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Falldarstellung

(…) Eine Aufgabe ästhetischer Erziehung ist somit, die kompensatorischen Anteile, die in ästhetischer Praxis bereits enthalten sind, pädagogisch gezielt einzusetzen und zu nutzen. (…) im Folgenden geht es darum, ganz konkret eine Kunstunterrichtseinheit, die kompensatorisch wirken soll, u.a. anhand eines Fallbeispiels daraufhin empirisch zu untersuchen, ob sie wirklich kompensatorisch wirkt und welche kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Defizite hier ausgeglichen werden.

(…) Mit einer Digitalkamera wurden von den insgesamt ca. 40 Schülerinnen und Schülern aus zwei integrativen 6. Klassen einer Integrierten Gesamtschule Nahaufnahmen im Außenbereich ihrer Schule gemacht, vor allem von Flecken, u. a. auf dem Boden, an Wänden und Bäumen. (…) In den isoliert gesehenen Formen sollten die Heranwachsenden Fantasiegestalten frei assoziieren. In der nächsten Unterrichtsstunde erhielten die Kinder hellgraue A4-Ausdrucke ihrer Fotos (fertig erstellt mit dem so genannten Transparenzeffekt eines Bildbearbeitungsprogramms). Auf die Ausdrucke malten und zeichneten sie diese Assoziationen und Fantasiegestalten. Zu ihren Bildern entwickelten die Schülerinnen und Schüler Geschichten und schrieben sie auf. (…)

Janine: Soll ich vorlesen?
Interviewer: Wenn du magst, kannst du auch erzählen …
Janine: Ja, O. K.
Interviewer: … wie du’s lieber magst.
Janine: Ja, also, ich les‘ vor: Der traurige Kapitän Rudi.

„Der traurige Kapitän Rudi.
Es war mal ein Kapitän Rudi. Der liebte sein Schiff über alles. Seine Crew war fantastisch. Eines Tages gingen sie auf See. Leider war von der Crew das Radio kaputt, denn das Radio hatte einen heftigen Sturm vorausgesagt. Also stachen sie in See. Als sie auf dem Meer waren, merkte der Kapitän Rudi schon, dass es heute einen Sturm geben würde. Er wusste aber nicht, wie stark das Unwetter werden würde. Unten im Essensraum tranken alle gemeinsam ein Bier. Außer der Kapitän. Er war oben und guckte sich die Wolken an, was sie machten. Plötzlich stürmte der Kapitän Rudi runter zu der Crew. Er sagte, dass ein Sturm aufzieht und sich alle darauf vorbereiten sollen. Alle rannten in ihre Kabinen und zogen ihre Rettungswesten an. Dann gingen sie nach oben. Das Unwetter war schon da. Sie versuchten das Schiff in die richtige Seitenlage zu bringen. Aber es gelangte ihnen nicht. Das Schiff kenterte. Alle waren tot, nur der Kapitän Rudi überlebte. Seitdem, seit diesem Unglück, war er nie wieder auf See und auch immer ganz traurig.“
Janine, 11 Jahre

Interpretation

Liebe und Tod liegen in Janines Geschichte eng beieinander. Zerstörerisch und todbringend wirkt sich das Szenario einer Naturkatastrophe mit „Unwetter“ und „Sturm“ aus, das zwischen die harmonische Situation, einer Gemeinschaft von Menschen, die Janine als „fantastisch“ bezeichnet, und Traurigkeit und Einsamkeit gesetzt ist. Die Existenz dieser Gemeinschaft, der „Crew“, ist an einen bestimmten, begrenzten Raum bzw. flexiblen Ort – ein Schiff – gebunden, das die Hauptperson „Kapitän Rudi“ „über alles“ „liebte“. Wird dieser Raum, der die Gemeinschaft erst ermöglicht und sichert, zerstört, so geht die Gemeinschaft in dieser existenzbedrohenden Situation selbst verloren. Janine verarbeitet in ihrer Geschichte also komplexe Wechselbezüge – nicht nur zwischen konträren Emotionslagen, sondern auch Wechselbezüge des Verhältnisses von menschlichen Gemeinschaften und Sozialkontakten zu deren materialer Umwelt. Die Bedeutung des Themas „Lebensraum“ für soziale Gruppen steht hier im Vordergrund.

Auffällig ist, dass Janine zweimal das Wort „Liebe“ nicht im Zusammenhang mit der „Crew“, also den Menschen, benutzt, sondern auf den „Lebensraum Schiff“, der die Grundlage der Existenz der Gemeinschaft ist, bezieht: „Der liebte sein Schiff über alles. Seine Crew war fantastisch.“ Und an anderer Stelle im Interview sagt sie im Zusammenhang damit, wie die Geschichte entstand: „Dann schreib ich halt was, dass er sein Schiff so geliebt hat und dass er auch ne Crew hatte und nicht alleine segelte.“ (Interview J/0l, Z. 130-132) Die oben entwickelte These, dass das Thema „Lebensraum“ der eigentliche Kern ihrer Arbeit ist, wird hierdurch gestützt.

Kompensatorische Wirkungen des Unterrichts lassen sich an den Aussagen und bildnerischen Arbeiten der Kinder – hier stellvertretend an Janines ästhetischer Praxis – insofern ablesen, als sowohl der Unterrichtsimpuls wie auch der Unterrichtsverlauf den Kindern Optionen bieten, Gefühlswandlungen fiktiv „durchzuspielen“. Die Intensität eines „fiktiven Erlebnisses“ misst sich in diesem Falle an den Extremen des emotionalen Wechsels innerhalb kürzester Zeit.
(…)
Janines Geschichte ist beispielsweise primär von den Strängen „Naturgewalten und Katastrophen-Szenarien“ und „Wechsel intensiver Emotionalität innerhalb existenziell bedeutsamer Situationen“ durchzogen. Die plötzlich hereinbrechenden, unkontrollierbaren Katastrophenszenarien – entweder ausgelöst durch magische Wesen mit übernatürlichen Kräften (z.B. Riesen, Hexen) oder durch Naturgewalten, wie bei Janine – zwingen die Kinder oft dazu, sich ein Verhalten zu überlegen, wie hierauf angemessen zu reagieren wäre. Dies gilt sowohl für die Katastrophe selbst als auch für das Schicksal, mit dem nach der Katastrophe weiter zu leben ist. Hiermit stellen sich die Kinder auch die Frage nach dem Sinn solcher Ereignisse. Dass Janine nicht die Katastrophe selbst zeichnet, sondern bildnerisch-formal sehr dominant die einsame Hauptfigur, deutet darauf hin, dass sie sich – stellvertretend für die Hauptfigur – gerade mit der Thematik der Sinnsuche in der Phase der Trauer beschäftigt. Die Kinder verarbeiten Ängste und zugleich auch Faszination auslösende Medienerfahrungen; im Falle von Janine eventuell aus Spielfilmen oder Nachrichtensendungen. Sie verbinden diese mit fast archetypischen, die Komplexität der Erwachsenenwelt oft reduzierenden Symbolen und Elementen aus Märchen und Sagen sowie mit eigenen subjektiven lebensweltlichen Erfahrungen. „Explizite biografische und autobiografische Bezüge“ prägen die Erzählungen vieler Kinder aus geschiedenen Ehen insofern, als die Thematik des Verlassenwerdens und des Verlassenseins viele der Geschichten dominiert. All diese Aspekte haben kompensatorische Wirkungen auf die Kinder.

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