrichtsgegenstände“ im Rahmen der Peer-Kultur der Schülerinnen und Schüler eine zweite (völlig eigenständige) Bedeutung erhalten (vgl. Breidenstein/Kelle 2002). Diese Überlagerung der verschiedenen Bedeutungen wird durch bestimmte Themen noch dynamisiert: Wenn im Unterricht etwa das Geschlechterverhältnis angesprochen wird, dann kann der Unterrichtsdiskurs direkt zum Material im Rahmen peer-kultureller Auseinandersetzungen werden (vgl. Breidenstein/Kelle 1998, S. 47ff; Rusch/Thiemann 2003, S. 26ff.). Dieses doppelten Kontextes muss man sich als Schülerin bewusst sein, man muss zu kalkulieren versuchen was mit einer „Schülerantwort“ im Rahmen des Unterrichts gleichzeitig im Rahmen der Peer-Welt passieren kann. Josephine versucht zunächst, der Beantwortung auszuweichen, indem sie sich nicht zu erkennen gibt – sie verweigert damit aber auch die Schülerrolle. Als die Lehrerin insistiert, wird Josephine schließlich von ihren Freundinnen „verraten“. Aber auch diese Form der Kooperation mit der Lehrerin war schon (fast) unausweichlich geworden: Wie hätte Josephine ihre Identifizierung noch länger verweigern sollen ohne die Situation eskalieren zu lassen? Der Spielraum war ausgereizt. Zugleich haben Astrid und Johanna vermutlich Spaß daran, Josephine in Verlegenheit zu bringen. An Josephines Antwort wird deutlich, in welch prekärer Lage sie sich befindet: Das bisher etablierte Muster der Klasse im Umgang mit dieser Lehrerin weiterzuführen, indem sie nur kurz angebunden bejahen oder verneinen würde, erscheint nicht angemessen, wenn sie den Rezeptionskontext der Peer-Kultur beachtet: Was denkt ihre beste Freundin darüber? Was denkt ihre Intimfeindin darüber? Ist ihre Antwort cool genug? Was denken die Jungs darüber? Josephine löst ihr Dilemma nur notdürftig, indem sie zu Ironie und Überzeichnung greift.

Derweil unterhalten sich Jim und John über Klamotten, (dunkelblaues Jackett, ockerfarbene Hose, Schlips oder Fliege? Welche Schuhe? Es geht wohl um die Jugendweihe?) Dann fragt die Lehrerin nach Diskos, erzählt, dass es früher Schuldiscos gegeben habe von 16-21 Uhr, sie fragt: „Wie ist das heute? Wer war schon mal zur Disco? Wann fangen die heute an? Wer hat da Informationen?“ Sie nimmt Alexandra dran, die meint, es gebe hier eine von 15-18 Uhr, die fetze aber nicht, sie ginge nicht so oft in die Disco. Ihre Freundin und Banknachbarin Kathi lacht, während Alexandra redet. Die Antworten scheinen mir insgesamt recht unwillig gegeben. Die Lehrerin sitzt vorn recht entspannt, ist ziemlich locker. Niemand meldet sich auf ihre Fragen, sie muss immer wieder jemanden dran nehmen. Die Jungs lesen derweil das auf der Rückseite der Textkopie abgedruckte Gedicht und amüsieren sich darüber.

Wie Josephine zuvor gerät nun Alexandra in eine schwierige Lage: Sie kann sich weder der Aufforderung der Lehrerin noch der Rezeption ihrer Antwort innerhalb der Peer-Welt entziehen. Alexandra ist im Besitz von „Informationen“, was sie gleichzeitig als eine „Jugendliche“ auszeichnet, die offensichtlich auch die Qualität einer Disco einschätzen kann. Ein wichtiges Merkmal der Distinktion in dieser Klasse ist die Unterscheidung zwischen den „Kindlichen“ und den „Jugendlichen“. Alexandra gehört zu jener Clique, die sich gegenüber anderen Schülerinnen als den viel zu „kindlichen“ abgrenzt. Doch worüber amüsiert sich ihre Freundin Kathi so? Ist das Schadenfreude, weil es Alexandra „erwischt“ hat? Oder freut sie sich darüber, dass Alexandra der Lehrerin nicht alle „Informationen“ preisgibt?
Erstaunlich ist dabei die Haltung der Lehrerin, die als „ziemlich entspannt“ und „recht locker“ beschrieben wird, obwohl man bei der ihr entgegen gebrachten Ablehnung eher Frustration erwarten würde. Rechnet sie damit, dass auf ihre Frage nur stockende Antworten kommen können, weil sie in brisantes Terrain hineinfragt?

Dann lässt die Lehrerin abstimmen, wer der Meinung sei, dass es dieses alte Rollenbild noch gebe, mit einer Zwei-Klasseneinteilung der Jungs in Draufgänger und so? Niemand meldet sich. Wer fürs neue sei, dass die Mädchen nur mit den Fingern schnipsen müssten und die Jungs scharen sich um sie? Wieder niemand. Sie macht kurz Pause, fragt, wer für beides sei, da melden sich die meisten. Die Lehrerin stimmt dem zu, sie denkt auch, dass es charakterlich abhängig sei. Dann fragt sie, was sich zwischen dem ersten und letzen Satz geändert habe und nimmt Tanja dran. Jim und John amüsieren sich auf ihre Art über den Text: John: „Oder: die hat sich aus Versehen den falschen gesucht, die wollte eigentlich mit nem andern tanzen.“ Dann singen sie beide: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht, alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu.“

Mit der Abstimmung scheint die Lehrerin nun eine der zentralen Schüleraktivitäten des Unterrichts erzwingen zu wollen: das Melden. Allerdings führt auch dieser Versuch in eine prekäre Lage, als sich auf die ersten beiden Alternativen niemand meldet – obwohl die zweite Alternative wenige Minuten zuvor von Josephine selbst formuliert worden war, stimmen weder sie noch eine ihrer Mitschülerinnen dem nun zu. Auch die Lehrerin scheint irritiert zu sein, erst nach einer kurzen Pause bietet sie eine dritte Variante an, die die vorherigen Alternativen harmonisiert. Hier melden sich nun die Schülerinnen – zumindest so viele, dass die Situation als gerettet angesehen werden kann: Hätte es hier wiederum keiner getan, wäre es ein offener Affront gegen die Lehrerin gewesen, und die Unterrichtskommunikation wäre endgültig in der Sackgasse gelandet. Doch daran scheint niemandem gelegen zu sein. Frau Unbekannt und die Schülerinnen finden einen Weg, die Situation ohne Unterbrechung weiterlaufen zu lassen. Nach dieser Sequenz geht Frau Unbekannt schnell wieder zu herkömmlichen Routinen des Unterrichts über: Inhaltlich geht es nun um Fragen des Textverständnisses. Währenddessen amüsieren sich Jim und John miteinander auf ihre ruhige und routinierte Art – sie haben sich in dieser „Vertretungsstunde“ längst eingerichtet.

Die Lehrerin scheint jetzt keine Lust mehr auf dieses Spiel zu haben (obwohl sie sich weder frustriert oder ärgerlich anhört): „So, Deutschhefter raus, Überschrift: Meine erste Liebe, Stefan Mielchen.“ Einige stöhnen, einige sitzen einfach rum, als hätte es diese Aufforderung nicht gegeben, die Jungs haben ihren Stuhl gekippt an die Wand gelehnt. So langsam merken sie, dass es unausweichlich wird, hier etwas machen zu müssen und holen ihre Hefter raus (John: „Der Hefter für die Vertretungsstunden!“) und schreiben langsam ab: Meine erste Liebe Stefan Mielchen 1. Welche Probleme hat er beim Umgang mit dem anderen Geschlecht und warum? 2. Welche Veränderungen der Gefühle erlebt er? Wie sind sie zu erklären? 3. Bestimme die Erzählperspektive!

Die Beobachterin interpretiert das Verhalten der Lehrerin als Registerwechsel (das Ende „dieses Spiels“). Die Rahmung des Geschehens wird jetzt vollständig geklärt und expliziert: Es handelt sich um eine Unterrichtsstunde im Fach Deutsch. Der „Deutschhefter“ hat Signalwirkung und entspannt gleichzeitig die Situation: Auch das vorherige, etwas holprige Geschehen kann nun als Annäherung an den Text verstanden werden und die Fragen der Lehrerin werden in einen sachlichen Kontext gestellt. Mit dieser Geste wird also nicht nur das zukünftige Geschehen in einen klareren Rahmen eingeordnet, sondern auch das bisherige Geschehen entschärft. Die Lehrerin zieht sich auf basale Unterrichtsroutinen zurück: Das Bearbeiten von Aufgaben. Haben die Schülerinnen sie zu diesem „Rückzug“ gezwungen? Wäre der Lehrerin mehr an einem Gespräch über das Gedicht gelegen gewesen und die Bearbeitung der Aufgaben ist ein resignierter und zeitfüllender Ersatz? Johns Kommentar („der Hefter- für Vertretungsstunden“) bringt allerdings die gerade mühsam als „Deutschstunde“ restaurierte Situation in ihrer Nicht-Selbstverständlichkeit auf den Punkt: Es gibt eigentlich keinen Ort für den behandelten Stoff, es handelt sich bei dem Ganzen nach wie vor um „Vertretung“.

Während die Lehrerin anschreibt, sehe ich Fabienne und Helena Gummitiere essen. John und Jim schreiben ab. Es wird etwas ruhiger, als die Lehrerin sich in die Mitte der Klasse neben Franny stellt. Dann kommt sie rum und setzt sich neben mich, fragt, was ich hier genau mache. Sie ist sehr nett und sehr interessiert. Ich bekomme einige Blicke, u.a. von Josephine, Monika, Kathi, als ich mich mit ihr unterhalte, sie schauen wohl, wo die Lehrerin gerade ist. Frau Unbekannt versperrt mir allerdings die Sicht auf John und Jim. Die unterhalten sich über Musik, wie ich auf der MD nachhören kann, um sich dann nach einer geraumen Weile den Aufgaben zuzuwenden.

Das klärende Wort „Deutschhefter“ hat die Situation tatsächlich beruhigt: Jeder weiß, was nun zu tun ist, wie man sich zu verhalten hat und welcher Freiraum gegeben ist. Die offenbare Entspannung aller Teilnehmerinnen der Situation hängt womöglich damit zusammen, dass die vorherigen Unwägbarkeiten hinsichtlich des richtigen bzw. angemessenen Handelns in dieser Situation nun durch einen klaren Rahmen beseitigt sind. Während die Ethnographin das gesamte Geschehen in der Klasse im Blick hat, zeichnet das Mikrophon die Unterhaltung zwischen John und Jim auf:

John: Welche Probleme hat er beim Umgang mit dem anderen Geschlecht und warum?
Jim: Er will sie ficken.
Beide lachen.
Jim: Oh.
John: Tja, tja, jetzt biste drauf.
Jim: Er hat sexuelle, äh-
Die Lehrerin ermahnt wieder.
John: Findet keine Freundin.
Jim: Was isn das fürn Problem?
Beide lachen.
John: Also: hat keine Chance gegen die coolen Jungs.
Jim wiederholt, leiser.
Jim: Er hat Angst-
John: Welche Veränderung der Gefühle erlebt er-
Jim: Er ist zu schüchtern.
John: Na, erst ist er verliebt, erst, ist er, verliebt, dann, dann kann er-
Jim unterhält sich mit Rolf.
John: -zwischen, nee, ich bin schon bei Zweitens, dann ist er sauer auf, dann ist er eifersüchtig
Jim: -auf den anderen.
John: eifersüchtig. Und später-
Jim: Böse.
John: -kann er sie nicht mehr leiden.
Jim: Ist er enttäuscht.
John: Bestimme die Erzählperspektive. Das lyrische Ich. Nee. Oder?
Jim: Was? Was erzählst du?
John: Das lyrische Ich.
Jim: Was ist mit dem?
John: Das ist die Erzählperspektive.
Jim: Ach nee, das ist hier, wie heißt er? Stefan Mielchen.
John: Na, das ist doch das lyrische Ich.

Mit der Transkription des Gesprächs zwischen den beiden Freunden John und Jim eröffnet sich eine neue Welt: die „Hinterbühne“ (Zinnecker 1978), das „Unterleben“ der Institution (Goffman 1973). Methodisch wird dieser Einblick durch die Audioaufzeichnung per externem Mikrophon ermöglicht, welches zwischenzeitlich vergessen und dann wieder erinnert wird – und durch das Vertrauen der beiden Jungen in die Feldforscherin.
Der Austausch zwischen John und Jim konstituiert hier eine eigene Welt innerhalb derer sie sich (voreinander) als „coole Jungen“ präsentieren. Die beiden distanzieren sich von der offiziellen Unterrichtssituation und ihren Anforderungen an sie als Schüler und zugleich erfüllen sie diese Anforderungen buchstabengetreu. Nach dem coolen Spruch („er will sie ficken“) suchen John und Jim nach der Formulierung einer Antwort, die mit dem Unterrichtsdiskurs kompatibel ist. Sie zeigen dabei (einander), dass sie die Fragen im Sinne der Intentionen der Lehrerin relativ mühelos beantworten und sich gleichzeitig spielerisch davon distanzieren können.
Die Doppelstruktur dieses Geschehens ist mit der Unterscheidung von „Vorder-“ und „Hinterbühne“ nicht hinreichend beschrieben, denn die Schülertätigkeit im Rahmen des offiziellen Unterrichts und ihre peer-kulturelle Kommentierung und Konterkarierung sind hier unmittelbar aufeinander bezogen und ineinander verflochten. Gerade das Beharren auf ihrer Rolle ermöglicht es ihnen hier, sich von dieser Rolle zu distanzieren. Indem sie augenscheinlich nur ihren „Job“ tun, eröffnen sie sich den Spielraum, sich zu ihrem „Job“ verhalten zu können.
Die Ironie dieser Vertretungsstunde: Während die Lehrerin offenbar eine Thematik aus der Lebenswelt für „Deutschunterricht“ nutzen wollte, wird der „Unterrichtsstoff“ im Diskurs der beiden Schüler wiederum zum Material des Amüsements und der (Selbst-)Inszenierung. Die „Normalität“ der Unterrichtssituation erscheint jetzt endgültig (wieder) hergestellt. Die anfänglich vergleichsweise offene und wenig vorstrukturierte Situation ist in routinierte und distanzierte Pflichterfüllung überführt worden – nicht zuletzt durch die Schülerinnen und Schüler selbst: Sie zwingen Frau Unbekannt in die Rolle der Lehrerin, indem sie ihren Anteil am „Gespräch“ nur wahrnehmen, wenn sie qua Schülerrolle darauf verpflichtet werden. Die Kinder und Jugendlichen verweigern, jedenfalls in dieser Vertretungsstunde, ein Engagement über ihren „Job“ als Schüler hinaus, zugleich erscheinen sie äußerst kreativ und produktiv, wenn es um die Kommentierung und Ironisierung einzelner Situationen oder Themen geht. Ein „normales“, das heißt routiniertes und entspanntes, Verhältnis zur Unterrichtssituation scheint (für Schüler) gerade durch diese Doppelstruktur gekennzeichnet zu sein: Einerseits das offizielle Unterrichtsgeschehen, an dem man sich im Rahmen seiner Rolle als Schüler (seines „Jobs“) beteiligt, andererseits die Ebene des Kommentierens, die Distanz ermöglicht und Freiräume bietet. -“Freiräume“ allerdings, so muss man hinzufügen, die durch die Regeln und Normen der Peer Kultur strukturiert werden.

Literatur

Breidenstein, G./Kelle, H.: Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim/München 1998.

Breidenstein, G./Kelle, H.: Die Schulklasse als Publikum. Zum Verhältnis von Peer Culture im Unterricht. In: Die Deutsche Schule 94 (3), S. 318-329.

Rusch, H./Thiemann, F.: Mitten im Kampfgetümmel. Ethnographische Reportagen aus dem Klassenzimmer. Baltmannsweiler 2003.

Zinnecker, J.: Die Schule als Hinterbühne oder Nachrichten aus dem Unterleben der Schüler. In: Reinert, G.-B./Zinnecker, J. (Hrsg.): Schüler im Schulbetrieb. Reinbeck 1978, S. 29-116.

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