Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Die vorliegende Falldarstellung ist im Rahmen des von der deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit Sachbeihilfen an W. Helsper (Halle) und B. Stelmaszyk/H. Ullrich (Mainz) geförderten Projektes „Lehrer-Schüler-Beziehungen and Waldorfschulen. Rekonstruktion zum Verhältnis der Lehrerschaft, Lehrer-Schüler-Interaktion im Unterricht und individueller Schulkultur“ entstanden.

Zum methodischen Vorgehen

Forschungsmethodisch sind wir einem qualitativ-rekonstruktiven Ansatz verpflichtet. Genauer: wir haben uns sowohl bei der Datenerhebung als auch bei der Datenauswertung an einem Spektrum von Verfahren orientiert, die seit einigen Jahren auch innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Diskussion eine Rolle spielen (vgl. Böhme 2004) und die in ähnlichen Kombinationen in anderen Forschungsprojekten erfolgreich erprobt worden sind (vgl. Böhme 2000; Helsper u.a. 2001; Kramer 2002).

Wir verwenden ein mehrstufiges Interpretationsverfahren, welches ein unter methodologischen Gesichtspunkten kompatibles Set von rekonstruktiven Methoden miteinander kombiniert. Wir orientieren uns maßgeblich an der objektiven Hermeneutik Oevermanns (vgl. Oevermann u.a. 1979; Oevermann 1983, 1993; Wernet 2000), triangulieren diesen Ansatz aber durch systematische Ergänzungen durch die Narrationsanalyse (vgl. Schütze 1983) und die Dokumentarische Methode (Bohnsack u.a. 1995; Bohnsack 1999; Loos/Schäffer 2001), um so der Dignität der erhobenen Daten gerecht zu werden.

In diesem Beitrag werden vorwiegend Unterrichtsszenen und Interviewpassagen thematisch. Die detailliert transkribierten Unterrichtsprotokolle wurden objektivhermeneutisch rekonstruiert, um zentrale Strukturproblematiken der Lehrer-Schüler-Beziehungen herausarbeiten zu können. Die Verbalbeurteilungen in den Schülerzeugnissen wurden ebenfalls objektiv-hermeneutisch analysiert, um frühzeitig und begründet riskante Strukturhypothesen zur Spezifik der Lehrer-Schüler-Beziehung aufstellen und an weiteren Textpassagen plausibilisieren zu können.

Die Interviews wurden mit biografieanalytischen Verfahren – und an ausgesuchten Stellen sequenzanalytisch – untersucht, da ein gesamter Prozessverlauf nicht objektivhermeneutisch bearbeitet werden kann. Hier wird nun auf die Prozessstrukturanalyse nach Schütze zurückgegriffen, die es ermöglicht, biografische Erzählungen über längere Zeitspannen, vor dem Hintergrund der bereits rekonstruierten Fallstrukturgesetzlichkeit, in ein Verlaufsmodell zu übertragen, das Prozessstrukturen des Lebensablaufs bzw. Segmente des Lebensablaufs integriert. Im Zentrum der Schülerinterviews steht die gesamte schulische und außerschulische Biografie, im Zentrum der Lehrerinterviews die Berufsbiographie.

Grundsätzlich stellt jede einzelne Fallrekonstruktion bereits ein Auswertungsergebnis dar. Eine umfassende Ergebnissicherung ergibt sich jedoch erst über die systematische Kontrastierung von erschlossenen Fällen und damit einhergehenden Strukturgeneralisierungen (vgl. Graßhoff u.a. 2004, S. 182ff.). Die nun folgende (abgekürzte) Fallrekonstruktion und die damit verbundenen Fallvignetten sowie kurze Kontrastierungslinien werden analog durch kurze Kontrastierungsdiskussionen ergänzt. Im Blickpunkt der Darstellung stehen dabei jeweils zwei maximal kontrastierende Lehrer-Schüler-Beziehungen an zwei ausgewählten Waldorfschulen unter der Fragestellung eines biografischen Passungsverhältnisses. (1)

Falldarstellung mit interpretierenden Abschnitten

Im Folgenden wird die „gelingende Beziehung“ zwischen der Klassenlehrerin Frau Weber und dem Schüler Martin (2) vorgestellt. Die Schulkultur der betreffenden Schule kann aufgrund der Felderfahrungen und erster Rekonstruktionen schulischer Dokumente (vgl. Ullrich 2004) als traditionsstiftend und -verbürgend eingeordnet werden.

Wir werden die zentralen Elemente der konkreten Lehrer-Schüler-Beziehung, die als eine Strukturvariante möglicher Passungsverhältnisse an der Einzelschule zu verstehen ist, herausarbeiten und mit Textausschnitten der ausgewerteten Materialien illustrieren.
Die sich im vorliegenden Fall dokumentierende Beziehung kann als eine „gelingende“ bezeichnet werden, insofern dem Schüler Martin Spielräume zur Bewältigung und Kompensation seiner familial aufgeschichteten Strukturproblematik von Seiten der Lehrerin geboten werden. Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird hier zu einem Raum, innerhalb dessen Identitätsentwürfe gewagt und ein spielerischer Umgang mit Grenzen erprobt werden kann. Allerdings lassen sich auch Spannungsfelder und Aushandlungsprozesse lokalisieren, mithilfe derer die wechselseitige Anerkennung immer wieder hergestellt und Grenzen der Beziehung austariert werden müssen. Im Fall von Frau Weber und Martin zeigen sich Schnittstellen im Schulalltag, an denen Lehrpersonen sich als signifikante Andere anbieten und von den Schülerinnen und Schülern als solche angenommen werden können. Die vorgestellte Beziehung zeigt auch die Möglichkeiten einer schulischen Bearbeitung familialer Defizite auf, die in die Schule transferiert werden. (3)

1. Die Lehrerin
Die Klassenlehrerin Frau Weber schildert zu Beginn des Interviews ihren Zugang zum Lehrberuf als Berufung, die ihren Ausgang im zwölften Lebensjahr nimmt:

„ja (halb­laut), gut dann fang ich mal an, [e-hm] bei meim zwölfn lebensjahr, [e-hm] vom zwölfn lebensjahr. also ich wusste mit zwölf jahren bereits dass lehrerin werden würde, [e-hm] das war mein wunschberuf. und äh, ich wusste auch schon dass ich biologie studieren, studieren werde und auch religion“ (Interview Frau Weber, Zeile 35-47).4

Indem retrospektiv die Genese der eigenen Berufsfindung eine Sinnzuschreibung erfährt („wusste …bereits“), die das heute so Gewordene als nicht anders Denkbares und einzig Mögliches deklariert („dass ich …werde“, nicht: „würde“), erfolgt der Entwurf einer maximalen Passung von Identität und Beruf. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die professionelle Praxis und die Gestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung. Denn die Verschmelzung von beruflicher Identität und gesamter Selbstkonstruktion erschwert eine Distanznahme in der professionellen Praxis. Ein reflexiver Umgang mit dem eigenen Scheitern wird geradezu verhindert, da nicht nur die berufliche Identität, sondern die gesamte Identität zugleich auf dem Spiel steht. Darüber hinaus geht damit eine Tendenz einher, Bedürfnisse nach Anerkennung der eigenen Person in die schulische Praxis zu transferieren. Im Zuge dessen kann es zu einer Emotionalisierung, Familialisierung und damit Entgrenzung (5) der professionellen pädagogischen Praxis kommen. Diese Orientierung zeigt sich auch im beruflichen Selbstverständnis von Frau Weber in Form eines umfassenden Erziehungsanspruches und der Festschreibung einer affektiven Zuneigung als Grundvoraussetzung pädagogischen Handelns:

„m-mh (leise), (atmet) also es wichtigste ist für mich, dass man, gemeinsam mit den eltern die kindern groß ziehn hilft, [h-hm] das ist so das allerwichtigste, und dabei ist ganz wichtig dass man die klei­nen kinder lieb hat, [he-he] da hat man schon die hälfte gewonnen“ (Interview Frau Weber, Zeile 3151-3160).

2. Der Schüler
Die Auswahl Martins erfolgte – wie eingangs dargestellt – aufgrund der Beobachtungen und Aufzeichnungen in der Feldphase sowie der Rekonstruktion seines Verbalzeugnisses vom Ende der siebten Klasse. Martin geriet dadurch in den Fokus, dass er sich häufig anbot, kleine Botengänge für die Lehrerin zu übernehmen. Während des Unterrichts fiel auf, dass er oftmals nur halblaut mit der Lehrerin kommunizierte und so in einen fast privaten Dialog mit ihr eintrat, der für den Rest der Klasse häufig akustisch nicht nachvollziehbar war. Zudem gehörte er zu denjenigen Schülern, die ihre Gedanken zum Unterrichtsgeschehen direkt zum Ausdruck brachten, ohne sich vorher zu melden und aufgerufen zu werden. Dafür wurde er relativ selten von der Lehrerin sanktioniert. Das Zeugnis und auch die Interviews mit Martin und der Lehrerin gaben Grund zur Annahme, dass hier eine positiv gelagerte Lehrer-Schüler-Beziehung vermutet werden konnte. So äußerte Martin beispielsweise, auf die Notwendigkeit des Abschieds von der Lehrerin nach der achten Klasse angesprochen, sein Bedauern, sie nicht noch länger als Klassenlehrerin zu haben.
In der sequenzanalytischen Rekonstruktion des Interviewbeginns mit Martin lassen sich zentrale familiale Problemfelder und Defizite markieren, die möglicherweise in die Schule transferiert und dort bearbeitet werden (können). Martins diskontinuierliche Biografie ist schon vor seinem Schuleintritt geprägt von Umzügen, der Trennung seiner Eltern und der Erfahrung, kein Kind wie alle anderen zu sein:

„gut (lang), emm. isch bin am (lang), neuntn juni neunzehnhundertachtundachtzich geborn, [e-hm] ömm, als honrath, als geborener honrath. öhm, in (lang) thüringen, mühlhausen […]6 und (lang).. dann bin ich.. xx, wie lang warn des (?, leise) (4) ich glaub mit, vierfünf oder sechs jahr, bin ich nach chamburg gezogen, und (lang). dann (lang) innen kindergartn gegangen wie alle andern kinder (schmunzelnd) und.. dann sind wir mit (lang)… sechs sechs bin ich ja, sechs sind wir ma nach mannheim, und dann (lang) war mein vater halt. also mein damaliger. (atmet ein) der. der is dann (lang) also öfters auch weggewsn und so hat auch meiner mutter nich gesagt wo der (atmet ein). also wo er hingegangn is. und (lang). is dann irgendwo bei-einer andern freundin gewesn sozusagn“ (Interview Mar­tin, Zeile 48-51, 61-69).

Der Fall Martin ist gekennzeichnet durch die Problematiken auf der elterlichen Paarebene, die zu einer späteren Trennung der Eltern (7) führen. Der altersunangemessene Grad der Informiertheit (Martin ist zu diesem Zeitpunkt sechs Jahre alt) über die Konflikte seiner Eltern und seine einseitige Schilderung aus Sicht der Mutter lassen darauf schließen, dass Martin sich in die elterlichen Konflikte involviert und diese verstärkt als Tröster und Gesprächspartner der Mutter erlebt. Innerhalb dieser Dynamik werden individuelle und autonome Anteile des Selbst („bin ich nach chamburg gezogen“) zugunsten einer Orientierung auf die Mutter-Sohn-Gemeinschaft zurückgedrängt („dann sind wir ma“). Die Konflikte und die Trennungszeit erfährt er unabhängig von den tatsächlichen Ereignissen als eine familiale Funktionalisierung. Diese könnte Züge einer latenten Parentifizierung (8) tragen, insofern sich Martin durch die Konfrontation mit der elterlichen Paarkonflikten und dem Leidensdruck der Mutter verantwortlich für ihr Wohlergehen fühlt. Die Generationsbeziehung zu seiner Mutter erfährt tendenziell eine Aufhebung. Eine verantwortungsentlastete experimentelle Entfaltung von Individualität und Autonomie wird Martin dadurch erschwert. Es kommt zu einem Wandel der familialen Struktur und der Identität Martins, die über die Änderung des Familiennamens und Formulierungen wie „neuer“ und „alter“ Vater nach außen markiert wird. Vor dem Hintergrund mehrerer Umzüge und familialer Umbrüche erscheint die Biografie primär bestimmt von Diskontinuität und Wandel. Martin entwirft sich einerseits als Kind „wie alle anderen“ und andererseits in der Freisetzung aus Beziehungen zu signifikanten Anderen (Vater) als ein vereinzelter Besonderer. Dabei finden die dominanten und damit auch identitätsrelevanten Erfahrungen zunächst außerhalb der Schule statt. Riskant lässt sich schlussfolgern, dass der Waldorfschule und der Vergemeinschaftung in der Klasse eine stabilisierende Funktion zukommen könnte. Der Diskontinuität des außerschulischen Lebens könnte die Kontinuität in der Schule entgegengesetzt werden.

Martin trifft auf eine Klassenlehrerin, deren Zugang zum Beruf lebensgeschichtlich stark affektiv aufgeladen ist. Frau Webers Tendenz zu einem entgrenzten, emotionalisierten und familialisierten pädagogischen Verhältnis kommt der Fallproblematik Martins entgegen. Mit ihrem umfassenden Erziehungsanspruch kann sie für Martin als signifikante Andere fungieren. Die Rekonstruktionen ausgewählter Unterrichtsszenen zeigen eine solche Beziehungskonstellation. Vor dem Hintergrund der Ablöseproblematiken in der Adoleszenz bietet Frau Weber innerhalb dieser Konstellation eine Folie zur Erprobung von Autonomie auch schon mal gegen ihre eigene Autorität an. Deutlich wird dies an der folgenden Szene, in der es um Redewendungen geht, in denen Körperteile oder Organe einer Rolle spielen:

Weber: gibt es bestimmte sprichwörter oder es gibt redewendungen die wir menschen gebrauchn (?)
Martin: es-gibt auch schimpfwörter
Weber: ja schön, gibt s gibt auch schimpfwörter, jetzt bin ich mit, tragen wir einfach ma zusammen, bitte meldn, martin,
Martin: aschloch (schmunzelnd),
Weber: ja, das wäre jetzt ne, das wäre jetzt etwas, nja (Lachen der Schüler)
Schüler/Schülerin: xx
Weber: mmh, na das fängt ja gut an, xxx (name einer schülerin),
Schülerin: aus den augen aus dem sinn

In dieser Szene gelingt es Martin, die Suche nach Sprichwörtern und Redewendungen um Schimpfwörter zu erweitern, ohne dabei von der Lehrerin gestoppt zu werden; er bringt daraufhin selbst ein hochgradig tabuisiertes Schimpfwort in den unterrichtlichem Diskurs ein. Obwohl ihr bereits bei der Erweiterung des Antwortspielraumes durch Martin die implizite Gefahr der Entgrenzung des unterrichtlichen Settings deutlich ist (erkennbar am schnellen Anschluss, mit dem sie Martin bereits bei der Silbe „Schimpf…“ ins Wort fällt), zieht Frau Weber dennoch nicht die Konsequenz und ermahnt ihn unter Verweis auf die Regeln. Stattdessen verbleibt die Lehrerin in der Ambivalenz zwischen innerer affektiver Unruhe und Verwirrung (wie sie in der Selbstthematisierung „jetzt bin ich mit“ akut wird) und einem Gewähren-lassen und expliziter Redeaufforderung an Martin. Diese Ambivalenz kann als Hinweis auf eine besondere Beziehung von Frau Weber zu Martin gelesen werden. So hält die Lehrerin es entweder nicht für wahrscheinlich, dass der Schüler tatsächlich ein Schimpfwort nennt (eventuell aus Rücksicht auf Frau Weber oder mit Bezug auf gängige Regeln). Oder sie verschafft ihm mehr oder minder bewusst ein Forum der Selbstpräsentation vor dem Klassenkollektiv und delegiert die Definitionsmacht der Situation vorübergehend an ihn. Damit opfert sie zumindest potenziell der Selbstinszenierung Martins das Gelingen der weiteren eigenen Unterrichtspraxis, falls sein Beispiel Nachahmer findet.
Dass diese „Narrenfreiheit“ Martins und die Exklusivität dieser Lehrer-Schüler-Beziehung auch ihre Grenzen haben, zeigt sich in einer weiteren Szene:

Weber: xx wir werdens gleich sehn
Martin: zwei liter
Phillip: maximum zwei liter,
Weber: bis zu zwei litern, des kommt darauf an, was glaubt ihr denn jetzt, wenn menschen immer vielleicht zu viel essen oder die immer mal hunger haben (?)
Martin: xx xx xx (geht im allgemeinen Stimmengewirr weiterer Schüler unter)
Weber: wie is denn dann (schnell) der magen (?) (Stimmengewirr)
Weber: martin du meldest dich bitte auch, ich nehm dich sonst nich dran (lauter werdend)
(Schülerin meldet sich) Martin: oooh (dumpf, lang gezogen)
Weber: xxx (name einer schülerin)
Schülerin: da dehnt der sich dann aus
Weber: der dehnt sich aus und der will xx auch schon mehr, wenn ein magen ausgedehnt ist, dann hater auch immer

Regelverstöße Martins (Reden ohne sich zu melden) werden bis zu einem gewissen Punkt von seiner Klassenlehrerin zugelassen. Erst viel später erfolgt ein Verweis auf die reguläre Rollenerwartung und ein Hineinstellen Martins in das Klassenkollektiv als Schüler wie jeder andere („martin du meldest dich bitte auch, ich nehm dich sonst nich dran“ (Zeile 8)). Es gelingt Martin also, im Unterricht einen gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern erweiterten Rahmen für sich einzufordern. Hieraus resultiert jedoch keine Einengung der Interaktion auf die Lehrer-Schüler-Dyade, in dem Sinn, dass Martin als exklusiver Schüler mit besonderen Rederechten markiert wird. Im Gegenteil ist es Frau Weber selbst, die im Rekurs auf die institutionellen Regeln und Rahmungen (z.B. der Praxis des Meldens) von Schule und Unterricht Martins Versuche zurückweist, sie als Lehrerin in ein Zwiegespräch mit ihm zu verwickeln.
Insgesamt eröffnet Frau Weber Martin einen gegenüber seinen Mitschülerinnen und Mitschülern erweiterten Raum der Autonomieentfaltung auf der Folie einer affektivpositiven Beziehung bei gleichzeitiger Wahrung der Lehrer-Schüler-Distanz vor dem Hintergrund universalistischer institutioneller Normen und Regeln, deren Geltung von ihr auch gegenüber Martin eingefordert wird.

3. Chance und Risiken der Beziehung
Für Martin wird innerhalb der Beziehung zu Frau Weber eine Kontinuität erlebbar, die stabilisierend auf seine biografische Strukturproblematik wirkt. Doch bringt die hier erfolgende Emotionalisierung und Familialisierung der Lehrer-Schüler-Beziehung auch Risiken mit sich:

Zum einen besteht die Gefahr einer schulischen Reproduktion der familialen Strukturproblematik. In dem Maße, in dem nämlich eigene Anerkennungsbedürfnisse und Bewährungsdynamiken aus dem Privatleben der Lehrerin in die Beziehung zu Martin eingebracht werden, droht eine Auflösung des schulischen Generationenverhältnisses. Ähnlich der familialen Lagerung könnte Martin sich auch hier dann wieder in die Lage versetzt sehen, als gleichwertiger Partner mit den Problemen des erwachsenen Gegenübers konfrontiert und latent zum Tröster und Unterstützer zu werden. Dahingehende Tendenzen werden jedoch von Martin erkannt und als nicht angemessen für die Lehrer-Schüler-Beziehung zurückgewiesen. Dies zeigt sich in seinem Kommentar zur Lehrerin:

„also ich find die frau weber ist ne (lang).. sehr nette dame. und (lang), vlleicht manch­mal auchn bisschn zu nett (schmunzelnd), weil (lang). also ds-is schön für uns, ja also­ichk kann man machmal ausnutzn oder auch nich (atmet ein). öhm.. weil (lang), die tut auch manchmal ein-bisschen viel von ihrm (gedehnt) privatn lebn irgendwie sagn find ich,“ (Interview Martin Zeile 112-121).

Intuitiv erfasst Martin hier Wirkungen der großen Nähe und Empathie, die einerseits erweiterte Räume der Entfaltung von Autonomie für ihn bieten, andererseits aber auch zu einer Aufhebung des institutionellen Generationenverhältnisses führen könnten. Letzteres wird von ihm klar zurückgewiesen.

Zum anderen ist zu fragen, inwiefern die Exklusivität dieser Beziehung, in der Martin zwar einen integrierenden stützenden Halt findet, mit einer Sonderstellung in der Klasse und Prozessen der Marginalisierung innerhalb der Peers einhergeht. Ganz plastisch wird seine besondere Stellung innerhalb der Klasse anhand der Sitzordnung: Martin sitzt allein an einem Tisch in der ersten Reihe, was ihm erlaubt, Frau Weber immer wieder in Zwiegespräche zu verwickeln. Auch im Interview wurden von der Lehrerin Peerproblematiken Martins thematisiert. Ebenso lässt der latente Sinngehalt des Zeugnistextes auf Schwierigkeiten Martins mit seinen Mitschülerinnen und Mitschülern schließen:

„Auch das siebte Schuljahr durchlebte Martin mit seiner gutmütigen Gelas­senheit. Er war durch nichts aus der Ruhe zu bringen; weder die Turbulenzen in der Bubengruppe, noch besondere Vorfälle im Unterricht regten ihn auf“ (Zeugnis Martin siebte Klasse Zeile 1-4).

Damit ist jedoch keine eindeutige Kausalbeziehung hergestellt. Es lässt sich rekonstruktiv nicht klären, ob Martins Peerproblematik aus seiner nahen Beziehung zu Frau Weber resultiert oder ob die Nähe zu ihr eine kompensatorische Reaktion auf seine Schwierigkeiten mit seinen Mitschülern ist. Festzuhalten bleibt jedoch, dass eine sehr nahe, affektiv aufgeladene und positive Beziehung eines Schülers zur Lehrperson immer auch Auswirkungen auf seine Stellung im Klassenkollektiv hat.

4. Ein Kontrastfall
Der Gegenentwurf einer Beziehung, in der eine Schülerin bzw. ein Schüler innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehung eher eine Begrenzung auf die Rollenförmigkeit und auf Aspekte der Wissensvermittlung von ihren Lehrpersonen fordert, findet sich bei unserem zweiten Eckfall in der Beziehung zwischen Anna und Frau Weber. Auch hier ist nach den Entwicklungspotenzialen, aber auch nach den Problembereichen für die Schüler- und die Lehrerseite zu fragen. Die anfänglich von Nähe bestimmte Beziehung von Anna zu Frau Weber, die als haltgebende Stütze bei der Einschulung fungiert, wird im Laufe der Klassenlehrerzeit hoch ambivalent und krisenhaft für beide Beteiligten. Annas Subjektkonstruktion wird im Wesentlichen durch die Beziehungen zu anderen Gleichaltrigen definiert. Bezeichnenderweise entwirft sie sich im Interview fast schon als Erziehungsberechtigte gegenüber ihrer jüngeren Schwester.

In dem Maße, in dem sich Anna nun innerhalb der Peergemeinschaft ihrer Klasse einlebt, ein soziales Netz aufbaut und sich von der Lehrerin löst, wird die Beziehung zwischen beiden spannungsvoll. Das Einfordern von Räumen zur Entfaltung des Eigenen und eine Orientierung auf die Peerkultur, kurz Annas Verweigerungen, Autonomiebehauptungen und das Hinterfragen der Autorität von Frau Weber, geraten in Konflikt mit deren explizitem Erziehungs- und Autoritätsanspruch. Aber auch Enttäuschungen ihrer lehrerseitigen Nähewünsche lassen die Beziehung für Frau Weber ambivalent werden.

Die Spannungen, die sich aus der Verletzung des biografischen Selbstentwurfs und des Selbstverständnisses der Lehrerin ergeben, werden von ihr auf das Feld der Fremdwahrnehmung sowie der Beurteilung und Sanktionierung verschoben. Das Scheitern des Arbeitsbündnisses wird von der Lehrerin in ihrem Kommentar zur Schülerin im Interview auf mangelnde Talente und Kompetenzen Annas attribuiert, die als Person insgesamt „nicht so ist“ (Interview Frau Weber, Zeile 3788). Den Autonomiebehauptungen Annas, die in ihrem biografischen Entwurf bereits als die Große auftaucht, begegnet die Lehrerin also mit einer Defizitdiagnose. Die Ursachen für die Probleme, die man miteinander hat, werden einseitig bei Anna gesehen; Versäumnisse im eigenen pädagogischen Handeln geraten Frau Weber als Grund für die Spannungen nicht in den Blick:

„anna. äh fhh (atmet lang aus), ja, anna hats im grunde in vieln fächern schwer, [m­hm]also sie is nich so. (atmet ein) schätzt sich aber oft, a besser ein als sie ist,[m-hm]“ (Interview Weber, Zeile 3785-3790).

Diese Sicht auf Anna als einer eher schlechten Schülerin spiegelt sich auch im Verbalzeugnis der siebten Klasse wieder. Demzufolge ist Anna die meiste Zeit nicht in der Lage, ohne pädagogischen Mehraufwand und Interventionen der Lehrerin im Unterrichtsgeschehen mitzuarbeiten:

„Anna brauchte im siebten Schuljahr meine wache Aufmerksamkeit und manchmal auch persönliche Ansprache, um beständig mitarbeiten zu können; sie ließ sich nämlich oft durch ihre unbändige Schwatz- und Unternehmungslust zu allerlei Ablenkungen hinreißen. Im Schriftlichen jedoch arbeitete Anna tapfer und unermüdlich“ (Zeugnis Anna siebte Klasse, Zeile 1-5).

Die Auswirkungen dieser Zuschreibungen werden an einer rekonstruierten Unterrichtsszene im achten Schuljahr, in der Anna gegen die Erwartung den Unterricht inhaltlich voranbringt, deutlich:

Frauke: frau weber wie heißt des ding nochmal (?)
Weber: zygote
Schülerin 1: xx zusammenbleibn (s.v. durch allgemeines Stimmengewirr)
Anna: das die zelle angebxx
Weber: jetzt nicht alles durcheinander, bitte (laut) 1. Mal. 2. Mal (Händeklatschen)
jetzt geordnet (laut). frauke nochmal e-zygote, (zweimaliges husten im raum) wir hattn gesagt wenn sich das hier ganz durchschnürt, sagte der thorsten richtig, es gibt zwillinge, der phillip sagte, nein siamesische zwillinge, was würde denn was müsste denn sein bei den siamesischen (?) jetzt war da die anna die sich gemeldet hat, und niemand spricht jetzt sonst,
Anna: also wenn die nich a (abgehackt, unterbrochen) (Unruhe in der Klasse)
Weber: scht (deutlich)
Anna: wenn die nicht ausnandergehn (lautstärke abnehmend).
Weber: wie nich aus, du meinst (Stimmengewirr) dann gibts ja n (Paula meldet sich) (zweimaliges lautes Husten),
Weber: nicht ganz ganz, genauer, paula.
Paula: dann müsstn zwei eizellen so zusammn, äh zusammn
Weber: …ah [TM auf] nein (gedehnt) nein.. jein kann man da sagenAnna versucht hier, gegen den Geräuschpegel in einer Interaktionskrise des Unterrichts das Unterrichtsgespräch sachlich voran zu bringen. Obwohl ihre Antwort richtig ist (bei siamesischen Zwillingen verläuft die Zellteilung der Zygote, d.h. befruchteten Eizelle, tatsächlich unvollständig, denn sie „gehen“ nicht ganz „auseinander“), wird sie von der Lehrerin falsch verstanden. Damit zeichnet sich eine Dynamik ab, innerhalb derer die lehrerseitige Konstruktion von Anna als problematischer Schülerin in Form pejorativer Unterstellungen und Etikettierungen auf die unterrichtliche Interaktionsebene ausstrahlt.

Anna selbst ist in der Lage, diese Zuschreibungen als negative Etikettierung zu erkennen. Sie leidet unter den lehrerseitigen Beurteilungen und den Missverständnissen in der Kommunikation:

mja (atmet schmunzelnd aus), ich komm mit ihr eigentlich im moment überhaupt nicht mehr klar, wenn irgendwas is, sie scheißt mich gleich zusamm-m und [h-m (halblaut) ] motzt nur noch rum“ (Interview Anna, Zeile 251-256).

Dies führt jedoch bei ihr weder zu einer Abwertung der Relevanz von Schule noch zur grundlegenden Distanzierung von der Lehrerin. Vielmehr übernimmt sie die ihr zugewiesene Verpflichtung, mit ihrer Lehrerin „klar“ zu kommen und hält die Suche nach Erklärungen weiter aufrecht. Das Ende der Klassenlehrerzeit wird von ihr als Befreiung aus einer nicht mehr bearbeitbaren Krise begrüßt.

Obwohl es im Unterricht durchaus noch Versuche Annas gibt, sich dem Bild der schlechten Schülerin oder Störerin zu entziehen, indem sie sich den schulischen Regeln unterwirft und den Unterricht konstruktiv weiterbringt, scheint die Lehrerin jedoch nicht mehr in der Lage zu sein, ressourcenorientiert und entwicklungsfördernd auf Anna einzugehen und ihren Bemühungen differenziert zu begegnen.

5. Der Fall Herr Krüger und Persephone an der Schule B – zwischen didaktischer Kooperation und Kontrolle der Extravaganz

Schule B hat eine kürzere Geschichte als A und erscheint baulich und personell weniger gut ausgestattet. Am Rande einer westdeutschen Großstadt gelegen befindet sich die einzügige PWS „äußerlich“ immer noch im Aufbau und „innerlich“ in einem Schulentwicklungsprozess.

Der mit dem Forschungsprojekt kooperierende Klassenlehrer der 8. Klasse – Herr Krüger – nimmt in dieser Schulkultur eine zentrale Rolle ein: Er ist fast seit der Gründung in der Schule aktiv und hat innerhalb des Kollegiums eine dominante Position. Der Weg von Herrn Krüger in den Lehrerberuf divergiert maximal von der Berufsbiographie von Frau Weber: Er absolviert nach der Schule zunächst eine Ausbildung zum Bühnenmaler und studiert danach, inspiriert durch einen Bildhauer, an einer anthroposophischen Bildungsstätte Kunst. Das Kunststudium ist an dieser Hochschule obligatorisch mit der Ausbildung zum Waldorf-Klassenlehrer verbunden; so wird Herr Krüger Waldorflehrer, ohne sich je explizit für den Lehrerberuf entschieden zu haben. Die Auseinandersetzung mit (schul-)pädagogischen Fragen beginnt bei Herrn Krüger erst in der Unterrichtspraxis selbst, nach der Übernahme seiner ersten Klasse. In seinem Selbstverständnis als Lehrer greift er mehr auf seine ästhetischen und künstlerischen Erfahrungen, als auf pädagogisches Wissen zurück.

Persephone, die erste von uns in den Fokus genommene Schülerin, kann für Herrn Krüger genau diese „didaktische Leerstelle“ füllen. Ihre Rolle kann nach den ethnographischen Beobachtungen als Ko-Konstrukteurin im Unterrichtsgeschehen (vgl. Meyer/Jessen 2000) bezeichnet werden; denn sie ist diejenige Schülerin, die den in die Krise geratenen Unterrichtsablauf immer wieder in Schwung bringen kann, ohne den Lehrer in seiner Autorität in Frage zu stellen. Ihre schulbiographische Erzählung kann als „Erfolgsgeschichte“ rekonstruiert werden. Bereits die „Anekdoten“ aus ihrer frühen Kindheit machen deutlich, dass sie sich in extravaganter Absetzung zu ihren Geschwistern und anderen Kindern beschreibt. Persephone wird von ihren Eltern die Welt zu Füßen gelegt; und auch ihr Besuch der Waldorfschule ist für die finanziell nicht gerade wohlhabenden Eltern mit erheblichen Einschränkungen verbunden. Aus der Retrospektive Persephones erscheint ihre Kindheit als eine „Idylle“, ohne jede Eintrübung durch die raue Realität des Lebens. Ihre kreative und extravagante Art schweißt sie vom ersten Schultag an ganz eng mit ihrem Klassenlehrer zusammen. Bereits in der Einschulungsfeier, bei der Herr Krüger sie auf der Bühne mit freundlichem Lächeln in die Lerngemeinschaft aufnimmt, streckt sie ihm voller Übermut die Zunge heraus. Hiermit beginnt eine harmonische, von gegenseitiger Sympathie getragene Lehrer-Schüler-Beziehung, welche auch die Basis dafür bildet, dass Herr Krüger für Persephone zentrale Erziehungsfunktionen übernehmen kann. In dem stark auf Kollektivität und Gemeinschaft orientierten Klassenverband lernt Persephone sich auch zurückzunehmen und die Perspektiven der Mitschüler zu berücksichtigen. Der streng auf Gleichheit und Klassengemeinschaft achtende Klassenlehrer bietet für Persephone eine zentrale Entwicklungschance: In der achten Klasse ist Persephone längst zu einer Schülerin geworden, die ihre Extravaganz nicht mehr in Distinktion zu anderen behaupten muss, sondern sich auch als „ruhige Helferin“ für den Klassenverband zurücknehmen kann.

Der für Persephone durch seine Distanz förderliche künstlerisch orientierte Habitus von Herrn Krüger und sein eher schematisch-lehrerzentriertes Unterrichtsregime wirken auf andere Schülerinnen und Schüler dieser Klasse eher problematisch. So haben wir mit Sebastian einen Schüler beobachtet, der in der achten Klasse ein sehr spannungsvolles Verhältnis zu seinem Klassenlehrer unterhält. Aus der Rekonstruktion ergeben sich folgende Gründe: Zunächst ist der jungenhaft-sportive Habitus Sebastians sehr weit von den Wertorientierungen sowohl der Waldorfschulkultur als auch seines Klassenlehrers entfernt. Statt für Musik oder Kunst interessiert er sich für Fußball und Tennis oder beschäftigt sich mit Computer- und Videospielen. Außerdem ist er ein Schüler, der seine schulische Leistungsfähigkeit- und Lernbereitschaft stark an der Konkurrenz zu seinen Mitschülern entwickelt. Sebastian wird in keinem für ihn wichtigen Bereich von seinem Lehrer Anerkennung, sondern hauptsächlich Missbilligung entgegengebracht. In der achten Klasse hat sich Sebastian völlig aus dem Unterrichtsgeschehen zurückgezogen und wartet nur noch auf das bevorstehende Ende der achtjährigen Klassenlehrerzeit: Den Hauptunterricht erduldet bzw. erleidet er nur noch; er wird nur dann noch aktiv, wenn er von Herrn Krüger direkt dazu aufgefordert wird.

Während die acht Jahre andauernde Beziehung zum Klassenlehrer für Persephone eine gelungene Integration in die Klassengemeinschaft und einen Entwicklungssprung in ihrem Bildungsprozess ausgelöst hat, bedeutet sie für Sebastian eine kontinuierliche Missachtung seiner Identitätskonstruktion, die schließlich zur (Selbst-)Exklusion aus dem Unterrichtsgeschehen führt.

6. Diskussion
Ein erster Blick auf die dargestellten Fälle zeigt, dass auch heute noch im Rahmen der spezifischen Bedingungen von Waldorfschulen traditionell asymmetrische, von Autorität und Vertrauen bestimmte Formen der Lehrer-Schüler-Beziehung realisiert werden, welche die Kennzeichen aufweisen, mit denen ein geisteswissenschaftlicher Pädagoge wie Herman Nohl den „pädagogischen Bezug“ charakterisiert hat (vgl. Nohl 1935/2002). Offensichtlich bieten Reformschulen mit ihrer besonderen pädagogischen Prägung soziale Räume und Atmosphären, in denen Lehrer-Schüler-Beziehungen so ausgestaltet werden können, dass sie in ihrer Intensität das reguläre unterrichtliche Rollenhandeln weit transzendieren (vgl. dazu für die Alternativschulen auch Maas 2003).(9)

Gemäß der begrifflichen Unterscheidung Dieter Nittels (1992) verstehen sich die hier vorgestellten Klassenlehrer primär nicht als Organisationsvertreter oder pädagogische Professionelle, sondern als biografische Sachwalter und signifikante Andere der ihnen anvertrauten Edukanden. Das pädagogisch entgrenzte Selbstverständnis dieser Lehrpersonen hängt eng mit dem Umstand zusammen, dass sie sich – wie Eduard Spranger es vordem für den Idealtyp des „geborenen Erziehers“ forderte (vgl. Spranger 1958, 1969) – auf einer existenziellen Ebene für ihren Beruf entschieden haben. Der Weg von Frau Weber in den Lehrerberuf ist biografisch tief verankert und folgt anscheinend einer inneren Entelechie – der kontinuierlichen Entfaltung eines ursprünglichen pädagogischen Impetus. Bei Herrn Krüger erscheint der Professionalisierungspfad weniger konsistent und eher von zufälligen, situativen Herausforderungen bestimmt; diese werden von ihm allerdings als „Rufe des Schicksals“ gedeutet, denen Folge zu leisten ist. Dem jeweiligen „berufsbiographischen Selbstentwurf“ (vgl. Helsper 2002, insbes. S. 91ff:) entsprechend, realisiert jede der beiden Lehrpersonen als Klassenlehrer bzw. als Klassenlehrerin eine andere Form der „pädagogischen Liebe“. Während die Beziehung von Frau Weber zu ihrem Problemkind Martin von fürsorglicher Mütterlichkeit bestimmt ist, entspringt die besondere Sympathie von Herrn Krüger für seine jugendliche Protagonistin Persephone primär einem tiefgründigen ästhetischen Wohlgefallen an ihrem souveränen schulischen Rollenspiel.

Auch für die Schülerpersonen lässt sich übrigens als eine Voraussetzung für das harmonische Passungsverhältnis zur Klassenlehrerperson ein besonderer biografischer Zugang zur Waldorfschule als der Schule ihrer – gleichsam nachträglichen – persönlichen Wahl nachweisen. Für Martin ist sie die eigentliche Heimat im Strudel seiner turbulenten gesamtdeutschen Mobilität und seiner sich auflösenden familialen Beziehungen, für Persephone ist sie der soziale Ort, an dem die anthroposophisch inspirierte Lebensform ihres Elternhauses nahtlos ihre Fortsetzung finden kann.

Die enge pädagogische Beziehung zwischen den Waldorfklassenlehrern und ihren „prominenten“ Schülern bringt für diese nicht nur Chancen, sondern auch Risiken mit sich. In jedem dieser harmonischen Passungsverhältnisse (10) eröffnet die Lehrperson für eine ihr habituell affine und biografisch verbundene Schülerperson einen entwicklungsproduktiven Raum der emotionalen, kognitiven und sozialen Anerkennung. Hierin können sowohl durch haltgebende Unterstützung außerschulische Probleme und familiale Defizite bearbeitet als auch durch besondere künstlerische und intellektuelle Herausforderungen zusätzliche Entwicklungsimpulse ausgelöst werden. Aus den damit in unterschiedlichem Maße einhergehenden Tendenzen der Intimisierung des pädagogischen Verhältnisses und seiner Entgrenzung über den Zeitraum des Unterrichts hinaus erwächst für den Schüler allerdings auch die Gefahr, unbewusst für die Erfüllung der persönlichen Ambitionen und Nähe-Bedürfnisse des Klassenlehrers instrumentalisiert und dadurch in seinen eigenen adoleszenten Ablösungsprozessen behindert zu werden. Wenn dem Schüler also nicht zugleich auch Möglichkeiten zur rollenförmigen Distanzierung zugestanden werden, wird die exklusive Beziehung zum Klassenlehrer mit Verlusten an Autonomie erkauft – ganz zu schweigen von der drohenden Isolation und Stigmatisierung durch die Mitschüler, welche durch die besondere Nähe des Klassenlehrers zu seinem „Lieblingsschüler“ das Gleichbehandlungsgebot verletzt sehen. Dieselbe „pädagogische Liebe“ der Klassenlehrerperson, aus welcher sich für einen damit „kongruenten“ Schüler ein harmonisches Passungsverhältnis ergeben hat, führt zugleich zu spannungsvollen Beziehungen mit solchen Schülerinnen und Schülern, die diesem Lehrerhabitus diametral widersprechen – z.B. zwischen Frau Weber und Anna durch deren frühadoleszente Distanzierungsbewegungen und Autonomiebehauptungen und zwischen Herrn Krüger und Sebastian wegen dessen, dem lebensreformerischen Waldorfschulhabitus widerstreitenden Freizeitinteressen. Nach der empirischen Rekonstruktion dieser Fälle lässt sich festhalten, dass die auf affektiver Zuneigung und personaler Nähe basierenden asymmetrischen pädagogischen Beziehungen in reformschulischen Kontexten in mehrfacher Hinsicht einem Januskopf gleichen.

Fußnoten:

(1) Erläuterungen zur Rekonstruktion des hier aus Platzgründen nicht mehr darstellbaren Falles „Schule C: Herr Friedrich und Jonas – der geistige Menschheitsführer und sein Meisterschüler“ finden sich bei Ullrich (2005, S. 255ff.).

(2) Die Namen, sowie alle Angaben, die Rückschlüsse auf die Personen zulassen, wurden aus Datenschutzgründen maskiert.

(3) Biographische Studien weisen darauf hin, dass v. a. Schüler aus unvollständigen oder problembelasteten Familien familial enttäuschte Erwartungen und Wünsche auf schulische Bezugspersonen richten, Lehrer damit zu signifikanten Anderen werden (können) (vgl. Nittel 1992, S. 411ff. u. 420f:; Combe/Helsper 1994, S. 77ff.).

(4) Die Transkription der Daten orientiert sich an der wortwörtlichen Redeweise. Rezeptionssignale der Interviewerin werden in eckige Klammern gesetzt, Pausen werden durch Punkte gekennzeichnet (. = 1 Sek.), Betonungen unterstrichen. Bei besonderer Intonation werden die entsprechenden Wörter kursiv gesetzt und die Art der Betonung in der anschließenden Klammer vermerkt.

(5) Vor dem Hintergrund strukturtheoretischer Konzepte professionellen Handelns (vgl. Oevermann 1996; Helsper 1996, 2002; Schütze u.a. 1996; Schütze 2000; einen Überblick geben Combe/Helsper 2002) wird hier Entgrenzung als eine einseitige Zurückdrängung spezifischer, rollenförmiger und distanzierter Elemente zugunsten von diffusen Elementen der Nähe und Affektivität verstanden.

(6) Hieran schließt sich eine kurze Interaktion mit der Interviewerin an, innerhalb derer Martin ihr die geographische Lage seines Geburtsortes erklärt. Die Wiedergabe wird aus Platzgründen ausgespart.

(7) Dies wird an späterer Stelle des Interviews von Martin dargestellt.

(8) Die Übernahme oder Zuweisung der Elternrolle an Kinder wird in der Familientherapie als „Parentifikation“ oder auch „Parentifizierung“ (von lat. parentes = Eltern) bezeichnet (vgl. Simon/Clement/Stierlin 1999, S. 251). Diese geht mit einem Verlust der Kindlichkeit einher, die in der Fachliteratur auch als „Orphanisierung“ (von engl. orphan = Waise), als „Verwaisung“ bezeichnet wird (vgl. Fischer/Riedesser 1998, S. 266). Diese Interpretation ist hier jedoch einzuschränken, da sich im vorliegenden Fall das Generationenverhältnis nicht vollständig umkehrt, sondern lediglich relativiert wird. Inwieweit Martin also tatsächlich in die Pflicht genommen wurde und welche fürsorgliche Verantwortung die Mutter für sein Wohlergehen trotz des Konfliktes weiterhin trug, lässt sich am Interviewtext, der nur Martins Sicht präsentiert, nicht klären. Bedeutsam bleibt jedoch, dass Martin im Zuge der Konflikte eine stärkere Inklusion in die Mutter-Kind-Gemeinschaft erlebt und sich als gleichwertiger Partner darstellt.

(9) Nach Bourdieu erfolgt über Eigennamen eine Verortung in diachroner (zeitlicher) und synchroner (sozialer, örtlicher) Konstanz. Der Eigenname dient als „Fixpunkt in einer Welt der Bewegung“ und der Einrichtung einer konstanten haltbaren Identität, die die Identität des biologischen Individuums in allen möglichen Feldern garantiert wo es als Handelnder eingreift, also in allen möglichen Lebensgeschichten (Bourdieu 1990, S. 77ff.). Hiermit seien die weitreichenden Folgen einer Namensänderung nur angedeutet, die in einem Verlust von diachroner und synchroner Konstanz bestehen können.

(10) Auf der Basis unserer Daten lässt sich nicht sicher entscheiden, ob die hier rekonstruierten Lehrer-Schüler-Beziehungen lediglich einen waldorfspezifischen Charakter tragen oder ob sie auch in anderen Reformschulkontexten erwartbar sind, in denen die Schüler statt nur von Fachlehrern über mehrere Schuljahre hinweg von ein und derselben „Bezugsperson“ begleitet werden. Wichtige Besonderheiten des waldorfpädagogischen Feldes ergeben sich möglicherweise aus dem breiteren Spektrum der Zugänge zum (Klassen-)Lehrerberuf, welches sich auch schon in unserem Fallmaterial zeigt. Bisweilen scheint der berufsbiographische Weg stärker von weltanschaulichem Engagement für die Waldorfpädagogik geprägt zu sein als vom Wunsch nach Professionalisierung des pädagogischen Handelns.

(11) Mit der Frage der empirischen Rekonstruktion von pädagogischen Passungsverhältnissen befassen sich die Arbeiten von Böhme (2000) und Kramer (2002). Sie gelangen im Hinblick auf das Verhältnis von SchülerInnenbiographie und Schulkultur – gleichsam oberhalb der Ebene der konkreten Lehrer-Schüler-Interaktionen – zur typologischen Unterscheidung kongruenter, adaptiver, antagonistischer und degagierter bzw. harmonischer, konflikthafter und ambivalenter Passungsverhältnisse. Die Untersuchung der Entwicklungsproduktivität bzw. bildungsprozessualen Qualität von habituellen Passungen ist zunächst einmal eine Sache empirischer Rekonstruktionen. Wichtige Bezugspunkte für eine Theoretisierung der Pädagogizität von Passungsverhältnissen bieten nach wie vor die Konzepte des pädagogischen Arbeitsbündnisses (vgl. Oevermann 1996) und des interpersonalen Anerkennungsverhältnisses (vgl. Honneth 1992). Harmonische Passungsverhältnisse in Lehrer-Schüler-Beziehungen sind nur eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Bedingung für entwicklungsproduktive Erfahrungen in Unterricht und Schule (vgl. dazu auch die Fallrekonstruktion „Franziska“ in der Studie von Idel 2005).

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Mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift für Pädagogik, erschienen im Beltz Verlag

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