Falldarstellung
(…) Mit einer Digitalkamera wurden von den insgesamt ca. 40 Schülerinnen und Schülern aus zwei integrativen 6. Klassen einer Integrierten Gesamtschule Nahaufnahmen im Außenbereich ihrer Schule gemacht, vor allem von Flecken, u. a. auf dem Boden, an Wänden und Bäumen (Abb. 1). Diese Unterrichtssequenz fand in Kleingruppen von ca. fünf Kindern mit je einer Lehrerin bzw. einer Betreuerin statt. In den isoliert gesehenen Formen sollten die Heranwachsenden Fantasiegestalten frei assoziieren. In der nächsten Unterrichtsstunde erhielten die Kinder hellgraue A4-Ausdrucke ihrer Fotos (fertig erstellt mit dem so genannten Transparenzeffekt eines Bildbearbeitungsprogramms). Auf die Ausdrucke malten und zeichneten sie diese Assoziationen, Fantasiegestalten oder -dinge (Abb. 2). Zu ihren Bildern entwickelten die Schülerinnen und Schüler Geschichten und schrieben sie auf (siehe unten). Die Bilder und Texte wurden sowohl im Internet als auch in einer Ausstellung in der Schule präsentiert. Nach Abschluss des Projekts führte ich mit den Kindern Leitfaden-Interviews mit narrativen Elementen.
Auf dem Digitalfoto eines Flecks an der Wand (Abb. 1) ist kaum etwas zu erkennen. Beate sieht jedoch einen schmalen, hellen, gekrümmten Bereich in diesem Fleck und assoziiert hiermit die Krümmung eines Hufeisens. Wenden wir uns der Zeichnung zu (Abb. 2), die Beate auf dem Computerausdruck anfertigte, dann sehen wir vor allem die recht einfache, reduzierte Darstellung dieses einzigen Gegenstandes. Den hellen Hufeisen-Umraum verstärkt sie dadurch, dass sie den Hintergrund gleichmäßig dunkel schräg schraffiert. Wie an dieser Schraffur zu erkennen ist, ist sie offenbar Rechtshänderin. Das Hufeisen selbst ist schmal und zugleich dunkel. Sie betitelt ihre Zeichnung mit „Das leuchtende Hufeisen“, welches goldgelb zu strahlen scheint. Eine möglicherweise stärkere magische Intention steht hier hinter dem Adjektiv „leuchtend“ und weniger die Funktion einer Lampe, die Licht abgibt, da das Hufeisen als mögliche Lampe selbst ja sonst der hellste Lichtpunkt sein müsste.
Exkurs:
Hufeisen sind in unserer Kultur Symbole für Glück. Somit wird Hufeisen eine magische Wirkung zugeschrieben, z. B. werden sie als Geschenk für den Einzug in ein Haus über der Eingangstür aufgehängt – mit der Öffnung nach oben, damit das Glück nicht herausfällt. Sie sind Glücksbringer auch zu Silvester oder ganz allgemein vor Beginn eines neuen Zeitabschnitts. Weshalb dies so ist, dazu gibt es verschiedene Erklärungsansätze: (1) Das Hufeisen wurde zum Glücksbringer, weil es die Form des aufgehenden Mondes hat. (2) Eine weitere Deutung geht auf den heiligen Dunstan zurück, der ein geschickter Hufschmied war. Einst sollte er des Teufels Huf beschlagen, und dabei schlug er so fest zu, dass der Teufel um Gnade winselte. Der Heilige hörte aber mit dem Hämmern erst auf, nachdem der Teufel versprochen hatte, alle jene zu verschonen, die ein Hufeisen mit sich tragen. (3) Ferner ranken sich auch nordische Sagen um Wotan, in denen dem Hufeisen eine wichtige Bedeutung in Bezug auf Pferde zukommt, die für Kraft und Macht stehen. Der Glaube an die Kraft des Hufeisens, Böses abzuweisen und Glück zu bringen, ist nicht nur im deutschen Sprachraum, sondern weltweit verbreitet (http://www.soemer-digital.de/ geomichi/monat1202_2.htm).
Beate wählte auf ihrer Zeichnung die Variante, das Hufeisen mit der Öffnung nach unten darzustellen, dies scheint zunächst dem allgemein, oben genannten Brauch zu widersprechen. Doch muss – laut anderen Überlieferungen – das Hufeisen mit der Öffnung nach unten gehalten werden, damit das Glück auslaufen und somit erst zur Wirkung kommen kann.
(http://www.soemer-digital.de/geomichi/monat1202_2.htm)
Wieder auf die formalen Aspekte in Beates Zeichnung zurückkommend, wird diese von einem starken Kontrast dominiert: Dunkelheit bzw. Nacht stehen gegen Helligkeit und Licht. Die Dunkelheit könnte für etwas Verborgenes, auch evtl. Angstauslösendes stehen und zugleich bedeutet Licht in der Dunkelheit Faszination, es kann Hilfsmittel zur Orientierung sein.
Bei einer so reduzierten Darstellung starker Kontraste und eines symbolträchtigen Gegenstandes ist eine wichtige inhaltliche Ebene zu vermuten. Aus diesem Grunde wurden mit allen an der Untersuchung beteiligten Schülerinnen und Schülern narrative Interviews nach einem Leitfaden geführt. Beate erzählt ihre Geschichte, liest sie nicht vor: „Also, das geht halt um so ein goldenes Hufeisen. Und da war so ein Mädchen, das hatte immer Angst, in den Keller zu gehen, weil es da so dunkel war. Und da sollte das eben eines Tages dann in den Keller, um nach der Wäsche zu gucken, oder so, und das wollte halt als nicht. Da hat die Mutter gesagt, dass es ja kein Baby mehr ist und dass es das machen soll, und da ist es halt in den Keller gegangen. Dann war es da halt ganz dunkel drin, und als sie wieder hochgehen wollte, ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen, und da hat sie sich umgedreht, und da lag da vor ihr so ein goldenes Hufeisen. Das hat sie dann aufgehoben. Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt. Und da war auch für sie der Keller immer ganz hell.“ (Interview H&B/01, Z. 121-130) (Abb. 2)
Motive aus Märchen und archetypische Elemente werden in ihrer Geschichte zur Zeichnung von Beate mit eigenen Lebensweltaspekten verbunden. Angst wird nicht in Form von Katastrophenszenarien verarbeitet (wie dies viele Mitschülerinnen, aber vor allem Mitschüler von Beate tun), sondern Beate bezieht ihre Geschichte auf autobiografisch selbst Erlebtes. Zudem wird das leuchtende Hufeisen zum goldenen Hufeisen. Beates Geschichte richtet sich auf die Magie von Dingen in alltäglichen Ereignissen. Ich vermute als Interviewer autobiografische Aspekte in ihrer Geschichte und frage nach:
„Interviewer: Ah ja. Und wie bist du auf diese Idee gekommen?
Beate: Also ich hatte in der Wand, das sah aus, wie so ein Hufeisen. Das habe ich dann so gelb gemalt und außen ‚rum ganz schwarz gemalt. Und dann ist mir das so gekommen.
I.: Und hast du da irgendwie so Ideen von anderen Geschichten, die du mal so gelesen hast oder was du mal gesehen hast?
B.: Nee, so ausgedacht.
I.: Und habt ihr einen Keller zu Hause?
B.: Ja.
I.: Und geht es dir da so ein bisschen ähnlich oder nicht?
B. (lachend, verlegen gesprochen): Nee.
I.: Nee? Früher?
B.: Früher ja, als wir da eingezogen sind, ein bisschen.
I.: Wie alt warst du da? Weißt du es noch?
B.: Zehn oder so.“ (Interview H&B/01, Z. 131-145)
Abb. 1: Beate (12 Jahre): Fleck an der Wand; Digitalfoto (Ausgangsbild für Abb. 2)
Abb. 2: Beate (12 Jahre): „Das leuchtende Hufeisen“, Farbstift-Zeichnung auf Computerausdruck
Interpretation
Beates Geschichte beginnt mit der Schilderung einer alltäglichen Szene: Ein Mädchen hat Angst, in den Keller zu gehen, obwohl ihr die Räume als Teil ihrer Wohnumgebung eigentlich vertraut sind. Die Dunkelheit des Kellers löst in ihr Furcht aus. Nur auf Drängen der Mutter hin begibt sich die Hauptperson der Geschichte schließlich in den Keller. Erst mit der Sequenz „und als sie wieder hochgehen wollte, ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen“ nimmt Beates Geschichte eine Wendung, die über das alltäglich Erlebte hinausgeht. Diese Sequenz („ist hinter ihr so ein Leuchten gewesen“) weckt zunächst Assoziationen an biblische oder legendenhafte Erzählungen etwa von Engel-Erscheinungen. Die Geschichte erhält hiermit ein spirituelles, zumindest ein übernatürliches, stark magisches Stilelement. Zwar lässt Beate in ihrer Geschichte keinen Schutzengel auftreten („und da hat sie sich umgedreht, und da lag da vor ihr so ein goldenes Hufeisen.“). Aber das „goldene Hufeisen“ hat eine ähnliche Funktion. Das Hufeisen leuchtet in einer subjektiv als bedrohlich empfundenen Situation den Weg. Erfolgreich hilft das Hufeisen, die Angst „auf einmal“ – also auch magisch in der plötzlichen Wirkung – zu beseitigen („Und da hat sie auf einmal keine Angst mehr gehabt.“). Dieses „goldene Hufeisen“ ist von nun an in der Folgezeit immer für sie da: „Und da war auch für sie der Keller immer ganz hell.“
In der Formulierung dieses Satzes klingt an, dass die magische Kraft und das Leuchten nur für das Mädchen in der Erzählung vorhanden sind und wirken. Hier handelt es sich wiederum um eine Eigenschaft, die ebenso für die Vorstellung von Schutzengeln gilt. Letztlich wählt Beate aber nicht eine religiös-spirituelle Variante für die Lichterscheinung. Sie entnimmt Elemente aus Märchen. Denn in Märchen spielen goldene – ansonsten ebenfalls recht alltägliche – Gegenstände, wie Kugeln oder Haare, häufig eine wichtige Rolle, und sie verleihen oder haben magische Kräfte. Zudem steht das Hufeisen in unserer Kultur als Symbol für Glück, wie oben ausgeführt. Die Zwölfjährige zeichnet das Hufeisen – ob bewusst oder unbewusst – mit der Öffnung nach unten, sie nutzt das Glück, das ihr dieser magische Gegenstand beschert. Zudem dürfen der Überlieferung nach Hufeisen nicht mit Absicht gesucht werden, sondern man muss sie zufällig finden, damit sie Glück bringen (http://www.soemer-digital.de/geomichi/monat1202_2.htm). Beates Erzählung nimmt ein glückliches Ende, die Angst ist überwunden worden.
Auf den bildnerischen Impuls bezogen, den Papierausdruck von Beates Aufnahme mit der Digitalkamera, wählte Beate lediglich das Hauptmerkmal ihrer Geschichte, das sowohl in der Überschrift ihrer Erzählung wie auch im Bildtitel genannt ist, als dominantes Bildmotiv „Hufeisen“. Ihre Zeichnung enthält keine Personendarstellungen, keine erzählerischen Elemente. Die Figuren aus der Geschichte treten nicht in der Zeichnung auf. Beate beschränkt sich auf das Wesentliche, denn sie hält den für sie offenbar entscheidenden Moment ihrer Erzählung, die Entdeckung des magischen Gegenstandes, im Bild aus der Ich-Perspektive fest. Die Darstellung wirkt ikonenhaft: Es handelt sich lediglich um das Abbild dieses magischen Gegenstandes.
Einige Wirkungen der beschriebenen und in Fallbeispielen nachgewiesenen Wirkungen sind: die kompensatorische Funktion ästhetischer Praxis, direkte autobiografische Bezüge im bildnerischen Tun sowie Entlastung von Angst bzw. Druck. Es kann vermutet werden, dass Beate nicht zugibt, zum Zeitpunkt der Erzählung immer noch etwas Angst zu haben, alleine in den dunklen Keller zu gehen. Die Zwölfjährige hat ihre Angst, die sie als Zehnjährige hatte, wohl noch nicht vollständig überwunden, sonst würde sie das Thema nicht mehr innerlich beschäftigen. Die Offenheit des Unterrichtsimpulses bietet für sie die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Fantasien magisch-spirituellen Inhalts. Er hat hierdurch eine ausgleichende Wirkung zur alltäglichen Realität. Er bietet darüber hinaus die Möglichkeit des Eintauchens in eine ‚Fantasie- und Traumwelt‘, in der sich unerfüllbare Wünsche erfüllen. Massenmedial werden solche Fantasien gerade auch für die Zielgruppe der Mädchen und jungen Frauen bedient, etwa in den Manga-Comics und -Cartoons oder in Fernsehserien wie „Charmed“ oder „Buffy – Im Bann der Dämonen“ (beide auf „Pro 7“), in denen junge Frauen „Hexen“ mit magischen Kräften spielen.
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